Hildesheim war bisher über Jahrzehnte die kleine Großstadt, mit einer bis heute vererbten gestörten Stadt-Identität der Bürger, wohl weil es nicht mehr das „Nürnberg des Nordens“ der Zeit vor 1945 mit seiner reichhaltigen Fachwerkarchitektur und „nur die kleine Stadt neben“ der Landeshauptstadt Hannover sowie den Industrie- und Universitätsstädten Braunschweig und Göttingen ist. Doch wird es gelingen, dieses belastete Erbe aufzulockern und vielmehr in die Gegenwart und Zukunft zu blicken? Wird es gelingen, die aktuellen Entwicklungsprozesse zu verstetigen, gar Hildesheim als Modellstadt für innovative Ansätze, als Vorbild für so viele anderen kleinen Großstädte und großen Kleinstädte in Deutschland und Europa zu begreifen?
Eine Stadt macht sich auf den Weg
Ein wesentlicher Augenöffner für die Stadtverwaltung und die Stadtgesellschaft Hildesheims war der Entschluss, das 1200 jährige Stadt- und Bistumsjubiläum im Jahr 2015 mitsamt der Ausrichtung des Tages der Niedersachsen zu feiern und dabei festzustellen, dass Potenziale für ein Hildesheim mit weit mehr positiven Visionen und Umsetzungen sowie eine Stadtgesellschaft, die mitwirken und dabei sein möchte, sehr wohl vorhanden sind. So wirkt es von außen folgerichtig, verbleibt aber mit Blick auf die Jahrzehnte lange Zurückhaltung insbesondere seitens der Stadtverwaltung geradezu erstaunlich, dass unmittelbar im Nachklang des Jubiläums die Idee aufkam, sich um den Titel Europäische Kulturhauptstadt zu bewerben. Wobei zu diesem Zeitpunkt noch nicht allen klar war, dass dies weit größere Schritt bedarf als bloß die vorhandenen Kirchen und die bereits bestehenden Kulturaktivitäten international sichtbarer zu machen. Zu dieser Zeit im Winter 2015 und teilweise noch heute wird diese Idee von so manchem als ein Greifen nach den unerreichbaren Sternen gesehen. Doch die zu beobachtende Bewegung offenbart das Gegenteil. Die Idee Kulturhauptstadt zu werden ist durchaus auch für Hildesheim ein erreichbares Ziel, allerdings in Anlehnung an Bedingungen nun auch richtig, sprich umfänglich und konsequent zu handeln.
Umgang mit den Schwächen
Ohne Zweifel ist Hildesheim eine Stadt, die in vielem sehr normal ist. Jedoch ist der Mangel an Selbstbewusstsein gepaart mit bisher scheinbar begrenzter Offenheit für innovatives Handeln durchaus eine Frage der Identität der Stadtbevölkerung. Bezeichnend ist, wie sehr die Zerstörung der Stadt zum Ende des zweiten Weltkriegs und damit die optische Unterstreichung auf eine Reduktion einer über Jahrhunderte wichtigen größeren Stadt, die nun vergangen ist, die heutigen Menschen, die im Grunde nur dieses heutige Hildesheim kennen, zu prägen scheinen. Man kann dies ganz gut daran beobachten mit welch unterschiedlichem Selbstbewusstsein sich die Bürger von Städten wie Münster oder München im Vergleich zu denen aus Hildesheim darstellen.
Womöglich ist Hildesheim aber auch ganz einfach eine klassische Provinzstadt, die durch ihre Größe von mal mehr und mal weniger als 100.000 Einwohnern gerade so zu den Großstädten zählt. Neben dem befragten Identitätsgeist in der Stadt und dem architektonisch weiterhin gestörten Stadtbild zeigt sich, dass sich junge und innovative Köpfe viel zu selten für ein Leben in dieser Stadt entscheiden. Dies ist beachtlich, beheimatet Hildesheim mit den verschiedenen Kreativstudiengängen an den beiden ansässigen Hochschulen doch Studiengänge, bei denen seit nunmehr gut vier Jahrzehnten die kreativen Köpfe, bspw. im Advertising Design oder der Kulturvermittlung ausgebildet wurden, die heute bundesweit und vielfach in Leitungsfunktionen die Kultur- und Kreativszene maßgeblich mitgestalten.
