Theater als Institut für die intellektuelle Entwicklung

samedi, 27. mars 2004 um 08:23 Uhr

Eine kulturpolitische Studienreise nach Iran

Vor dem großen Hoftor tobt der Verkehr. Menschen rufen, Autos hupen, Bremsen quietschen. Drinnen im Innenhof der Kunstakademie wird unter freiem Himmel feiner Sand aus Baden-Württemberg gefegt. Die Seiten der Spielfläche sind mit großen hellen Tüchern verhängt. Noch sitzt der Autor allein auf den harten, schmalen Bänken des Zuschauergevierts: Tankred Dorst, eigens mit Ursula Ehler in den Iran gereist, genießt sichtlich die Spannung vor der Aufführung.

Parzival in Persien

Gleich beginnt "Parzival" in Persien. In einer Ecke stimmen die Musiker. über Mikrofon probt der Künstlerische Leiter der Truppe seine Begrüßung: Dieter Kümmel vom Theater im Marien­bad aus Freiburg wird in ein paar Minuten seiner Freude Ausdruck verleihen, dass dieses Gastspiel möglich wurde. Noch vor zwei Wochen hatten es die Behörden abgesagt. Die Provinzfürsten in Isfahan beschlossen nach der Sichtung einer Videoaufzeichnung, dass das, was da aus der deutschen Partnerstadt als Jugendtheater importiert werden sollte, nicht dem entspricht, was man in der Islamischen Republik von Iran dem Publikum zeigen will. Erst die liberalen Kräfte aus der Hauptstadt und ihr Stadthalter vor Ort aus dem Ministerium für Kultur und Islamische Führung entschieden über das Projekt. Freilich nicht ohne Auflagen. Dem nackten Mann wurden Hose und T-Shirt verordnet, den Schau­spielerinnen Kopftücher; denn die sind per Gesetz Pflicht im Lande. Das Bild der ersten Vereinigung von Parzival und Blanche Fleure auf der Schaukel wurde gestrichen und jegliche Berührung von Frauen und Männern auf der Bühne untersagt. Das muss nicht unbedingt einen Verlust an Theatralität bedeuten. Im Gegenteil. Das Andeuten ist der dramatischen Kunst zu eigen und funktioniert besonders, wenn das Spiel der Zeichen durch die Zuschauer entschlüsselt wird. Diese strömen in Massen, so dass sich auch eine andere Auflage von selbst erledigt. Das Publikum in Männer und Frauen durch getrennten Einlass zu spalten misslingt. Der Andrang ist überwältigend. Bei allen vier Aufführungen. Und es gibt jedes Mal standing ovations. So lässt sich feststellen, dass das Volk im Iran aufgeschlossener ist als das autoritäre Regime der Mullahs. Eine Drohung aus der Stadtverwaltung besagte nämlich, dass man nicht für die Sicherheit des Theaters garantieren könne; was da auf der Bühne erzählt und vor allem wie es erzählt werden würde, könnte dazu führen, dass Schlägertruppen das Bühnenbild zerstören. Nichts von alledem. Denn das, was da im "Parzival" verhandelt wird, beschäftigt junge Menschen überall: Der Weg in die Gesellschaft, auch die der Konventionen. Die Geschichte ist kompiliert aus Texten des "Merlin"-Materials von Dorst und Ehler, aus Geschichten und Mythen. Ein neues dreistündiges Werk der Welterfahrung ist erstanden, das von der Geburt bis zum Tod der Menschlichkeit den Spiegel vorhält. Es ist auch das Dokument einer Männerwelt, die untergeht. Der Nachruf von einem anderen Stern beeindruckt auch das iranische Publikum. Dieses kennt ähnliche Erzählungen aus der Tradition persischer Kultur. Studierende der Theaterwissenschaft lassen es sich nicht nehmen, nach dem langen Abend noch mit den aus Deutschland angereisten Theaterkünstlern ins Gespräch zu kommen. Denn Theater spielt in diesem Land eine große Rolle.

