Mit neuen Zielgruppen arbeiten: Wie sich Kulturinstitutionen öffnen

samedi, 21. septembre 2013 um 11:44 Uhr

„Bislang erreichen öffentlich geförderte Kultureinrichtungen nur einen sehr kleinen Ausschnitt der Bevölkerung. Die größte Herausforderung besteht für sie darin, sich für Menschen unterschiedlicher Herkunftsländer und sozialer Milieus zu öffnen. Dafür ist mehr als PR und Marketing notwendig“, sagt Prof. Dr. Birgit Mandel von der Universität Hildesheim. Theaterhäuser in Bochum, Düsseldorf, Dortmund, Oberhausen und Gelsenkirchen gehen neue Wege. Aktuelle Forschungsergebnisse liegen vor: Wie können Kultureinrichtugnen für verschiedende gesellschaftliche Gruppen attraktiv werden?

Ergebnisse aus einer aktuellen Studie sowie Sekundäranalysen der bereits bestehenden empirischen Studien zur Kulturnutzung in Deutschland enthält die aktuelle Publikation über „Interkulturelles Audience Development" von Prof. Dr. Birgit Mandel. Die Autoren geben in dem Buch Handlungsempfehlungen zu Kulturmarketing, Kulturvermittlung und institutionellen Veränderungsprozessen. Diese basieren auf Modellprojekten in Nordrhein-Westfalen. Große (Musik-) Theaterhäuser in Bochum, Düsseldorf, Dortmund, Oberhausen und Gelsenkirchen arbeiten mit neuen Partnern und Zielgruppen an neuen Kommunikationsweisen, Formaten und Programmen. Mandel leitet am Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim den Bereich Kulturmanagement und Kulturvermittlung.

Wer besucht Theaterhäuser?

Gelingt es über interkulturelle Bildungsprojekte auch neues Publikum zu gewinnen? Was sind Barrieren der Kulturnutzung bei verschiedenen Bevölkerungsgruppen? Welche Programme kommen bei welchem Publikum an? Welchen Einfluss haben interne Strukturen auf die Gewinnung neuen Publikums? Wie kann es Kultureinrichtungen gelingen, für verschiedene gesellschaftliche Gruppen ein relevanter Ort zu sein, darunter z.B. auch für bislang schwer erreichbare Gruppen wie junge Männer mit niedriger Bildung oder bestimmte Migrantengruppen aus nicht-europäischen Kulturkreisen?

Unter der Lupe: Spielpläne, Besucher, Interessen

Es wurden Spielpläne, Auslastungszahlen gesichtet; Besucher und Nicht-Besucher, Erstbesucher und Kooperationspartner befragt. Knapp 1000 Menschen mit und ohne Migrationshintergrund äußerten sich zu kulturellen Interessen und Einstellungen. Auch die Ergebnisse der Studie Interkulturbarometer für NRW werden erstmalig zusammenfassend aufbereitet. Die Ergebnisse zeigen, unter welchen Bedingungen und mit welchen Maßnahmen Theater und Museen neues Publikum gewinnen und sich zugleich organisatorisch und künstlerisch weiterentwickeln können.

Der Blick in das Land Nordrhein-Westfalen lässt hoffen: Die am Modellprojekt der Zukunftsakademie des Landes und der Mercator Stiftung beteiligten sieben großen, öffentlichen Kultureinrichtungen überarbeiten ihre Programmplanung, Kommunikation und Vermittlung. Dabei beziehen sie Kultureinrichtungen migrantische Gruppen, Kunstschaffende der Off-Szene und nicht-bildungsbürgerliche Milieus ein.

Birgit Mandel nennt einige Beispiele: Das Schauspielhaus Bochum kooperiert mit der Street Art Compagnie Renegade – ein völlig anders organisiertes Kunstkollektiv – und entwickelt dabei neue Programme und interne Arbeitsweisen. Das Theater im Revier Gelsenkirchen entwickelte mit Schülerinnen und Schülern ein Musiktheaterstück „Vision of God“, das sich mit persönlichen Vorstellungen von Religion befasst. Beim Jungen Schauspielhaus Düsseldorf recherchierten Künstler mit dem Theater Mobil in der Stadt mit Jugendlichen vor Ort zu Themen, die diese in ihrem Alltag bewegen. In der Inszenierung „Väter & Söhne“ stehen jugendliche Laiendarsteller gemeinsam mit Profis auf der Bühne – ein Beispiel für partizipative Theaterarbeit. Am Theater Oberhausen erstellten Lehramtsstudierende gemeinsam mit Kindergärten und Schauspielern ein interaktives Stück für Grundschulkinder, das den Spracherwerb fördert.

Stadtspiel: Das Schauspiel Dortmund bringt mit „Crash Test Nordstadt“ einen Stadtteil mit dem bürgerlichen Stammpublikum des Theaters zusammen. Das Westfälische Landestheater Castrop Rauxel lud Autoren und Autorinnen mit Migrationshintergrund ein, Stücke für das Theater zu schreiben. Unterstützt werden sie von einer Theaterautorin. Über zeitgenössische Tanzstücke versuchte das Rautenstrauch-Joest-Museum in Köln, ein neues Publikum für die ethnologischen Präsentationen des Museums zu interessieren. Die Ergebnisse des Modellprojekts werden im September auf der Ruhrkonferenz „Zukunft der Interkultur“ in Gelsenkirchen einer Fachöffentlichkeit vorgestellt und diskutiert.