Fakt ist, zu wenige davon sind in Hildesheim geblieben oder wieder zurückgekehrt. Doch haben diejenigen, die geblieben sind, wohl entscheidenden Einfluss gehabt auf einen vorhandenen Reichtum der Stadt weit über umfassend zerstörte und in kleinen Teilen, quasi exemplarisch wieder aufgebaute Architektur hinaus. Physische und temporäre Orte des Kulturlebens ebenso wie Netzwerke und Kommunikationsstrukturen quer durch die Stadt wären ohne diese kreativen Alumni schwerlich denkbar gewesen. Umso mehr muss es nun ein Anliegen sein, Strukturen zu schaffen, die die Verweildauer der innovativen Köpfe in Hildesheim erhöhen. War die Umstellung auf das Bachelor- und Mastersystem der Studiengänge seit den 2010er Jahren zunächst für dieses Anliegen ein herber Rückschlag, sind doch die überwiegende Mehrheit der Studierenden heute nicht mehr fünf sondern nur noch zwei bis drei Jahre in der Stadt, so müssen Mechanismen gefunden und angewendet werden, die es für eben diese Zielgruppe atmosphärisch und finanziell attraktiv machen, länger zu bleiben. Ein Brainstorming über Werk- und Wirkstätten sowie eine entsprechende Wirtschaftsförderung hat bereits begonnen, auch wenn hier große Schritte noch folgen müssen.
Das Gegenmodell bieten
Womöglich ist Hildesheim einer der Überraschungskandidaten unter den Bewerberstädten um den Titel Europäische Kulturhauptstadt 2025. Wird doch schnell der Eindruck erweckt, dass sich aus dem finanzkräftigsten Mitgliedsland der Europäischen Union, welches sich zudem selbst als Kulturnation versteht, allein die üblichen Verdächtigen auf den Weg machen würden. Nach Berlin 1988, Weimar 1999 und Essen/Ruhr in 2010 passen in dieses Bild die Bewerberstädte Dresden, Hannover, Magdeburg und Nürnberg mitsamt ihres umfangreichen Startkapitals durchaus hinein. Doch gibt es mit Hildesheim – sicher auch den weiteren eher kleinen Bewerberstädten – scheinbare Gegenspieler, die womöglich am Ende für die Jury der Europäischen Kulturhauptstadt das passendere Konzept vorlegen werden.
Die bisherige Botschaft aus Brüssel ist eindeutig: Das individuelle Konzept ist entscheidend für den Erfolg. Somit hat Hildesheim die gleichen Chancen, wie jeder andere Bewerber. Zudem zeigen nicht allein kleine Mitgliedländer der EU und insbesondere die letzten Jahre, dass Kulturhauptstadt auch anders als „groß“, „protzig“ und aufbauend auf umfänglich Vorhandenem verstanden werden kann. Vielmehr geht es darum, aus sich herauszuwachsen und zudem Grundlagen zu schaffen, diese Bewegung über das konkrete Jahr des Titels weit hinaus zu erhalten. Es entsteht auch der Eindruck, dass die Idee der Europäischen Kulturhauptstadt immer mehr daran interessiert ist, gerade auch solche Städte zur Bewerbung zu motivieren, deren Fähigkeit durch die bestehenden und kommenden gesellschaftlichen Herausforderungen, ob nun die Zukunft der Innenstädte oder Themen wie Klimawandel oder Migration, zunächst finanziell und kapazitär begrenzt erscheinen, durch geschickte Konzepte es aber bewerkstelligen, sich erfolgreich diesen Aufgaben widmen zu können.
Der Motor Kulturhauptstadtsbewerbung
Hildesheim ist eines der Beispiele, welches zeigt, wie sehr der Bewerbungsprozess um den Titel Europäische Kulturhauptstadt als Motor zur Bewegung von Stadtentwicklungsprozessen generell funktioniert. Eine durch Hildesheimer Bürger in 2016 in Auftrag gegebene Studie zum Bewerbungsprozess zu 2010 zeigte sehr eindringlich, dass praktisch alle Bewerberstädte den Bewerbungsprozess als positiv und sinnvoll bezeichnet haben und als Wegbereiter für bleibende Veränderungen verstehen. Die Studie zeigte aber auch, dass Hildesheim beispielsweise was die innerstädtische Vernetzung, die Selbstorganisation der Kulturszene, die Formulierung der Bedarfe, gerade der freien Kulturszene in kulturpolitischen Konzepten und die Bereitschaft zum Mitgestalten außerhalb der reinen Stadtverwaltung bereits längst und seit mehr als einem Duzend Jahren sehr gut aufgestellt ist - Aspekte, die Bewerber um 2010 als wesentliches Ergebnis eines Bewerbungsprozesses sehen. Der Motoreneffekt der Kulturhauptstadtbewerbung öffnet hier auf einmal die Bereitschaft der Stadt, diesen Analysen der Akteure der Kulturpraxis ernsthafte Aufmerksamkeit zu schenken, nachdem allzu viele Jahre eine fast schon zementierte Ignoranz der Stadt seitens derartiger Beteiligungsformate und dem Willen nach neuen Konzepten für die Stadt zu realisieren, vorherrschte.
