Kontrastive Kulturkomparatistik in Hildesheim und Tokio

mardi, 02. janvier 2007 um 15:46 Uhr

Neuer Forschungsschwerpunkt in der Philosophie

Wenn wir Kulturen miteinander vergleichen, dann setzen wir in der Regel eigene Maßstäbe an. Wir bestimmen dann, was sie gemeinsam haben und was sie unterscheidet - aus unserer Sicht. Wer aber könnte mit Bestimmtheit sagen, was 'deutsch', was 'europäisch', was 'westlich' ist? Ganz zu schweigen von  'deutscher Kultur' im Ganzen.

Trotz dieser Definitionsprobleme vergleichen wir ständig, und das ist nur natürlich. Wer einmal im Ausland gelebt hat, weiß, dass dort vieles anders aussieht als bei uns, dass vieles anders läuft, als er oder sie es gewohnt sein mag, dass manches einfach anders ist. Unabhängig von solchen Erfahrungen, die jeder machen kann, ist der Kulturvergleich Gegenstand verschiedener Wissenschaftsdisziplinen. Seit Mitte der achtziger Jahre findet zu diesem Thema ein intensiver Austausch zwischen dem Hildesheimer Philosophie-Professor Dr. Tilman Borsche und seinem Kollegen Professor Dr. Teruaki Takahashi aus Tokio statt.

Mit der Planung eines Hildesheimer Forschungsschwerpunkts "Interkulturelle Philosophie" soll die Zusammenarbeit weiter intensiviert werden. Die Notwendigkeit des forschungsbasierten Kulturvergleichs zwischen Japan und Deutschland ist unbestritten. Das bestätigt Professor Borsche nach seiner Rückkehr aus Japan, wo er an einer Tagung zu theoretischen Problemen des Vergleichens und zu vergleichenden Fallstudien in den Bereichen Philosophie, Literaturwissenschaft, Sprachwissenschaft und Germanistik teilgenommen hat. Es handelte sich um die japanische Regionalkonferenz der Alexander von Humboldt-Stiftung, die Anfang September 2006 von Prof. Dr. Teruaki Takahashi an der Rikkyo-Universität (Tokio) organisiert wurde. Die renommierte Rikkyo-Universität ist eine anglikanische Gründung aus den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts und damit eine der relativ alten Privatuniversitäten im relativ jungen europäisch orientierten Bildungssystem des modernen Japan. Jedenfalls ist sie alt genug, um schon von den Zuwendungen dankbarer Alumni profitieren zu können. Das vor zehn Jahren erbaute, modern ausgestattete Konferenzgebäude auf dem Campus der Universität wurde beispielsweise aus ihren Mitteln errichtet.

Die Tagung stand unter dem etwas umständlich formulierten, aber treffenden Titel "Vergleich unter inter- und multikulturellem Aspekt: Theorie und Praxis aus japanischen Perspektiven." Zu den Teilnehmern zählten vor allem ehemalige und potentielle künftige japanische Humboldt-Stipendiaten aus den genannten Disziplinen. Hinzu kamen weitere japanische sowie in Japan ansässige deutsche Wissenschaftler. Eigens für die Tagung eingeladene Gäste aus Deutschland waren Prof. Dr. Tilman Borsche sowie Privatdozent Dr. Rolf Elberfeld aus Marburg, der als Philosoph und Japanologe auch ein Kenner asiatischer Philosophien ist. Mit großem Respekt berichtet Professor Borsche nach seiner Rückkehr, dass die gesamten Vorträge und Diskussionen der Tagung in deutscher Sprache gehalten wurden. Ein wenig Neid schwingt mit, wenn er feststellt, dass das Umgekehrte in Deutschland heute wohl nicht vorstellbar wäre. Grund genug also die Impulse der Tagung mit nach Deutschland zu nehmen. Zumal PD Dr. Elberfeld im Wintersemester 2006/07 einen ersten Lehrauftrag zum Thema: Kultur, Kulturen, Interkulturalität in Hildesheim wahrnimmt.

Die Runde der Tagungsteilnehmer. Im Zentrum der Nestor der japanischen Germanistik, Prof. Eijiro Iwasaki. Links daneben Prof. Tilman Borsche, Prof. Teruaki Takahashi und Dr. Rolf Elberfeld. Rechts Elmar Holenstein.

