Kurzbeschreibung:
Holenstein, Philosophie-Atlas. Orte und Wege des Denkens

Elmar Holenstein hat im Jahr 2004 einen, im Vergleich zu allen anderen Entwürfen, gänzlich neuen Versucht vorgelegt, globalgeschichtliche Zusammenhänge in der Philosophie darzustellen und zu thematisieren. In seinem Philosophie-Atlas. Orte und Wege des Denkens stellt er die geographische Dimension ins Zentrum und macht durch viele Karten und Übersichten deutlich, an welchen Orten und durch welche Netzwerke philosophisches Denken entstanden ist.

„An sich interessiert sich die Philosophie nicht dafür, wer was wann und wo gesagt hat. Worauf es ihr ankommt, ist vielmehr, ob das, was jemand, wann und wo auch immer, geäußert hat, als wahr oder falsch, gut oder schlecht, unsere Erkenntnis fördernd oder behindernd zu bewerten ist. Bevor wir jedoch eine Aussage beurteilen können, müssen wir sie verstehen. Für das Verständnis einer Aussage ist es sehr wohl aufschlußreich, wer sie wann und wo, in welchem Zusammenhang gemacht hat. Dies ist ein erster, ein hermeneutischer Grund, warum wir uns zusammen mit der Geschichte für die Geographie der Philosophie interessieren. Der oberste Leitsatz der Hermeneutik, der Lehre vom Verstehen, ist, daß für das Verständnis eines Textes die Kenntnis seines Kontexts, des sprachlichen wie des situativen Zusammenhangs, von entscheidender Bedeutung ist. […] 

Denkweise und Denkinhalte gewinnen an Tiefenschärfe und werden leichter begreiflich, wenn wir den Herkunftsort und die Lebensstationen eines Philosophen kennen, wenn wir beispielsweise wissen, daß Vico aus dem süditalienischen Napoli, Montesquieu aus dem französisch-aquitanischen Bordeaux, Rousseau aus dem französisch-schweizerischen Geneve und Hume aus dem schottischen Edinburgh stammt. Bei Philosophen außerhalb des eigenen Erdteils begnügt man sich üblicherweise mit einer allgemeingehaltenen Mitteilung ihrer nationalen Zugehörigkeit, selbst wenn dieses subkontinentale Ausmaße hat. Dabei dürfte der Herkunftsort für Philosophen aus anderen Erdteilen als  Hintergrundinformation nicht weniger aufschlußreich sein, das persische Shirāz für den Iraner Molla Sadrā, das bengalische Navadvipa für den Inder Gadādhara, Yuyao in Ost-Zhejiang für den Chinesen Huang Zongxi, die kaiserliche Hauptstadt Kyōto für den Japaner Itō Jinsai, um nur vier Zeitgenossen der vier genannten Europäer aus dem 17. und 18. Jahrhundert zu nennen.“ (Holenstein, Elmar: Philosophie-Atlas. Orte und Wege des Denkens. Zürich 2004, S. 7.) 

„Wann beginnt die Geschichte der Philosophie? Sicherlich fängt sie nicht erst mit dem Aufkommen des Wortes ‚Philosophie‘ an, und sicherlich wird nicht nur dort philosophiert, wo es ein dieser Tätigkeit entsprechendes Wort gibt. Niemand käme auf die Idee, von Mathematik nur dort zu sprechen, wo man dafür ein Fachwort geprägt hat. Der Sache nach sei die Philosophie uralt, nur der Name sei neueren Datums, schrieb Cicero vor 2100 Jahren in seinen Disputationen aus Tusculum. […] Eine globale Geschichte der Philosophie kann man nicht ohne einen weiten Begriff der Philosophie abfassen. Sie läßt sich auch nicht ohne Überlegungen zu ihrer Vor- und Kontextgeschichte schreiben. Zur Philosophie gehört, daß sie Rechenschaft über ihre Voraussetzungen und Rahmenbedingungen ablegt. Die mentalen und sozialen Voraussetzungen des Philosophierens decken sich in beachtenswerter Weise mit den mentalen und sozialen Fähigkeiten, welche die Menschen zusammen mit ihrem Sprachvermögen erworben haben. Die Geschichte der Philosophie beginnt in diesem Atlas daher weder am hellenischen ‚Binnenmeer‘ Thalassa hē esō noch im südasiatischen ‚Mittelland‘ Madhyamā Dish noch in der ostasiatischen ‚Mittleren Ebene‘ Zhongyuan, sondern mit der Anfangsgeschichte der Menschheit in Afrika.“ (Ebd., S. 17f.)

„Der Atlas befaßt sich mit den philosophischen Strömungen rund um die Erde. Er verfolgt dabei zweierlei mit besonderem Nachdruck: die Beziehungen und die typologischen Vergleichsmöglichkeiten zwischen den verschiedenen Erdteilen einerseits und, nur in einem scheinbaren Gegensatz dazu, die Mannigfaltigkeit der intellektuellen Entwicklungen innerhalb der einzelnen Erdteile andererseits. Die Menschheit ist insgesamt homogener, als man das im frühen 20. Jahrhundert glaubte annehmen zu müssen, und die einzelnen Kulturen sind heterogener, als man das damals dogmatisch angenommen hatte. Es gibt große Unterschiede zwischen den philosophischen Ansichten der Menschen. Die größten findet man nicht zwischen den einzelnen Erdteilen, sondern zwischen den Individuen und den Schulbildungen innerhalb der einzelnen Erdteile. Wenn man der Überzeugung ist, daß es keine umfassende Theorie gibt, in die sich alle menschenmöglichen Erfahrungen und alle elementaren Wertvorstellungen konfliktfrei einordnen lassen, ist das keine Überraschung.“ (Ebd., S. 21.) 

Neben den zahlreichen Karten und Übersichtsdarstellungen bietet der Atlas von Holenstein auch textliche Interpretationen, die aber keine Darstellung der Philosophiegeschichte bietet. Holensteins Beitrag liegt vielmehr darin, auf visueller Ebene deutlich zu machen, dass sich die Geschichte der Philosophie in keiner Weise allein auf Europa begrenzen lässt. Vor allem die Karten zur Spätantike und zum Mittelalter machen deutlich, dass die Entwicklungen in Europa ohne die Zentren der Philosophie in Asien nicht möglich gewesen wären. Auf den Karten zeigt sich immer wieder ein reiches Netz von Verflechtungen, das einen Imaginationsraum öffnet, der für zukünftige Philosophiegeschichtsschreibungen einen guten Ausgangspunkt bietet.

(Auszug aus: Elberfeld, Rolf: Philosophiegeschichtsschreibung in globaler Perspektive. Felix Meiner Verlag: Hamburg 2017. S. 317–19.)