Ein Wettbewerb ohne Verlierer
Doch ist es relevant zu verstehen, dass dieser Wettbewerb eigentlich keine Verlierer vorsieht. Ein Plan B wird auch von der Jury der Europäischen Union gefordert. Und nicht nur aufgrund der Tatsache, dass nun mal nur einer den Titel erlangen wird, auch mit Blick auf die generelle Nachhaltigkeit, sprich die Verstetigung des Bewegungswillens, wird deutlich, dass der Plan B das wohl viel wesentlichere Ziel des Ganzen ist. Der Stadtentwicklungsprozess ist das Entscheidende, der Titel ist ein relevanter Motor, ja sicherlich auch aus einer inhaltlichen Perspektive ein wichtiges Ziel und aus Sicht der Idee der Europäischen Union ein wichtiges Programm zur intraeuropäischen Identitätsstiftung, Motivation und dem gegenseitigen Austausch, letztlich aber ist er nur die Ehrung eines fest zu verankernden Schritts, die Strukturen und das Handeln einer Stadt zu durchdenken und sinnvoll weiterzuentwickeln. Wenn dies nicht passiert, dann ist der Titel Europäische Kulturhauptstadt nur ein einmaliges Feuerwerk, welches nur in der Erinnerung bleibt statt im nachfolgenden Stadtleben Grundlagen des Handelns anzubieten.
Um so mehr braucht es Klarheit darüber für was die Idee den Titel zu erhalten Motor sein kann. Sicherlich geht es hier im ersten Schritt auch um Geld, insbesondere wenn wie oben beschrieben das Geld für eine Bewerbung nicht allein aus öffentlichen Quellen kommt. Doch ist der Titel auch Motor im Sinne davon Inspirationskraft zu geben, Mut zu erzeugen, Prozesse anzugehen, experimentierfreudig zu sein und über sich hinauszuwachsen und das bisher Undenkbare zu verwirklichen.
Wer sind die Impulsgeber?
Hildesheim ist nicht besonders groß und Vorbehalte dennoch als Vorreiter groß, innovativ und zukunftsgerichtet zu handeln prägen das Stadtbild seit Jahrzehnten. Um so bemerkenswerter ist es, dass die niedersächsische Stadt seit wenigen Jahren geradezu Sprünge hinein in eine Bewegungsfreude und die Schaffung von Strukturen vollzieht, die sie deutlich von der im Raume schwebenden Bezeichnung, die „heimliche Kulturhauptstadt“ zu sein und sich damit zu begnügen abhebt.
Eine entscheidende Rolle spielte an dieser Stelle seit 2015 sicherlich eine Gruppe von gut vernetzten, tendenziell wohlhabenden Bürgern, die zur Vorbereitung der Beschlüsse in Stadtrat und Kreistag den Bewerbungsprozesse beginnen zu wollen den Verein Freundeskreis 2025 gegründet haben. Diese Motivation aus der Bürgerschaft heraus macht den Hildesheimer Prozess gemessen an anderen Städten besonders, er wird aber nur dann erfolgreich sein, wenn über den Oberbürgermeister hinaus alle Leitungsebenen der Stadtverwaltung dieses Ziel ernsthaft aufgreifen und wenn entscheidende Teile der Bevölkerung den Prozess unterstützen und mitgestalten.
Markant ist hier, dass die wie erwähnt seit langem gut vernetzte Szene der öffentlichen und freien Kulturszene erst aus der über Jahre angestauten Frustration und Entmutigung, meist keinerlei Gehör für bereits vorliegende gute Konzepte einer sinnvollen Kulturförderung in der Stadt zu erhalten, abgeholt gar überzeugt werden musste. Wohl begründet waren die Vorbehalte groß, dass die Stadtverwaltung nicht bloß ein Kulturhauptstadt-Feuerwerk anstrebt ohne die nötigen echten Strukturveränderungen anzugehen.
Ziel ist der Stadtentwicklungsprozess
Noch einmal: Die Frage, wie sehr es um das wirkliche Erreichen des Titels geht und gehen muss ist sicherlich keine leichte. Selbstverständlich kann der Bewerbungsprozess nur dann erfolgreich durchlaufen werden, wenn er ernst genommen wird. Zeitgleich ist es gerade in einer finanziell knapp aufgestellten Stadt wie Hildesheim eine Handlungsvoraussetzung, dass private Investoren mitwirken. Diese sind aber scheinbar zunächst nur zu gewinnen, wenn es um das Erreichen des reinen Titels, sprich der größten Auszeichnung - Platz 1 auf der Sieger-Tribüne – als wesentlichem Ziel, geht. Doch ist es abzusehen, dass im Dezember 2019 etwa vier der aktuell acht Bewerberstädte aus dem Wettbewerb ausgeschieden sein werden. Will Hildesheim den aktuell spürbaren Wind der Veränderung aufrechterhalten, dann ist es ein wesentlicher Schritt, allen Beteiligten – den Köpfen wie den Geldgebern, ganz gleich aus welchem Lager – bewusst zu machen, dass das Eigentliche nicht der Titel, sondern der Motor zur Veränderung – zum Re-Thinking der Stadt in ihrem gesamten Facettenreichtum – ist. Die Rückvergewisserung im Plan B zur Bewerbung als dem eigentlichen Plan A ist folglich unerlässlich und stärkt ganz automatisch die Erfolgsaussichten im Wettbewerb bestehen zu können.
