- Dienstag, 19.07.2022 -

15:00 Uhr - 18:30 Uhr Philosophie und Europäische Expansion

 

Anke Graneß (Universität Hildesheim)

Wer darf über was in dekolonialen Debatten sprechen?

Philosophie als Disziplin fängt gerade erst an, sich den Herausforderungen einer zunehmend globalisierten Welt und der damit verbundenen unvermeidlichen und schwierigen Aufgabe einer Dekolonisierung zu stellen – und tut sich sichtbar schwer damit. Denn in der Kritik steht nicht nur der Ausschluss von philosophischen Traditionen verschiedener Regionen der Welt aus der Geschichte der Philosophie sowie aus den Debatten der Gegenwart, sondern auch ganz grundsätzlich die mit philosophischen Theorien verbundenen Ansprüche auf Wahrheit und universelle Gültigkeit. Damit bedeutet eine Dekolonisierung der Philosophie und ihrer Geschichte nicht einfach eine Erweiterung um Theorien und Konzepte aus anderen Regionen, sondern geht an den Kern des philosophischen Geschäfts: die Überprüfung des epistemischen Rahmens der philosophischen Tätigkeit und ihrer Produkte auf tief verankerte Zentrismen, Rassismen und Sexismus. Kann dann Philosophie heute noch unbeschwert mit einem Staunen beginnen – ohne sich um die eigene Verankerung in Machtstrukturen zu kümmern? Darf man sich heute noch ausschließlich mit europäischen oder nordamerikanischen (männlichen) Philosophen beschäftigen? Kann heute mit einem Anspruch auf Wissenschaftsfreiheit Kant gelehrt werden, ohne über dessen Sexismus und Rassismus zu sprechen? Und nicht zuletzt: Wer darf an der Erforschung und Interpretation von (außereuropäischen) philosophischen Traditionen und Konzepten teilnehmen? Im Mittelpunkt des Vortrags stehen Machtstrukturen und Asymmetrien in philosophischen Diskursen und akademischen Institutionen – und damit die brisante Frage, wer heute noch worüber sprechen darf.

 

Dr. habil. Anke Graneß ist seit 2019 Geschäftsführerin des DFG-geförderten Reinhart-Koselleck-Projekts "Geschichten der Philosophie in globaler Perspektive" an der Universität Hildesheim. Zuvor hat sie ein Forschungsprojekt des FWF zur Philosophiegeschichtsschreibung in Afrika am philosophischen Institut der Universität Wien geleitet (2014-2019). Sie ist Mitglied der Redaktion der Zeitschrift polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren, deren Leitung sie von 2009 bis 2013 inne hatte, und zur Zeit Vizepräsidentin der Gesellschaft für interkulturelle Philosophie (GIP). Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Geschichte der Philosophie, Philosophie in Afrika, interkulturelle Philosophie, globale Gerechtigkeit und feministische Theorie. Zu ihren Publikationen gehören: Das menschliche Minimum. Globale Gerechtigkeit aus afrikanischer Sicht: Henry Odera Oruka (Frankfurt/New York: Campus 2011); Feministische Theorie aus Afrika, Asien und Lateinamerika. Eine Einführung (Wien: Facultas 2019, mit Martina Kopf und Magdalena Kraus) und Philosophie in Afrika. Herausforderungen einer globalen Philosophiegeschichte. (Berlin: Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 2022, forthcoming).

 

 

Rolf Elberfeld (Universität Hildesheim)

Verstrickungsgeschichtliche Aufklärung

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat der Prozess der Dekolonisierung die universitären Wissenssysteme in Europa und den USA erreicht. Die philosophischen Klassiker der europäischen Tradition und die geisteswissenschaftlichen Curricula an den Universitäten sehen sich heute einer massiven dekolonialen Kritik ausgesetzt, in der der Zusammenhang von Wissensproduktion und Wissensmacht im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Die Kritik richtet sich vor allem gegen die kolonialen Verstrickungen der europäischen Wissenschaften, durch die Unterdrückung legitimiert, Rassismus wissenschaftlich begründet und koloniale Machtansprüche untermauert wurden. Nimmt man diese Kritik ernst, so muss philosophische Aufklärung heute bedeuten, die Verstrickungsgeschichten des Denkens in individueller wie in sozialer Perspektive aufzuarbeiten – jenseits aller nationalen Interessen. Aufklärung muss heute – ausgehend von verschiedenen Ansätzen dekolonialer Kritik – notwendig auch verstrickungsgeschichtliche Aufklärung sein. Denn jede philosophische Position und jede geschichtliche Zeit zeigt neben den hochgradigen Verflechtungen mit verschiedenen geschichtlichen und philosophischen Kontexten immer auch blinde Flecken und Strategien der Verschleierung und Unsichtbarmachung eigener Schwachstellen, Figuren der philosophischen Immunisierung gegen vorgebrachte Kritik sowie Formen der Marginalisierung und Abwertung des Fremden.

 

Rolf Elberfeld hat Philosophie, Religionswissenschaft, Japanologie und Sinologie in Würzburg, Bonn und Kyōto studiert. Er wurde im 1995 in Würzburg promoviert und war von 1997 bis 2003 Wissenschaftlicher Assistent an der Universität Wuppertal. Im 2002 hat er in Wuppertal habilitiert und ist seit Juni 2008 Professor für Kulturphilosophie an der Universität Hildesheim. Seine Forschungsschwerpunkte sind Phänomenologie, interkulturelle Ethik/Ästhetik, Kulturphilosophie, Philosophie des Leibes, Geschichte der Philosophie in globaler Perspektive, dekoloniales Philosophieren.

