Das Graduiertenkolleg 2477 „Ästhetische Praxis“ wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Zehn Promovierendenstellen und drei Postdoc-Stellen gehören zum Kolleg.
Laufzeit des Graduiertenkollegs: 01.04.2019 bis 31.03.2028.
Mit der Suche nach Antworten auf diese Frage erweitert das Graduiertenkolleg „Ästhetische Praxis“ den Fokus der traditionellen europäischen Ästhetiken und Kunstwissenschaften, der seit der Etablierung der Ästhetik im 18. Jahrhundert auf ästhetischen Erfahrungen, Wahrnehmungen und Urteilen lag, um eine praxistheoretische Komponente. Ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken ästhetische Formen des Machens und Vollziehens, die in die Produktion von Kunstwerken eingehen können, aber nicht müssen.
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Die zentralen Bereiche der Forschungsarbeit im Kolleg sind:
In der zweiten Förderperiode werden innerhalb dieser Bereiche drei neue Akzente gesetzt:
Das Verständnis ästhetischer Praxis im Kolleg
Ästhetische Praxis wird im Sinne einer Arbeitsdefinition ausgehend von und in kritischer Auseinandersetzung mit performativitäts- und ereignistheoretischen Ästhetiken als Vollzug beschrieben, der weder in Begriffen intentionalen und regelgeleiteten Handelns noch einer passiven Widerfahrnis zu verstehen ist, sondern auf ein „mediales“ (im Sinne des grammatischen Mediums) bzw. relationales Verhältnis verweist, in dem Subjekte und Objekte sich erst bilden. Als ästhetisch erscheint hier insbesondere eine Praxis, die ihre Ergebnisse im Lichte ihres performativen Vollzugs und die ihre Performanz über ihre Ergebnisse sichtbar werden lässt.
Mit dem Fokus auf eine so verstandene ästhetische Praxis verfolgt das Kolleg folgende Forschungsziele:
1. Untersuchung des Eigensinns ästhetischer Praxis
Wir rücken den Eigensinn ästhetischen Tätigseins gegenüber seinen Subjekten, institutionellen Rahmungen und Resultaten ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Produktion, Aufführung und Rezeption von institutionalisierter und professionalisierter Kunst, aber auch ästhetische Tätigkeitsformen außerhalb der etablierten Kunstinstitutionen, werden ausgehend von den sie ermöglichenden und durch sie ermöglichten Praxisformen in kulturwissenschaftlicher und philosophischer Perspektive beschrieben und analysiert. Damit verbindet sich das Anliegen einer praxistheoretischen Transformation philosophischer und einzelwissenschaftlicher Ästhetiken, die nicht länger auf werkzentrierte Zugangsweisen beschränkt bleiben und ästhetische Praktiken nicht primär als werkvorbereitend analysieren. „Eigensinn“ verstehen wir dabei als eine Nichtreduzierbarkeit des Praktischen auf vorgängige Strukturen oder Akteure.
Mit der genannten Perspektive gehen wir dabei über eine Verengung ästhetischer, kunst- und kulturwissenschaftlicher Forschung auf Artefakte und Inszenierungen der Hochkultur hinaus. Ästhetische Praxis erschöpft sich weder gestern noch heute im Umgang mit Kunstwerken, die Eingang in die etablierten kulturellen Archive gefunden haben. Daher soll ästhetische Praxis auch in alltäglichen und dezidiert außerkünstlerischen Kontexten erforscht werden. Dabei interessieren uns, ausgehend u.a. von den Forschungen zur „agency“ in den britischen Cultural Studies, auch die vielfältigen Formen der Kommunikation zwischen (klassischen) kulturellen Archiven und alltäglichen ästhetischen Praktiken.