Ein Konzern der Kinderkultur

Szenenwechsel. Von der Provinz in die Metropole. In Teheran gibt das Theater in Marienbad den Klassiker des Kindertheaters "Die Geschichte vom Onkelchen", die Geschichte einer Freundschaft. Hubertus Fehrenbacher und Horst Gessner brillieren in den Rollen als Onkel und Hund. So allerliebst die beiden zueinander finden, so anrührend sie sich auch der dritten Person, einem Mädchen, nähern, so ganz ohne Brisanz ist das Geschehen unter veränderten Rahmenbedingungen nicht. Der Hund ist in islamischen Ländern ein unreines Wesen, und wenn er auf der Bühne von einem Schauspieler dargestellt wird, darf er noch lange nicht das andere Geschlecht berühren. Die Freiburger probieren es aus und der Atem stockt für einen kurzen Moment bei dem jungen Publikum. Einmal sind es fast 200 junge Frauen, ein andermal Schulklassen, die brav getrennt nach Buben und Mädchen dem Geschehen folgen. Sie erleben die traurig-schöne Geschichte im Zentrum für Kindertheater, mitten in einem der prächtigen Parks. Dort residiert "Kanoon", das staatliche Institut für die intellektuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Das klingt faszinierend. Und ist es auch. Denn "Kanoon" ist ein Konzern, ein Konzern der Kinderkultur. Das Geld verdienen sie mit allerlei Medienprodukten: Kinder-Bücher, Kinder-Spiele, Kinder-Spielzeug, Kinder-Kassetten, Kinder-Filme. Die Filmproduktion ist besonders ausgeprägt und weltbekannt für ihre Qualität. Zahlreiche Preise von internationalen Festivals stehen in den Vitrinen der Konzernzentrale. Von dort aus wird auch die Kindertheaterlandschaft gesteuert. Professor Hassan Dadshekar, Direktor des Kinder- und Puppentheater-Zentrums erklärt uns das System: "Theater ist für uns Erziehungsmethode, finanziert werden wir deshalb vom Kultusministerium." Seit mehr als 30 Jahren gilt es, dass Kinder lernen sollen, "die Künste zu benutzen". Soziale Aspekte spielen dabei ebenso eine Rolle wie die ästhetische Bildung. "Kanoon" versteht sich als Mittler zwischen Schule und Kultur. In über 500 sogenannten Kulturzentren werden im ganzen Land Angebote gemacht, an kultureller Bildung zu partizipieren. Vergleichbar mit dem Programm deutscher Jugendkunstschulen oder Theaterpädagogischer Zentren geht es um das kreative Wirken in Malerei, in Musik und im Theaterspiel. Es gibt eine eigene Ausbildung für Theaterpädagogen, und einmal treffen wir auch auf diese Theaterlehrerinnen. Sie sind hochmotiviert, sie haben einen gesellschaftlichen Auftrag, sie lechzen nach Weiterbildung, um ihre Sache noch besser machen zu wollen. Neben dem Theater mit Kindern hat Iran aber auch ein Netzwerk mit Theater für Kinder zu bieten. Acht Produktionen werden von "Kanoon" aus in die Provinzen geschickt, die dort jeweils bis zu 50 Vorstellungen geben. Im Sommer gibt es zahlreiche Freiluftaufführungen. Auch das Puppentheater erfreut sich großer Beliebtheit. Der Kasper heißt dort "Mobarak" und das Rotkäppchen "Noghli". Die Aufführung, die wir sehen durften, war eher konventionell, mit viel Musik und Gesang, animierend zum Zuschauen und zum Mitmachen. Der Wolf, aus dessen Bauch die Großmutter befreit wurde, solle sterben, befanden die Kinder. Der Erzähler hatte alle Mühe, eine andere Lösung vorzuschlagen. Der Wolf solle eine Chance zur Besserung erhalten. Widerwillig lässt sich das junge Publikum darauf ein. Im Iran dient das Kindertheater, wie gesagt, der Erziehung. Die mobilen Produktionen bereisen auch die entlegendsten Winkel des Landes. Besonders originell scheint dabei jene Produktionsgruppe zu sein, die mit einem alten Mer­cedes-Laster, einem Geschenk der bundesdeutschen Regierung noch aus der Zeit des Schahs, in die Dörfer fährt und auf der Ladefläche Theater spielt. über 100.000 Zuschauer sollen allein durch diese Maßnahme jährlich erreicht werden.

