Eine Stadt auf Fotopapier

mardi, 10. décembre 2013 um 17:44 Uhr

Man stelle sich vor, das gesamte öffentliche Leben einer kleinen Stadt in Westdeutschland wurde fotografisch dokumentiert – von 1947 bis heute. Bisher unentdeckt. Nun wühlt Simon Schwinge, Kulturwissenschaftsabsolvent der Uni Hildesheim, in dem Archiv der Fotografen Püscher. Ein einzigartiger Fundus. Der Band „Eine Stadt auf Fotopapier“ erscheint in diesen Wochen im Fruehwerk Verlag – es ist die erste Publikation zum Nachlass. Eine Ausstellung in den Fagus-Werken gibt Einblicke in das Archiv.

Unentdeckt und nahezu unbekannt. Ohne Systematik – noch ist nicht klar, welche wertvollen Aufnahmen sich hinter den mehr als 80.000 Negativen verbergen. Rund 4000 sind gesichtet, digitalisiert, verschlagwortet. Und schon jetzt ist ersichtlich: es handelt sich um fünf Jahrzehnte Alltagsdokumentation. Das Material ist in erstaunlich gutem Zustand – obwohl es unter denkbar schlechten Bedingungen 50 Jahre auf Dachböden lagerte.

Die Fotografen Richard und Eberhard Püscher haben mit ihrer Kamera das Leben in Alfeld begleitet – von der Taufe bis zur Trauerfeier, ganze Familienbiografien, von 1947 bis 1994. Vater und Sohn sind ausgebildete Fotografen, kommen 1946 als Flüchtlinge aus Schlesien nach Niedersachsen. In einer Zeit, in der nicht alle Menschen einen Fotoapparat besitzen und das Fotohandy noch nicht erfunden ist, sind die Püschers immer dabei – in Schulklassen, beim Spielen auf der Straße, in Sportvereinen und Kirchen. Gruppen werden „auf Lucke" dirigiert, niemand ist verdeckt. Eberhard Püscher dokumentiert außerdem mehrere Pioniereinheiten der Bundeswehr in Holzminden und Höxter; so entdeckt man Bundeswehroffiziere bei Karnevalsfeiern in den 70ern als sowjetische Kosmonauten verkleidet. Soldaten tragen lange Haare, sind allesamt männlich.

Eine ganze Stadt auf Papier

„Vor uns liegt das Gedächtnis einer Stadt in Südniedersachsen, eine visuelle Chronik. Wir haben einige unerwartete Motive entdeckt, Reportagen von privaten und öffentlichen Festen und vom Leben in der Stadt“, sagt Simon Schwinge, wenn er die Türen zum Archiv öffnet. Während seines kulturwissenschaftlichen Studiums an der Universität Hildesheim mit dem Schwerpunkt Fotografie entdeckte er den Nachlass und gründete 2011 die Püscher-Gesellschaft. Die Universität Hildesheim selbst hat ihre Ursprünge in Alfeld, an der Pädagogischen Hochschule wurden vor 60 Jahren die ersten Lehrer ausgebildet. Auch hiervon existieren Aufnahmen. „Eine Stadt auf Fotopapier“ – so der Titel des Buches – ist die erste kommentierte Bestandsaufnahme zum Nachlass der Püschers.

„Die Püschers besuchten die Menschen für Portraitaufnahmen auch zu Hause, somit erhalten wir heute einen Einblick in ihre Wohnzimmer. Fotohistorisch sind das einzigartige Aufnahmen. Wenn man die Bilder von den 50ern bis in die 80er aneinanderlegt, springen Details ins Auge, die sich über die Jahre verändert haben – die Mode, die Haare, die Gestik, die Haltung. Und wir sehen Geschichte – von den Nachkriegsjahren, über die Zeit des Wirtschaftswunders bis zur Wende“, berichtet Ruben Pfizenmaier begeistert. Er hat an der Universität Hildesheim „Philosophie Künste Medien“ studiert, lebt in Berlin und betreut nun das Buchprojekt beim Verlag Fruehwerk. Der Hildesheimer Verlag wurde von Studierenden der Kulturwissenschaften und Angehörigen der HAWK-Fakultät Gestaltung gegründet und vernetzt junge Autoren, Buchgestalter, Fotografen, Kulturjournalisten und Künstler.

