TTIP und die Kultur

mercredi, 10. septembre 2014 um 14:35 Uhr

Kultur als reine Privatsache, als Ware? Welche Auswirkungen hat „TTIP“ auf die Kultur und Künste? Ola Kveseth Berge aus Norwegen über die kulturpolitischen Seiten der Verhandlungen zum Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA. Der Kulturpolitikforscher geht auf die kulturpolitischen Interessenkonflikte zwischen Frankreich und den USA ein, wie diese in den jeweiligen kulturpolitischen Traditionen wurzeln, aber auch darauf, wie Kultur nationale Identität präsentiert. Aus der neuen Serie „Wissenschaft im Dialog“ – Dank Internet hat Matthias Friedrich vorab erfahren, worum es geht.

Matthias Friedrich: Woran forschen Sie gerade?

Ola Kveseth Berge: Zurzeit arbeite ich an einer Promotion zu ausländischer Kulturpolitik, unter besonderer Berücksichtigung des kulturpolitischen Engagements des norwegischen Außenministeriums. In Hildesheim werde ich ein Paper über die kulturpolitischen Seiten der Verhandlungen zum Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA präsentieren. Dabei werde ich besonders auf die kulturpolitischen Interessenkonflikte zwischen Frankreich und den USA eingehen, wie diese in den jeweiligen kulturpolitischen Traditionen wurzeln, aber auch darauf, wie Kultur nationale Identität präsentiert.

Wie verbinden Sie Ihre Thesen mit der Kulturpolitikforschung?

Berge: Ich muss ehrlich zugeben, dass ich lange viel für handlungstheoretische Positionen übrig hatte; ich habe mich sowohl mit Pierre Bourdieus Feld- als auch mit Michel Foucaults Diskurstheorie und ihrem gemeinsamen Blick auf strukturelle Macht beschäftigt. Das Interessante an diesen Theorien ist, dass sie die Art und Weise mit einbeziehen, wie symbolische Strukturen (beispielsweise Gewohnheit, Gemeinsinn oder die Bewertung von Normalität), Entscheidungen und Handlungsmuster beeinflussen. Damit sind sie weit mehr als eine rein banale Illustration dessen, wie verschiedene Gesellschaftsstrukturen Rahmen für unsere Entschlüsse bilden.

Ich halte die Handlungstheorie für einen interessanten Ansatz, denn sie führt unterschiedliche wissenschaftliche Fachrichtungen zusammen: auf der einen Seite Psychologie, auf der anderen Seite Kulturpolitik und Kunst. Das ist schließlich die Perspektive des Individuums, nicht die der Institution. Zum Beispiel hatte ich einmal ein Seminar über „Residenzen“, in denen ein Künstler arbeiten kann, ohne sich um seine finanzielle Situation sorgen zu müssen. Im Seminar haben wir die Einwirkung der Institution auf den Künstler hervorgehoben. Ich finde, bei Ihrem Ansatz geht es um das Gegenteil; und das ist ein veränderter Blick auf das Verhältnis zwischen Künstler und Kultur(industrie).

Berge: Ich möchte betonen, dass beide Perspektiven interessant und wichtig sind, und als Kulturpolitikforscher bin selbstverständlich auch ich daran interessiert, wie institutionelle Rahmen und (andere) formale Strukturen künstlerische Produktion, Distribution und Konsum beeinflussen. Denn das tun sie offenbar. Der ganze kulturpolitische Maßnahmenapparat basiert gerade auf einer solchen angenommenen Wirkung, wie Sie selbst im Beispiel mit den Künstlerresidenzen angedeutet haben. Wenn ich dennoch an individuellen Handlungsspielraum interessiert bin, so liegt das daran, dass ich meine, in meiner Forschung nicht immer oder ausschließlich empirische Deckung für Modelle zu finden, die zu einseitig Strukturen (zum Beispiel politische, wirtschaftliche, institutionelle, soziale oder rituelle) als Steuer der Handlungen einzelner Akteure hervorheben. Besonders spannend ist vielleicht, wie solche Perspektiven herausfordern, inwieweit das Individuum selbst die Konsequenzen eigener Entscheidungen überschaut und ob verschiedene Entscheidungen, die der Einzelne als bewusst und „gewollt“ erlebt, es auch tatsächlich sind.