2. Dekolonialisierung und Globalisierung ästhetischer Diskurse
Spätestens mit dem Weltkongress für Ästhetik in Japan im Jahr 2001 ist der internationale Diskurs zur Ästhetik global orientiert. Die folgenden Weltkongresse in Rio de Janeiro (2004), Ankara (2007), Beijing (2010), Krakow (2013) und Seoul (2016) zeugen von der weiteren Globalisierung aber auch Dekolonialisierung der Ästhetikdiskurse. Um die Forschungsperspektiven im Kolleg von Anfang an über den europäisch-westlichen Rahmen zu erweitern, sollen paradigmatisch vor allem ästhetische Praktiken und theoretische Ansätze zur Ästhetik aus Ostasien in die Forschungen einbezogen werden. Die Fokussierung verspricht einerseits ein hohes Kontrastpotential im Hinblick auf die Ordnung der Künste und deren Praktiken und andererseits liegen in keinem anderen außereuropäischen Bereich so viele beachtenswerte theoretische Angebote im Rahmen der Ästhetik vor – entwickelt in den letzten hundert Jahren – wie in Japan und China. Diese Reflexionsangebote werden auch für die hier vorgelegte Theoretisierung einbezogen. Durch die gezielte Einladung von Gästen mit Spezialexpertisen soll der latente Eurozentrismus klassischer Ästhetiken immer wieder aufgebrochen werden. Noch steht die globale Orientierung im theoretischen Diskurs der Ästhetik in Europa am Anfang. Das Kolleg versucht hier gezielt und methodisch gesichert innovative Impulse zu setzen.
3. Entwicklung von Methoden zur Beschreibung ästhetischer Praxis
Im Kolleg werden ausgehend von der Praxeologie (Reckwitz 2003, 2008, 2016; Schäfer 2016; Klein/Göbel 2017), dem practice turn (Schatzki 2001; Schatzki/Knorr Cetina/von Savigny 2001; Bernstein 2010) der Kulturwissenschaften sowie einer Renaissance von Praxiskonzepten in neoaristotelischen Überlegungen zum Verhältnis von Zweiter Natur, Lebensform und Praxisform (McDowell 2001; Thompson 2011; Stekeler-Weithofer 2010; Kertscher/Müller 2015) Methoden erarbeitet, die es erlauben, ästhetische Praktiken erfahrungsbasiert, begrifflich differenziert und gestaltprägnant zu beschreiben. Dabei orientieren wir uns daran, wie in einzelnen Künsten und Alltagspraktiken selbst auf den Vollzug des ästhetischen Machens, Aufführens und Erfahrens reflektiert wird. Wir lesen Werke und Inszenierungen als Ausdruck eines Wissens von den ihnen korrespondierenden Tätigkeiten, wie als Ausdruck eines Wissens um ihre soziale Wirksamkeit und Adressiertheit. Wir gehen der Frage nach, welches Wissen wir von künstlerischen und alltagsästhetischen Praktiken haben können, worin die Grenzen dieses Wissens bestehen, und wie Kunst und alltägliche ästhetische Praktiken wiederum mit den Grenzen dieses Wissens umgehen. Mit der Thematisierung der Praxis rückt eine genuine Weise menschlichen Tätigseins in den Blick, die ihren Zweck in sich selbst hat, in ihrem Vollzug, die insofern kontingent ist, als sie in keinen ihr vorausgehenden Bedingungen ihrer Möglichkeit verankert ist und die zugleich von mehreren geteilt und dabei als beglückend erfahren wird.
Das Kolleg etabliert gemäß dieser Ziele und Themen einen praxistheoretischen Zugang zu Künsten und ästhetischen Alltagspraktiken, der über den europäischen Horizont hinausgreift. Es geht von der Annahme aus, dass sich ästhetische Praxis als Tätigkeitsform weder adäquat in Begriffen einer intentionalistischen Handlungstheorie fassen, noch auf bloße Effekte der Selbstreproduktion einer autonomen Institution Kunst, eines gesellschaftlichen Kunstsystems oder einer Kulturökonomie reduzieren lässt. Unter Nutzung der Ergebnisse nicht-reduktionistischer Praxistheorien, aber auch klassischer Konzepte wie der aristotelischen Praxis und Poiesis, sucht das Kolleg Antworten auf die Frage, was geschieht, wenn Menschen ästhetisch tätig sind und sich selbst als ästhetisch tätig erfahren. Die am Kolleg Beteiligten beforschen Formen und Möglichkeiten des Sprechens über dieses Tätigsein, das sich häufig, aber in vielen Fällen auch nicht, in „Kunstwerken“ manifestiert.
