Mit 86 auf dem Campus

jeudi, 20. octobre 2016 um 15:00 Uhr

30 Jahre Gasthörerstudium an der Universität Hildesheim: Wenn Edith Dörrie ein Seminar in der 3. Etage am Uni-Campus besucht, lässt sie den Fahrstuhl links liegen und greift zu ihrem Gehstock. „Wenn ich in der Universität bin, bin ich gesund“, sagt die 86-Jährige. Die Universität sei für viele „eine Informationsquelle, in der nicht veraltetes Wissen, sondern das aktuellste Wissen weitergegeben wird“, sagt Carola Iller, Professorin für Weiterbildung.

Wenn Edith Dörrie ein Seminar in der 3. Etage am Uni-Hauptcampus besucht, lässt sie den Fahrstuhl links liegen und greift zu ihrem Gehstock. „Ich nehme die Treppe. Ich bleibe jung“, sagt die 86-Jährige. „Auf der Straße bin ich nichts, eine alte Frau mit Brille. Beim Arzt bin ich eine Nummer, die Kranke mit den schlechten Augen. Hier in der Universität, hier bin ich ein Mensch und kann lernen. Die Universität ist ein Jungbrunnen. Wenn ich hier oben auf der Marienburger Höhe bin, bin ich gesund“, sagt Edith Dörrie während sie aus dem Fenster des Seminarraumes blickt.

Einmal in der Woche geht Edith Dörrie zur Vorlesung – Geschichte und Politik – neulich diskutierte sie über die Bundeskanzler. „Es geht immer weiter. Mich interessieren die Themen aus den Jahrhunderten. Hat man mit einem abgeschlossen, steht schon das nächste im Vorlesungsprogramm.“

„Oma, du bist Zeitzeugin“, erinnert sich Dörrie an die Worte ihres Enkels. „Du warst für uns da, jetzt tu etwas für dich. Weißt du was du machen kannst? Du kannst zur Uni gehen.“ Die ersten Jahre habe sie in jeder Vorlesung mitgeschrieben, nun machen ihre Augen nicht mehr mit und das Alter mache sich bemerkbar. Ihre Krankheit und eine Augenoperation können sie nicht am Lerneifer hindern. „Soll ich zu Hause bleiben, den ganzen Tag im Bett liegen? Ich gebe mich nicht damit zufrieden, dann habe ich ja nichts mehr. Die Universität füllt meinen Tag aus. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich gehen möchte.“ Sie wolle „am Ball bleiben“. Edith Dörrie hat in ihren 86 Lebensjahren „das Schlimme überwunden“, den Zweiten Weltkrieg überlebt, eine „prägende Erfahrung“. In ihrer Familie war die Uni und Ausbildung „kein Thema“. „Es ging um das Überleben, das kann sich keiner vorstellen. Wir haben Kartoffeln nachgehakt und Bucheckern gesammelt. Ich habe gelernt, mit wenig auszukommen und trotzdem zufrieden zu sein.“ Luxus sei nicht ihr Ding, es gebe andere wichtige Werte – ihre 300 Bücher, das Wissen im Hörsaal und Musik. „Musik ist Medizin, ich tanze gerne.“

„Mit dem Gasthörerstudium öffnet die Universität ihre Lehre für Interessierte aus der Stadt und der Region“, sagt Carola Iller, Professorin für Weiterbildung an der Universität Hildesheim. Die Gasthörerinnen und Gasthörer sind zwischen 21 und 90 Jahre alt. Sie können „reinhören in die Wissenschaft“, so Iller. Die Universität sei für viele „eine Informationsquelle, in der nicht veraltetes Wissen, sondern das aktuellste Wissen weitergegeben wird“.

Das Gasthörerstudium in Hildesheim besteht seit 30 Jahren. Pro Semester starten zwischen 100 bis 160 Gasthörerinnen und Gasthörer in die Vorlesungszeit, davon sind rund 80 Prozent über 60 Jahre. Unter ihnen: Senioren, Frührentner, jemand, der die Zeit der Arbeitslosigkeit überbrückt. „Die älteste Gasthörerin an der Universität Hildesheim war knapp über 90. Sie hatte auch noch an unserem Computer- und Internetkurs für Gasthörende teilgenommen“, erinnert sich Kathrin Vornkahl. Gemeinsam mit Ursula Ullrich koordiniert sie die Anfragen von interessierten Bürgern aus der Stadt. Der älteste Gasthörer im aktuellen Wintersemester ist 87 Jahre und besucht, gemeinsam mit seiner 75-jährigen Frau die Geschichtsvorlesung von Professor Michael Gehler.