 

 

Andrea-Marlen Esser (Friedrich-Schiller-Universität, Jena)

Wie umgehen mit Rassismus, Sexismus und Antisemitismus in der europäischen Philosophie?

In der philosophischen Tradition finden sich Passagen und Abhandlungen, die (mindestens nach heutigem Verständnis) als rassistisch, sexistisch oder antisemitisch (rsa) zu beurteilen sind. Dieses Erbe erneut durchzuarbeiten, liegt in der Verantwortung der Philosophie, denn es wird in der Rezeption nicht nur tradiert, sondern auch zur Legitimation von rsa Positionen und entsprechender Politik verwendet. Darüber hinaus prägen rsa Perspektiven der philosophischen Geschichte möglicherweise auch noch Denkmuster und institutionelle Praxen unseres heutigen Philosophierens. Bisherige Untersuchungen greifen oftmals zu kurz, wenn sie RSA-Vorwürfe gegen philosophische Theorien personenzentriert bearbeiten und dabei sowohl deren historische als auch deren politische Dimension unberücksichtigt lassen. Häufig fahren sich entsprechende Debatten dann auch in apologetischen bzw. fundamentalkritischen Stellungnahmen fest, und meinen die Auseinandersetzung mit einem subsumptiven Urteil abschließen zu können. Stattdessen müssten auch die konkreten Wirkungen von RSA innerhalb der heutigen philosophischen Lehre und Forschung reflektiert und dabei die strikte Unterscheidung zwischen philosophischen und politischen Zuständigkeiten in Frage gestellt werden. Die Forderungen einer (Selbst-)kritischen Philosophiegeschichte wäre so gesehen keine, die man einfach der philosophiehistorischen Forschung übergeben kann, sondern sie müsste als politische Herausforderung jedes aktuellen Philosophierens betrachtet werden.

 

Andrea-Marlen Esser ist seit 2015 Professorin an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, vorher hatte sie Professuren an der Philipps-Universität Marburg und der RWTH Aachen. Seit 2006 ist sie Mitherausgeberin der Deutschen Zeitschrift für Philosophie (DZPhil), zwischen 2011 und 2017 Geschäftsführerin der Deutschen Gesellschaft für Philosophie und zwischen 2008 und 2012 Mitglied der Kant-Kommission der BBAW. Sie ist Herausgeberin von Kants Critik der Urtheilskraft im Rahmen der Neuedition der Akademie-Ausgabe. Seit 2022 ist sie Leiterin des Reinhart-Koselleck-Projekts mit dem Thema Wie umgehen mit Rassismus, Sexismus und Antisemitismus in Werken der Klassischen Deutschen Philosophie?. Sie ist Mitglied im Transregio SFB 294 Strukturwandel des Eigentums, zwischen 2008 und 2011 war sie Leiterin eines Teilprojekts im Projektverbund Tod und toter Körper sowie zwischen 2012 und 2015 im Fortsetzungsprojekt Transmortalität gefördert von der Volkswagenstiftung. Sie hat Fellowships am Alfried-Krupp-Kolleg Greifswald (2018–2019) und am Max-Weber-Kolleg Erfurt (2012–2013).

 

 

Bret Davis (Loyola University Maryland, Baltimore)

The Problem of Philosophical Euromonopolism. Some Western and East Asian Perspectives

(Das Problem des philosophischen Euromonopolismus. Einige westliche und ostasiatische Perspektiven - Vortrag in englischer Sprache)

In diesem Beitrag werde ich mich mit einer immer noch umstrittenen meta-philosophischen Frage befassen: Ist die Philosophie westlich? Zusammen mit der europäischen Philosophie importierten die Japaner im späten 19. Jahrhundert etwas, das man als "philosophischen Euromonopolismus" bezeichnen kann, nämlich die Vorstellung, dass die Philosophie ausschließlich in der westlichen Tradition zu finden ist. Dennoch haben einige moderne japanische Philosoph:innen und die Mehrheit der modernen chinesischen und koreanischen Philosoph:innen einige ihrer traditionellen konfuzianischen, daoistischen und buddhistischen Diskurse als "Philosophie" bezeichnet. Neben einem Überblick über die Geschichte und die laufenden Debatten zu diesem Thema im Westen und in Ostasien werde ich mich gegen einen philosophischen Euromonopolismus aussprechen und dafür plädieren, das Feld der Philosophie als dialogisch und kulturübergreifend (cross-cultural) zu begreifen.

 

Bret W. Davis ist Professor und Higgins-Lehrstuhlinhaber für Philosophie an der Loyola University Maryland in Baltimore, USA. Er promovierte in Philosophie an der Vanderbilt University und lebte mehr als ein Dutzend Jahre in Japan, wo er buddhistische Philosophie an der Otani University und japanische Philosophie an der Kyoto University studierte, während er im Shōkokuji Kloster Zen praktizierte. Er ist Autor von mehr als achtzig wissenschaftlichen Artikeln und Übersetzer zahlreicher Werke aus dem Japanischen und Deutschen. Er hat zehn Bücher veröffentlicht, darunter seinen ersten gemeinsam herausgegebenen Band, Japanische Philosophie in der Welt (Shōwadō, 2005, in japanischer Sprache), seine erste Monographie, Heidegger and the Will: On the Way to Gelassenheit (Northwestern University Press, 2007), und zuletzt The Oxford Handbook of Japanese Philosophy (2020), Bipedal Philosophers (University of Tokyo, 2020, in japanischer Sprache), und Zen Pathways: An Introduction to the Philosophy and Practice of Zen Buddhism (Oxford University Press, 2022). Er ist Mitherausgeber von zwei Buchreihen: World Philosophies bei Indiana University Press und Transcontinental Philosophy bei SUNY Press.