Forschungstangente zwischen Hildesheim und Tokio
Mitte der achtziger Jahre entstand erstmals ein Kontakt zwischen Professor Teruaki Takahashi und Dr. Tilman Borsche, seinerzeit Hochschulassistent am Philosophischen Seminar der Universität Bonn. Als Alexander von Humboldt-Stipendiat forschte Takahashi damals an der Universität Bonn über Lessing, Kant und Hölderlin. Seit dieser Zeit besteht eine inzwischen über zwanzigjährige Zusammenarbeit zwischen Hildesheim und Tokio. Man forscht gemeinsam über deutsche und japanische Themen und tauscht sich auf den Gebieten der Philosophie, Literatur- und Sprachwissenschaft aus. Hat die gemeinsame Arbeit einst mit der konkreten Lektüre und Interpretation japanischer Haikus begonnen, ist sie heute auf der Abstraktionsebene von Metatheorien der Kulturkomparatistik angekommen. Die Zusammenarbeit fand ihren bisherigen Höhepunkt in dem neuesten Werk von Professor Teruaki Takahashi, das eine interessante akademische Vorgeschichte hat. Wie es für Gelehrte seiner Generation in Japan üblich war, hatte Teruaki Takahashi in seiner erfolgreichen akademischen Laufbahn die Stufe der Promotion übersprungen. Erst sehr viel später, insbesondere seitdem er selbst zahlreiche Promotionen betreute, tauchte die Frage auf, ob das Versäumte nicht nachgeholt werden könnte. Das in dieser Absicht von ihm verfasste Werk "Japanische Germanistik auf dem Weg zu einer kontrastiven Kulturkomparatistik" wurde als Dissertation am Fachbereich Erziehungs- und Sozialwissenschaften der Universität Hildesheim angenommen und ist im vergangenen Sommer in einer reich bebilderten Ausgabe im Fink-Verlag erschienen (Teruaki Takahashi: Japanische Germanistik auf dem Weg zu einer kontrastiven Kulturkomparatistik. Geschichte, Theorie und Fallstudien, Wilhelm Fink Verlag, München 2006). Das so entstandene Buch ist keine Dissertation der gewöhnlichen Art, sondern eher die Summe eines ungewöhnlichen Gelehrtenlebens. Die Universität verfügt mit dieser Arbeit über eine außergewöhnliche Promotion. Der Titel benennt und der Text beschreibt auf indirekte Weise den paradigmatischen Lebensweg eines japanischen Germanisten der modernen Zeit nach der öffnung des Landes während der Meiji-Restauration. Der Leser erfährt diesen Weg als den windungsreichen Prozess einer Emanzipation auf der persönlichen, der nationalen und der disziplinären Ebene mit all den Schwierigkeiten, die solchen Prozessen eigen sind: Sackgassen und Durchbrüche, Phasen der Selbstpreisgabe und Phasen der Selbstfindung. Nicht ohne Selbstironie entstand auf diese Weise eine ungewöhnlich erfahrungsgesättigte wissenschaftshistorische Studie, die durch überraschende Wechsel von Fallstudien und kritischen Reflexionen den historischen Perspektivenwandel, den sie beschreibt, zugleich praktiziert.

"Interkulturelle Philosophie"
Und die Zusammenarbeit zwischen Hildesheim und Tokio geht weiter: Takahashi, der schon im Oktober 2003 auf Einladung von Professor Borsche an einer von der Fritz Thyssen Stiftung geförderten internationalen Herder-Tagung in der Villa Vigoni am Comer See teilnahm (Herder im Spiegel der Zeiten. Verwerfungen der Rezeptionsgeschichte und Chancen einer Relektüre, hrsg. v. Tilman Borsche, Wilhelm Fink Verlag, München 2006), hat weitere Kooperation zugesagt. Das könnte für die Hildesheimer Philosophie interessant und wichtig werden, wenn es darum geht, den Forschungsschwerpunkt "Interkulturelle Philosophie" an der Stiftung Universität Hildesheim auszubauen und künftig regelmäßig in die Lehre einzubringen. Anfänge dazu hat es mit einer Vorlesung von Professor Borsche über interkulturelle Philosophie im Wintersemester 2003/04 gegeben. Als diese einmal wegen einer auswärtigen Vortragsverpflichtung ausfallen musste, reiste Teruaki Takahashi, der sich zu Forschungszwecken gerade in Bonn aufhielt, nach Hildesheim und übernahm die Vertretung. Rubrik: Gastvortrag, Thema: japanische Philosophie. Soviel Flexibilität begeisterte - vor allem auch die Hörerinnen und Hörer. Weitere Gastveranstaltungen sind geplant, sowohl in Hildesheim als auch in Tokio, und diese dann nicht nur als Vertretung. Die Verbindung jedenfalls steht, und sie ist ausbaufähig, auch in andere Fächer hinein. Die Rikkyo-Universität empfiehlt sich zudem Studierenden aus Deutschland für ein Auslandssemester. Sie unterhält auf dieser Ebene bereits Kontakte zu anderen Universitäten. Ein Austauschprogramm mit der Universität Hildesheim ist also denkbar, selbst wenn ein solcher Austausch die geographischen Grenzen des Erasmus-Programms übersteigen würde. Die institutionelle Kreativität der Stiftungsuniversität wird an Lösungen arbeiten.