Gasthörer können sich aus den Vorlesungen und Seminaren ihr individuelles Studienprogramm zusammenstellen. „Wir verzichten auf Reglementierungen. Interessierte können sich aus dem gesamten Lehrangebot die Veranstaltungen aussuchen, die sie für ihre individuelle Weiterbildung nutzen möchten. Sie erhalten Einblicke in Forschung und Lehre und arbeiten gemeinsam mit Studierenden in Vorlesungen und Seminaren zusammen“ so Vornkahl. Seit Frühjahr 2015 gehen junge Erwachsene, die geflohen sind, zur Universität und bereiten sich auf ein Studium vor. Das Gasthörerstudium ist eine Chance, die deutsche Sprache und Wissenschaftssprache zu lernen und die Verbindung zum Uni-Alltag aufzubauen.

„Zwischen den Generationen zu lernen, das ergibt sich nicht zufällig. Wir können den Dialog zwischen Jüngeren und Älteren hochschuldidaktisch fördern und fordern, damit es nicht zu Konflikten kommt“, sagt Carola Iller. Die Bereitschaft der Lehrenden sei wichtig, damit „intergeneratives Lernen“ gelingt. „Wenn Ältere sich mit ihren Berufserfahrungen zu Wort melden, kann das sehr wertvoll für das Seminar sein, aber es muss auch eingeordnet, diskutiert werden“, sagt Iller.

Ein Tag auf dem Uni-Campus: Nachgefragt bei Hans-Joachim Holz

Hans-Joachim Holz kopiert Bücher in der Universitätsbibliothek, sucht online nach passenden Vorlesungen, trifft sich mit Kommilitonen, um ein Referat vorzubereiten. Er trägt einen grünen Kapuzenpullover. Wie andere Studentinnen und Studenten auch. Hans-Joachim Holz ist bloß 50 Jahre älter als die meisten Studierenden auf dem Campus.

Hans-Joachim Holz fährt seit acht Jahren zwei bis drei Mal in der Woche etwa 40 Kilometer mit dem Auto nach Hildesheim. Nach 30 Jahren als Grundschullehrer in Bad Gandersheim geht er nun wieder zur Universität. Der 72-Jährige wählt die Fächer Geschichte, Soziologie, Philosophie und Politik, etwa die Vorlesungsreihe „Europagespräche“ von Professor Michael Gehler, Experte für europäische Geschichte. „Im Sommersemester habe ich das Seminar über Vergangenheit und Gegenwart und ein Ethik-Seminar über Gerechtigkeit besucht. Im Wintersemester steht ein Seminar über die Rolle von Frauen während der Reformation im 16./17. Jahrhundert auf meinem Wochenplan. Außerdem ein Seminar über Tierethik sowie Migration in Deutschland“, sagt Holz.

Das Studium biete eine Möglichkeit, „nach dem Berufsleben nicht von 100 auf 0 zu fallen“. „Es ist ein Geben und Nehmen und schön, mit den jungen Leuten gemeinsam zu arbeiten, ich mache auch in Referaten und Gruppenarbeiten mit, eigentlich nehme ich alles mit, was zum Studium gehört, nur Klausuren schreibe ich nicht mehr.“ Er möchte niemandem einen Platz wegnehmen, sagt Holz.

Festakt – 30 Jahre Gasthörendenstudium

Das Gasthörerstudium in Hildesheim besteht seit 30 Jahren. Während eines Festakts am Donnerstag, 20. Oktober 2016, hält Franz Müntefering, Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen, Bundesminister a.D. und Vizekanzler a.D., den Festvortrag (um 18:00 Uhr am Uni-Hauptcampus).

Kontakt: Wer sich für das Gasthörerstudium interessiert, kann sich bei Kathrin Vornkahl und Ursula Ullrich anmelden (Telefon 05121.883-92606 und 05121.883-92600). Weitere Informationen finden Sie online.


Hans-Joachim Holz und Edith Dörrie im Seminarraum, Hörsaal und während der Recherche in der Universitätsbibliothek. Professorin Carola Iller forscht im Bereich Weiterbildung. Fotos: Isa Lange/Uni Hildesheim

Hans-Joachim Holz und Edith Dörrie im Seminarraum, Hörsaal und während der Recherche in der Universitätsbibliothek. Professorin Carola Iller forscht im Bereich Weiterbildung. Fotos: Isa Lange/Uni Hildesheim