Das Graduiertenkolleg hat ein an die Promotionsphase dynamisch angepasstes Qualifizierungskonzept, das sich auf die Tradition der kulturwissenschaftlichen Forschung des Fachbereichs 2 Kulturwissenschaften und Ästhetische Kommunikation stützt und zugleich in aktuelle transdisziplinäre Forschungen des Standorts integriert ist. Insbesondere die in Hildesheim profilierte Theorie-Praxis-Verbindung in Forschung und Lehre bildet eine wichtige Voraussetzung für die Forschung im Kolleg und das eng an sie anschließende Qualifizierungs- und Veranstaltungsprogramm. Das Programm fördert die wissenschaftliche Qualität der Forschungsarbeiten ebenso wie die überfachliche Aus- und Weiterbildung der Doktorand*innen und Postdocs. Es setzt sich zusammen aus wissenschaftlichen Veranstaltungen (Tagungen, Ringvorlesungen, Workshops) mit Beteiligung von internationalen Gästen und Fachpublikum sowie kolleginternen Workshops zur gezielten Förderung von Methoden- und Schlüsselkompetenzen der Wissenschaftler*innen in der Qualifizierungsphase.
Veranstaltungsprogramm des Kollegs
Herzlich willkommen, Doktorand*innen der „dritten Kohorte“ - Frieder Behrens, Hannah Chodura, Elisabeth Graaf, Lukas Graf, Noah Grossmann, André Hinderlich, Stefanie Leiding, För Künkel, Julia Rüegger, Juri Wasenmüller.
Herzlich willkommen, neue assoziierte Doktorand*innen - Aldo Lara Mendoza, Diana Rojas.
Wir wünschen einen guten Start und freuen uns auf die Zusammenarbeit.
Liebe Doktorand*innen der „zweiten Kohorte“, wir bleiben verbunden und wünschen euch viel positive Energie für den Abschluss der Promotion.
Vom 10. bis 12. April kamen die neuen Mitglieder des Kollegs erstmals auf der Domäne Marienburg zusammen. |
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Bei „Gallery Walks“ präsentierten die Promovierenden ihre Projektideen und tauschten sich interdisziplinär aus. Paneldiskussionen und ein gemeinsames Rahmenprogramm boten zudem Raum, das Kolleg besser kennenzulernen und das Miteinander der Doktorand*innen zu stärken. |
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Fotos: Clemens Heidrich |
In Kooperation mit dem UNESCO-Lehrstuhl für Kulturpolitik veranstaltete das Graduiertenkolleg vom 5. bis 7. Dezember 2024 eine Tagung mit dem Titel „(Un)Fair Practices: Cultural Policy Between Artistic Freedom and Political Control?“. Weitere Informationen zu der Veranstaltung finden Sie hier.
Fotos von Clemens Heidrich und Paul Kindler.
Das Graduiertenkolleg gratuliert Simon Niemann und Marie-Charlotte Simons zum erfolgreichen Abschluss der Promotion mit der Disputation im Sommersemester 2024! Wir freuen uns mit euch, vielen Dank für die gemeinsame Zeit.
Sprecher
Prof. Dr. Jens Roselt
Koordination
Dr. Sonja Dinter
Postanschrift
Universität Hildesheim
DFG-Graduiertenkolleg 2477 „Ästhetische Praxis“
Universitätsplatz 1
31141 Hildesheim
Standort
Kulturcampus Domäne Marienburg
Domänenstraße, Haus 3
31141 Hildesheim
Kulturcampus Gebäudeplan
Anfahrtsbeschreibungen zum Kulturcampus