Rolf Elberfeld (Moderation)
Jeanette Ehrmann (Humboldt Universität, Berlin)
Wenn die Haitianische Revolution, folgt man Michel-Rolph Trouillot, den begrifflichen Bezugsrahmen der Aufklärung und der demokratischen Revolution sprengt, wie kann sie in den Begriffen einer postaufgeklärten Philosophie gedeutet werden? Der Vortrag entwickelt ausgehend von C. L. R. James‘ nicht-kanonischem Werk Die schwarzen Jakobiner. Toussaint L‘Ouverture und die San-Domingo-Revolution (1938) eine Antwort in drei Schritten. Erstens problematisiert er die disziplinären Praktiken und die epistemologischen sowie methodologischen Begrenzungen einer Philosophie, deren Begriffe aufgrund ihrer uneingestandenen Komplizenschaft mit kolonialen Mythen und Metaphern, Fantasien und Fiktionen an dieser radikal abolitionistischen Revolution scheitern. Zweitens entwickelt er entlang von James‘ Revolutionsepos und seiner Kritik der Meisterkonzepte eines kolonialen Liberalismus als auch eines orthodoxen Marxismus eine Deutung der Haitianischen Revolution in ihren mythopoetischen Dimensionen. Besonders in Toussaint Louvertures revolutionärer Dramaturgie entfaltet sich ein Ermächtigungsprozess, der über missbräuchliche Repräsentationen und Resignifikationen, die weit in die Welt des Schwarzen Atlantiks und darüber hinaus ausstrahlen, eine Befreiung jenseits des konstitutionellen und des proletarischen Skripts der Revolution andeutet. Zuletzt können im Anschluss an James‘ Überlegungen zu einer nachträglichen Revision der Schwarzen Jakobiner die verdrängten Protagonist*innen und Praktiken als auch die Widersprüche dieser Revolution sichtbar gemacht werden.
Dr. Jeanette Ehrmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehr- und Arbeitsbereich Theorie der Politik am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie wurde an der Goethe-Universität Frankfurt im Fach Politikwissenschaft mit einer Dissertation zur Haitianischen Revolution (Tropen der Freiheit. Die Haitianische Revolution und die Dekolonisierung des Politischen, Suhrkamp 2022) promoviert, die 2019 mit dem Werner Pünder-Preis für die beste wissenschaftliche Arbeit aus dem Themenkreis „Freiheit und Herrschaft in Geschichte und Gegenwart“ ausgezeichnet wurde. Jeanette Ehrmann war u.a. wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich „Gender/Postkoloniale Studien“ am Exzellenzcluster „Die Herausforderung normativer Ordnungen“ an der Goethe-Universität Frankfurt, Fellow am Forschungsinstitut für Philosophie Hannover, Visiting Scholar in der Forschungsgruppe Critical Theory in the Global South am Critical Theory Cluster der Northwestern University, Gastdozentin am Instituto de Filosofía der Universidad de Antioquia, Medellín und Gastforscherin an der Université d’État d’Haïti, Port-au-Prince, der Université Paris-1-Panthéon Sorbonne und an der University of Oxford. Im Wintersemester 2020/21 vertrat sie die Professur für Politische Wissenschaft an der Universität Koblenz Landau. Gegenwärtig forscht sie zum Zusammenhang von Postkolonialität, Geschlecht und Demokratie. Von 2019 bis 2022 leitete sie das HMWK-geförderte Forschungsprojekt „Postkoloniale Geschlechterverhältnisse und die Krise der Demokratie“. Jeanette Ehrmann ist Sprecherin der Sektion Politik und Geschlecht in der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft und Vorstandsmitglied von FG DeKolonial – Fachgesellschaft für rassismuskritische, postkoloniale und dekoloniale Theorie und Praxis.
Robert Bernasconi (Penn State University, Pennsylvania)
In jüngster Zeit ist der Rassismus von kanonischen Philosophen wie Hume, Kant und Hegel verstärkt in den Blickpunkt gerückt, was die Frage aufwirft, wie ihre Philosophien gelehrt werden sollten. Es gibt jedoch ein größeres Problem, das sich aus dem weit verbreiteten Versagen der akademischen Philosophen ergibt, nämlich die Angriffe auf die Sklaverei aufzugreifen und zu thematisieren, wie und wann sie unter ihren Zeitgenossen während der gesamten Neuzeit auftraten. In unserer Zeit spiegelt sich dieses Versäumnis in der minimalen Aufmerksamkeit wider, die aktuelle historische Studien der Moralphilosophie der Frage der Sklaverei widmen. Während viele andere Institutionen über ihre Mitwirkung an der Aufrechterhaltung und Grausamkeit der Sklaverei nachdenken, ignoriert die akademische Philosophie als Institution das Thema weiterhin oder spielt es herunter. Nachdem einige dieser Versäumnisse dokumentiert wurden, geht es in diesem Beitrag um die Frage, wie die Geschichte der westlichen Philosophie im Sinne einer korrigierenden Gerechtigkeit dringend neu geschrieben werden muss.
Robert Bernasconi ist Edwin Erle Sparks Professor für Philosophie an der Penn State University. Zuvor lehrte er an der Universität Essex und der Universität von Memphis. Er ist Herausgeber von drei Fachzeitschriften: Critical Philosophy of Race, Levinas Studies und Eco-Ethica. Er ist Autor von zwei Büchern über Heidegger und einem über Sartre. Eine Auswahl seiner Aufsätze über Rasse und Rassismus wird 2023 unter dem Titel Critical Philosophy of Race bei Oxford University Press erscheinen.