Denn am Ende geht es ganz gleich, ob eine Stadt Europäische Kulturhauptstadt geworden ist oder nicht, um die Frage „Was bleibt?“. Gemeint ist dies als,
erstens: „was bleibt als Erbe einer vormaligen Kulturhauptstadt?“,
zweitens: „was bleibt als Errungenschaft einer Kulturhauptstadtbewerbung?“,
sowie drittens: „was bleibt für andere, die sich aus welchem Grund auch immer gar nicht um den Titel Europäische Kulturhauptstadt bewerben werden, dennoch ebenso Bedarfe haben, Stadtentwicklungsprozesse zu realisieren?“.
Tool-Kit eines Plan B
Aus dem aktuellen Geschehen der Stadt Hildesheim heraus lassen sich im wesentlichen sechs Bereiche darstellen, die quasi als ein Tool-Kit eines Plan B erscheinen:
1) Starke, überzeugte, einflussreiche und interdisziplinär agierenden Leitungsfunktionen innerhalb der Stadtverwaltung.
Die aktuellen Bewegungen Hildesheims scheinen auch damit zusammenzuhängen, dass es innerhalb weniger Jahre gleich drei qualifizierte Wechsel von Leitungspersonen an den wichtigen Knotenpunkten Soziales, Kultur und Bau-Infrastruktur gegeben hat. Wenn dies auch keine geplante und konzertierte Strukturveränderung war, so zeigt sie aber doch, dass die richtigen Personen in den Leitungsfunktionen entscheidende Grundlagen für langfristige Veränderungsprozesse bieten.
2) Ernstnehmen und Anerkennen derer, die sich aus bürgerschaftlichem Engagement für die Stadt einsetzen
So einige Schritte zu aktuellen Veränderungen und zu dem Willen dies fortzusetzen entstammte wie oben dargestellt dem bürgerschaftlichem Engagement. In der Fortsetzung des Gedankens einer lebendigen Demokratie und der Idee „Die Stadt sind wir und nicht bloß ernannte und gewählte Vertreter“ wird deutlich, welche Relevanz die Anerkennung und das Zulassen dieser parallelen Akteure zur offiziellen Stadtverwaltung sind.
3) Clustergruppen zu zentral wichtigen, teils interdisziplinären Themen
Viele Themen der Veränderung brauchen viel Zeit und sie brauchen die passende Dramaturgie der Evaluation, Analyse und Strategieentwicklung. Folglich sind Clustergruppen, die mit den richtigen ExpertInnen besetzt sind, in ihrem Wirken wertgeschätzt und in bestehende Entscheidungsstrukturen integriert werden, relevante Vehikel Stadtentwicklungsprozesse mittel- und langfristig abzusichern.
4) Ergebnisse und Resultate erzeugen
Grundlage und Resultat des Stadtentwicklungsprozesses muss es fortwährend – also auch mittendrin – sein, Ergebnisse zu erzeugen, die den Mitdenkenden das ernsthafte Gefühl vermitteln, die Bewegung hält an, führt zu spürbaren und sinnvollen Veränderungen und zur Verbesserung an den Stellen, wo Bedarfe formuliert wurden.
5) Verweildauer erhöhen
Es gilt geeignete Strukturen zu schaffen, die die Verweildauer von kreativen Köpfen in den Stadt erhöhen, die Anreize bieten, dass sich kreative Köpfe in der Stadt ansiedeln, die berufliche und private Perspektiven auffächern, sich in der Stadt mittel- bis langfristig anzusiedeln und bestehen zu können.
6) Kulturpolitische Konzeption
Unerlässliche für die oben genannten Schritt ist eine kulturpolitische Konzeption, welche die wesentlichen strategischen Rahmungen formuliert. Teil dessen ist fast schon automatisch ein passender Beteiligungsprozess die Inhalte mitbestimmen zu können. Doch ist es auch wichtig zu verstehen, dass das Resultat dem fortlaufenden Prozess unterliegt, sprich ein Monitoring der Inhalte und der begleitenden Implementierungsstrategie stattfinden muss.