Dialog mit dem Islam

Internationale Beziehungen sind in den Jahren nach der islamischen Revolution allerdings nicht besonders gepflegt worden. Insofern kamen die Freiburger zur rechten Zeit. Die ist nämlich reif für einen Kulturaustausch. Die meisten Künstler und Kulturschaffenden, die wir trafen, freuen sich auf Begegnungen mit der westlichen Welt. Und selbst der Kulturminister verkündet in der eng­lisch­sprachigen "Iran Daily" vom 19.10., das Ziel seiner Politik sei, "Partnerschaften der Kulturen zu propagieren". Ahmad Masjed Jamei spricht von kultureller Vielfalt und davon, dass der Iran schon von jeher der Ort war, wo verschiedene Kulturen sich friedlich trafen. Unser Besuch fällt symptomatisch in die Zeit, als Schirin Ebadi vom Friedensnobelpreis erfährt, und als sie in Teheran eintrifft, wird sie von Zehntausenden begeisterter Menschen empfangen - und die deutsche Delegation steckt statt zwei fünf Stunden im Stau. Unser Besuch beim Botschafter findet nur wenige Stunden nach dem Treffen der europäischen Außenminister Villepin, Straw und Fischer am 20.10. statt, die für eine Stippvisite angereist kamen, um die iranische Führung zum Einlenken beim Atomprogramm zu bewegen. Und am 21.10. veröffentlicht die UN-Organisation für Entwicklung ein Dokument, das feststellt, dass eine "wachsende Wissenskluft" die arabische Welt lähme. Das Hauptproblem sei, dass bereits in frühester Kindheit gelernt werde, "Neugier und Wissensdurst zu unterdrücken". Die Schul-Curricula lehrten Unterwerfung und Gehorsam und verkündeten die Entwicklung einer "kreativen, innovativen Generation". Im Iran konnten wir erleben, dass die Kraft der Kultur eine echte Alternative zu dieser Tendenz zu werden scheint. Dass "Parzival" für Jugendliche möglich war, dass Kindertheater selbstverständlich zur kulturellen Bildung zählt, kann nicht so falsch sein. Hier gilt es anzuknüpfen. Theater für Kinder und Jugendliche kann die liberalen Strömungen, Theaterpädagogik kann lebendige Individuen in ihrer Identitätssuche unterstützen. Das soll auch weiterhin der Kulturauftrag sein. Die Mittlerorganisationen der Auswärtigen Kulturpolitik haben das erkannt. Die Theaterreise von Deutschland nach Iran war ein weiterer Schritt im Vorfeld der Wiedereröffnung des Goethe-Instituts in Teheran. Der "Dialog mit dem Islam", wie sich das Programm nennt, das zur Finanzierung des Austauschs beigetragen hat, bedarf der permanenten Fortsetzung; dem Dialog von Künstler zu Künstler muss dabei besonders Rechnung getragen werden. Kinder- und Jugendtheater kann dabei eine bedeutsame Rolle spielen. Auch damit die Identifikation mit den Helden der Geschichten in kritischer Distanz verlaufen kann. Ein "Parzival" mit all seinen Brüchen auf der iranischen Bühne ist allemal besser als der Märtyrerjunge mit seinem Sprengstoffgürtel auf einem iranischen Geldschein.

 


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