Die Geschichte ist alt, die Redaktion jung. Studierende aus dem Studiengang „Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus“ haben unter Leitung von Annett Gröschner und Simon Schwinge die Geschichten hinter den Bildern recherchiert – um den „bislang nahezu unbekannten Nachlass erstmals der Öffentlichkeit zugänglich zu machen“. HAWK-Studenten gestalten derzeit das Buch in dem ungewöhnlichen Format 180 x 320 mm, das die Fotografien der Püschers voll zur Geltung bringt. So ein Mammutvorhaben, vor allem die Sichtung und Archivierung der Bilder, benötigt Unterstützer. Der Verein für Heimatkunde Alfeld und alt-alfeld.de sind mit im Boot, die Püscher Gesellschaft wird von der Stiftung Niedersachsen, der Bürgerstiftung Alfeld, der Sparkasse und dem Landkreis Hildesheim gefördert.

Visuelle Chronik seit 1947 wird digitalisiert

Außerdem schreitet die Digitalisierung der Fotografien fort – ein aufwendiger Prozess. „Ein Archiv sollte möglichst ruhen und unter konstanten räumlichen wie klimatischen Bedingungen lagern. Mit der digitalen Erfassung können wir den wertvollen Bestand sichern“, sagt Simon Schwinge. Gefährdete Werkgruppen, etwa „die ganz alten Glasplattennegative aus den 40er Jahren“, werden umgelagert, gereinigt und in archivechtes Material verpackt. „Die Negative legen wir auf den Scanner und erstellen ein Digitalisat, das in eine Datenbank aufgenommen und verschlagwortet wird. Alle verfügbaren Informationen wie Aufnahmejahr, Datum, abgebildete Klasse oder Person und Aufnahmeort werden notiert“, beschreibt Schwinge. Auch Ehrenamtliche aus der Alfelder Bevölkerung sind an der Digitalisierung beteiligt. „Das Ausgangsmaterial ist nach jetzigem Wissensstand in einem überraschend guten Zustand, obwohl es von 1947 bis 2010 durchgängig auf Dachböden gelagert wurde.“ Vergleichbare Archive sind Simon Schwinge nicht bekannt. „Da Alfeld ein kleiner Ort ist und die Püschers mit ihren eigenen Marotten bekannt und beliebt waren, hatten sie Zugang zu allen Festen und Menschen. Vom Zugezogenen bis hin zum Fabrikdirektor – quer durch alle Schichten.“

Via Crowdfunding haben die Buchmacher zahlreiche Unterstützer für „Eine Stadt auf Fotopapier“ gefunden, die einen hochwertigen Druck ermöglichen (www.startnext.de/eine-stadt-auf-fotopapier). Das Buch soll im Dezember erscheinen. Interessierte können sich auch direkt an Ruben Pfizenmaier (E-Mail: r.pfizenmaier@fruehwerk-verlag.de) wenden. Vom 13. Dezember 2013 bis 28. Februar 2014 läuft die Ausstellung „Bitte aufmerken! Die Sammlung Püsche in Alfeld (Leine)" in den Räumen der Fagus-Werke in Alfeld, die seit 2011 zum Weltkulturerbe zählen. Diese Anweisung hörten Generationen von Alfeldern, bevor sie abgelichtet wurden.


Ein Seifenkistenrennen an der Dohnser Schule im Jahr 1958, fotografiert von Richard Püscher; eine Konfirmation in Alfeld am 24.04.1971, fotografiert von Eberhard Püscher, eine Privataufnahme des Vaters, fotografiert vom Sohn. Der Nachlass umfasst etwa 80.000 Negative. Ehrenamtliche aus der Alfelder Bevölkerung beteiligen sich an der Digitalisierung. Kreative Schreiber der Uni Hildesheim haben Geschichten hinter den Bildern recherchiert. Bildrechte: Sammlung Püscher/Alfeld Leine

Ein Seifenkistenrennen an der Dohnser Schule im Jahr 1958, fotografiert von Richard Püscher; eine Konfirmation in Alfeld am 24.04.1971, fotografiert von Eberhard Püscher, eine Privataufnahme des Vaters, fotografiert vom Sohn. Der Nachlass umfasst etwa 80.000 Negative. Ehrenamtliche aus der Alfelder Bevölkerung beteiligen sich an der Digitalisierung. Kreative Schreiber der Uni Hildesheim haben Geschichten hinter den Bildern recherchiert. Bildrechte: Sammlung Püscher/Alfeld Leine

Ein Seifenkistenrennen an der Dohnser Schule im Jahr 1958, eine Konfirmation in Alfeld am 24.04.1971, eine Aufnahme des Vaters. Kreative Schreiber der Uni Hildesheim haben Geschichten hinter den Bildern recherchiert. Bildrechte: Sammlung Püscher/Alfeld Leine

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