Neues Publikum für alte Programme? Einige zentrale Ergebnisse:

Es ist kaum möglich, neues, anderes Publikum für „alte“ Programme zu bekommen. Man muss also auch die Programme in Auseinandersetzung mit neuen Akteuren und Nutzern verändern, um relevant zu werden für ein vielfältigeres Publikum. Kooperation mit verschiedenen Partnern jenseits des Kultursektors können wesentlich dazu beitragen, Menschen aus bislang nicht kunstaffinen Milieus zu erreichen und zu involvieren.

Mit Programmpräsentationen, die aus partizipativen Projekten hervorgegangen sind, erreicht man neue Zuschauerinnen und Zuschauer, sagt Mandel. „Diese werden jedoch nicht automatisch zum Stammpublikum, dafür muss man ihnen explizit Folgeangebote machen, die Anknüpfungspunkte zu ihrem Leben bieten. Wenn interkulturelle Programme künstlerisch von hoher Qualität sind und vor allem auch dann, wenn sie neue Formate ausprobieren, erreichen sie besonders hohe Auslastungszahlen und sind beim Stammpublikum und bei neuem Publikum populär, die sich hier im besten Falle begegnen und austauschen können, wenn solche Dialoge gezielt angelegt werden."

Die Kooperation mit neuen Teilnehmern etwa aus Jugendszenen oder mit Menschen anderer Herkunftsländer kann Kultureinrichtungen programmatisch und strukturell verändern und dazu beitragen, dass diese mehr Relevanz im Leben breiterer Bevölkerungsgruppen hat. Dies gelingt am ehesten dann, wenn das Ziel interkultureller Öffnung mit allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern reflektiert, präzisiert und strategisch in den Leitlinien verankert wird. „Es gelingt, wenn alle überzeugt sind, dass sie auch persönlich von den inhaltlichen und ästhetischen Anregungen durch Menschen anderer Milieus, anderer Herkunft, anderen Alters profitieren können und die Abteilungen, die vor allem mit neuen Nutzergruppen zu tun haben, wie Theaterpädagogik, Museumspädagogik und Vermittlung, als gleichwertig in das künstlerische Team integriert und mit Personal und Budget ausgestattet sind", sagt Birgit Mandel. Außerdem sei relevant, dass die „Leitung Mut hat und Politik dabei unterstützt, neue Programme und Formate auszuprobieren, statt am 'Repertoire' festhalten zu müssen".

Der in angelsächsischen Ländern geprägte Begriff des „Audience Development“ bezeichnet eine ganzheitliche Strategie mit Maßnahmen der Kommunikation, dem Vertrieb, dem Service, der Preispolitik. Ziel ist, neues Publikum zu gewinnen und zu binden. Die Studie von Brigit Mandel bestätigt vorangegangene Ergebnisse aus englischen Audience Development-Projekten, denn: Nur dann, wenn Kulturinstitution bereit sind, sich als Ganzes, einschließlich ihrer Programme, gemeinsam mit neuen Nutzern verändern, gelingt es, neues Publikum zu gewinnen. „Ein Maßnahmenkatalog in Marketing, PR und Vermittlung greift zu kurz“, sagt Birgit Mandel. Ziel ist es, Austausch anzuregen zwischen Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft, Bildung und sozialer Milieus; zwischen Menschen unterschiedlicher Generationen, oder auch zwischen „digital Natives“ und den „Analogen“.

Lesetipp: Birgit Mandel, „Interkulturelles Audience Development. Zukunftsstrategien für öffentlich geförderte Kultureinrichtungen" (unter Mitarbeit von Melanie Redlberger), transcript Verlag, 2013, 254 S., kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2421-2. Rezensionsexemplar und Kontakt: Isa Lange (05121.883-102 und 0177.8605905, presse@uni-hildesheim.de).

Leseprobe online (PDF)

Deutschlandfunk, Kultur heute, „Kulturinstitutionen öffnen, neue Zielgruppen erschließen - Die Ergebnisse eines Modellprojekts zum Interkulturellen Audience Developement im Ruhrgebiet wurden in Gelsenkirchen vorgestellt, Birgit Mandel, Professorin für Kulturvermittlung an der Universität Hildesheim, im Gespräch mit Dina Netz", 20.09.2013


Birgit Mandel, Professorin für Kulturmanagement an der Uni Hildesheim, hat große Kultureinrichtungen untersucht. Alte Programme, neues Publikum - das geht nicht auf. Modellprojekte in Nordrhein-Westfalen gehen neue Wege. Mädchen mit Megafon: Eine Szene aus „Crash Test Nordstadt“: Das Schauspiel Dortmund bringt einen Stadtteil mit dem bürgerlichen Stammpublikum des Theaters zusammen. Foto: Buchcover transcript Verlag, Birgit Hupfeld

Birgit Mandel, Professorin für Kulturmanagement an der Uni Hildesheim, hat große Kultureinrichtungen untersucht. Alte Programme, neues Publikum – das geht nicht auf. Modellprojekte in Nordrhein-Westfalen gehen neue Wege. Mädchen mit Megafon: Eine Szene aus „Crash Test Nordstadt“: Das Schauspiel Dortmund bringt einen Stadtteil mit dem bürgerlichen Stammpublikum des Theaters zusammen. Foto: Buchcover transcript Verlag, Birgit Hupfeld

Birgit Mandel, Professorin für Kulturmanagement, untersucht Kultureinrichtungen. Alte Programme, neues Publikum – das geht nicht auf. Nordrhein-Westfalen geht neue Wege. Mädchen mit Megafon: Eine Szene aus „Crash Test Nordstadt“: Das Schauspiel Dortmund bringt einen Stadtteil mit dem bürgerlichen Stammpublikum des Theaters zusammen. Foto: Buchcover transcript Verlag, Birgit Hupfeld