Vielleicht beinhaltet der Blick auf das Individuum neue Problemstellungen. Ich glaube nicht, dass es ganz frei von institutionellen Einflüssen ist…

Berge: Wie viele Kritiker angedeutet haben, sind allerdings mehrere Probleme mit einer solchen Sichtweise verbunden, hauptsächlich a), dass man auf eine problematische Weise das Individuum von der Verantwortung für eigene Handlungen „befreit“, dass man sich b) in eine Position begibt, wo man selbst Strukturen entdeckt, die anderen verborgen bleiben, und dass c) – falls äußere Strukturen wichtige individuelle Handlungen steuern und der Handelnde sich nicht selbst darüber im Klaren darüber ist, dass er oder sie vollkommen hinter solchen eigenen Entscheidungen steht – die Frage aufkommt, wie es nun sein kann, dass jemand ausbricht und die Praxis auf dem Feld bzw. innerhalb des Diskurses verändert. Hier vereinfache ich sehr viel, aber vollständige Beschreibungen sowohl der Theorien als auch ihrer Kritik führen zu weit.

Welches Potenzial führen diese Ansätze für Ihre Forschung mit sich?

Berge: Ich war auf der Suche nach einer Theorie, die zusätzlich betont, dass Akteure freier handeln, aus eigenen Erfahrungen heraus. Letzteres meine ich nämlich bei Treffen mit zum Beispiel Künstlern oder Repräsentanten der Kunst- und Kulturverwaltung zu spüren. Es ist nicht so, dass sie sich wohl bewusst als auch unbewusst Macht- und Wahrheitsregimen einordnen, aber sie verfügen über eine überwältigende Vielfalt an Variationsmöglichkeiten, inwieweit sie darin eingehen. So vielfältig, dass Feld- und Diskurstheorien ein bisschen das Potenzial verlieren, das sie zu meinem bevorzugten theoretischen Ausgangspunkt machen würde. Vielleicht liegt der Wille zur Handlung zuallererst im eigenen körperlichen und mentalen Ausgangspunkt der Akteure? Oder, wie zum Beispiel Ann Swidler behauptet, im einzigartigen kulturellen Repertoire? Gegebenenfalls bedingt das wohl, dass Kultur nicht ist, in das wir ein-, sondern etwas, aus dem wir hervorgehen, wie der amerikanische Kultursoziologe Jeffrey C. Alexander behauptet. Um das in Relation mit dem Verhältnis zwischen Künstler und Kultur(industrie) zu setzen: Die Idee des kulturellen Repertoires wird freier aussehen, als wenn man zum Beispiel Bourdieu komplett folgen würde (d.h., dass man den Künstler als Handelnden sieht, der strategisch über das Feld der Kunst navigiert, aber wo die Strategien – oder vielleicht richtiger: die Rahmen derselben – von anderen stammen als ihm oder ihr selbst).

Sie haben die „kulturelle Ausnahme“ Frankreichs genannt. Französische Kultur ist skeptisch gegenüber amerikanischem Einfluss. Ich habe in Aftenposten gelesen, es gäbe eine „Quotenordnung, die den französischen Film vor amerikanischen Interessen beschützen soll“. Können Sie ein wenig mehr über die unterschiedlichen Konflikte erzählen im Hinblick auf die Verhandlungen zum Freihandelsabkommen?

Berge: Traditionell ist französische Kulturpolitik als zentralistisch und universalistisch aufgefasst worden. Das heißt, am liebsten hatte man nationale, kanonische Auffassungen über Qualität; man meinte außerdem, diese Qualität sei nicht auf Frankreich begrenzt, sondern könnte auch Qualität auf allgemeiner Ebene definieren. Die USA, mit der die EU aktuell versucht, ein Freihandelsabkommen zu verhandeln, hat eine andere kulturpolitische Tradition, die mehr gemäß der übrigen liberalistischen politischen Lage funktioniert. Amerikanische Kulturpolitik wurde nämlich am meisten so aufgefasst, dass Kultur eine Privatsache ist, die damit zum großen Teil vom Markt definiert wird, wo sie hervorragend als Ware funktioniert. Aber: Was in der amerikanischen Tradition als Freiheit von der Einmischung der Behörden gilt, wird in europäischer Tradition als Freiheit durch solche Einmischung gesehen – in Form öffentlicher Stütze und Regulierungen. Ich glaube, das ist der Abstand zwischen diesen beiden Traditionen, der französische Kultur „skeptisch gegenüber amerikanischem Einfluss“ macht, wie Sie schreiben.

Theorie auf der einen, Praxis auf der anderen Seite: Welche Forschungsmethode verwenden Sie, wenn Sie versuchen, das kulturelle Verhältnis zwischen USA und Frankreich zu beleuchten?

Berge: Wenn es um die kulturelle Situation in Frankreich geht, muss ich zunächst unterstreichen, dass ich selbst keine ethnografischen Studien in Frankreich (und auch den USA) durchgeführt habe. Deshalb habe ich kein Wissen aus erster Hand darüber, wie französische Künstler zur amerikanischen Kulturindustrie stehen sowie deren Blick darauf, wie die französischen Politiker ihr gegenüber reagieren müssen. Meine Analysen basieren auf meinem theoretischen Wissen über französische und amerikanische Kulturpolitik und auf einem Durchgang öffentlicher Dokumente über die laufenden Verhandlungen zu einem Freihandelsabkommen. Außerdem gründen sie in Kommentaren zentraler Akteure der Verhandlungen. Ich versuche zu verstehen, was den steilen Fronten zwischen Frankreich und den USA zugrunde liegt – mit dem Blick auf Kultur als Ware contra eine Kultur als etwas mehr oder etwas anderes als Ware.

Wie bewertet die Kulturpolitikforschung die amerikanische Perspektive auf die „französische Ausnahme“? Und wie fließt das in Ihre Doktorarbeit mit ein?

Berge: Einige Kulturpolitikforscher behaupten, Künstler seien jetzt pragmatischer als früher; es würde mich also nicht wundern, falls zum Beispiel französische Behörden Hollywood stärker gegenüberstehen würden als französische Filmschaffende. Letzteres kann auch mit einem letzten Punkt zusammenhängen, den ich betone: Nämlich dass die Debatte rund um die „französische Ausnahme“ Teil einer Soft-Power-Strategie ist, wo die USA sich damit zufriedengeben, dass amerikanische Werte und Kultur so ungehindert wie möglich in den Rest der Welt vermittelt werden, während Frankreich im Gegensatz dazu fürchtet, dass dies das Potenzial der eigenen Kultur als Soft Power schwächt. Dieser Begriff, eingeführt vom amerikanischen Politologen Joseph Nye, beschreibt eine Tätigkeit, in der man durch den Gebrauch von Kultur oder anderen „weichen“ Mitteln versucht, die eigene Attraktivität gegenüber den anderen zu steigern. Nye meint, dass eine solche Tätigkeit dann maximal effektiv ist, wenn andere Länder selbst das nachfragen, was das Ursprungsland in ein günstiges Licht stellt. So wird zum Beispiel der Filmexport aus Hollywood zu einem effektiven außenpolitischen Instrument. Die USA hat, mit anderen Worten, mehrere gute Gründe dafür, Frankreichs explizite Ansprüche auf die Beschützung der eigenen Kultur zu übersehen. Meiner Auffassung nach stellen die USA implizite Behauptungen auf, dass Frankreich auf dem Markt definiert, was Qualität ist, wo die Amerikaner dann Erfolg haben. Und das gemäß langer kulturpolitischer Traditionen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Eine Übersetzung aus dem Norwegischen. Das Gespräch führte Matthias Friedrich via E-Mail. Er studiert „Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus“ an der Universität Hildesheim.

Kulturpolitischer Weltkongress

Vom 9. bis 12. September 2014 richtet die Universität Hildesheim den Weltkongress für Kulturpolitikforschung aus. 400 Wissenschaftler sowie Kulturschaffende aus 60 Ländern stellen in 200 Vorträgen empirische Untersuchungen vor und berichten über kulturpolitische Entwicklungen. Ola Berge vom Telemark Research Institute in Norwegen spricht über „L’exception culturelle: cultural protection or trade protectionism? Cultural policy & the Transatlantic Trade and Investment Partnership (TTIP) negotiations” (Programm).


Die kulturelle Ausnahme: Ola Kveseth Berge spricht auf dem kulturpolitischen Weltkongress an der Uni Hildesheim über Frankreich und die Verhandlungen zum Freihandelsabkommen mit den USA. Foto: M. Gifford, Lizenz: Creative Commons

Die kulturelle Ausnahme: Ola Kveseth Berge spricht auf dem kulturpolitischen Weltkongress an der Uni Hildesheim über Frankreich und die Verhandlungen zum Freihandels-abkommen mit den USA. Foto: M. Gifford, Lizenz: Creative Commons