Dolmetschen vor 70 Jahren: O-Ton von Verbrechern übersetzen

lundi, 14. décembre 2015 um 08:30 Uhr

Zum ersten Mal in der Geschichte wurde bei den Nürnberger Prozessen in großem Umfang simultan gedolmetscht. So war es überhaupt erst möglich, dass Menschen aus unterschiedlichen Ländern der Gerichtsverhandlung folgen konnten. Doch die Arbeit der Dolmetscherinnen und Dolmetscher blieb bisher meist unsichtbar. Eine Arbeitsgruppe der Universitäten Hildesheim und Salamanca steuert dagegen: 70 Jahre nach der Verhandlung macht eine Ausstellung die Tätigkeiten sichtbar.

Am 20. November 1945 begann im Saal 600 im alten Nürnberger Gericht der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher des Zweiten Weltkriegs. Vor einem internationalen Gericht wurden sie für ihre Taten strafrechtlich zur Verantwortung gezogen (Info: Deutschlandfunk über die Nürnberger Prozesse). Die insgesamt etwa 70 Dolmetscherinnen und Dolmetscher, die ein Jahr lang die Worte von Tätern und Zeugen übersetzt haben, arbeiteten an den Grenzen der Belastbarkeit angesichts der Geschehnisse, die sie in Sprache fassen mussten.

Die Arbeit der Dolmetscherinnen und Dolmetscher blieb bisher meist unsichtbar – dabei waren sie unverzichtbar, damit Kriegsverbrechen vor einem internationalen Gerichtshof aufgeklärt und Täter zur Verantwortung gezogen werden konnten. Eine Ausstellung der Universitäten Hildesheim und Salamanca dokumentiert die Tätigkeit von Dolmetschern während der Nürnberger Prozesse 1945/46. Bis zum 17. Dezember 2015 ist die Ausstellung in Hildesheim täglich (Montag bis Freitag) geöffnet.

Erst durch die Arbeit der Dolmetscher war eine rasche Kommunikation zwischen Richtern, Anklägern und Verteidigern, Zeugen und Angeklagten möglich. „Während der Nürnberger Prozesse vollzog sich der Schritt vom konsekutiven, also zeitversetzten, zum simultanen Dolmetschen“, sagt Conchita Otero Moreno vom Institut für Übersetzungswissenschaft und Fachkommunikation der Universität Hildesheim. „Insgesamt wurde in etwa 218 Sitzungen simultan gedolmetscht, dies ist durch Aufnahmen belegt. Das Gerichtsverfahren wurde in den Sprachen Englisch, Russisch, Französisch und Deutsch geführt.“ „Die Nürnberger Prozesse sind ein historischer Meilenstein, sie sind gleichzeitig auch für unsere Fachgeschichte zentral: Zum ersten Mal weltweit wurde das Simultandolmetschen professionell und technisch gestützt eingesetzt. Die Dolmetscher bleiben dabei meist unsichtbar“, sagt die Wissenschaftlerin.

Lange Einarbeitungszeiten gab es nicht: Die Simultandolmetscher mussten sich „in kürzester Zeit auf die damals neue und revolutionäre Technik einstellen“, sagt Luise Heselhaus. Sie hat an der Universität Hildesheim „Internationale Kommunikation und Übersetzen“ studiert und mit Sarah Gizik die Texte für die Ausstellung vom Spanischen ins Deutsche übersetzt. „Teilweise wurden Dolmetscher direkt von den Universitäten geholt, was dann auf sie zukam, war eine echte Herausforderung“, so Heselhaus. Anders als heute waren die Dolmetscherkabinen damals noch offen. „Es handelte sich eher um Glasscheiben, die keine akustische Abschottung zu den Geräuschen des Gerichtssaals boten. So mussten die Dolmetscher versuchen, Hintergrundgeräusche auszublenden“, sagt Sarah Gizik. „Bei der Recherche war es für uns als Übersetzerinnen manchmal schwierig, die Fassung zu bewahren.“

Die Hildesheimer Ausstellung hebt auch die Rolle der Frau hervor, „die zum ersten Mal in diesem Beruf etwas repräsentativer wird“. „Etwa 20 Prozent betrug der Frauenanteil, in den russischen Teams sogar etwas mehr. Wir stützen unsere Angaben und die gezeigten Dokumente auf einige Biographien von russischen Dolmetscherinnen, etwa Tatjana Stupnikova“, so Otero.

Kurzinfo: Ausstellung „Die Dolmetscher in Nürnberg" in Hildesheim

Die Ausstellung „Die Dolmetscher in Nürnberg" gibt einen Einblick in die Tätigkeit der Dolmetscherinnen und Dolmetscher während der Nürnberger Prozesse vom 20. November 1945 bis 1. Oktober 1946. Unter anderem werden erstmals Bilder aus Privatarchiven der Nachfahren der damals tätigen Dolmetscherinnen und Dolmetscher gezeigt. Fachleute der Universidad de Salamanca (Spanien) und der Universität Hildesheim (Deutschland) haben die Ausstellung gemeinsam mit Studierenden der Übersetzungswissenschaft entwickelt. Sarah Gizik und Luise Heselhaus haben an der Universität Hildesheim „Internationale Kommunikation und Übersetzen“ studiert und Texte ins Deutsche übersetzt. Denn das Original der Ausstellung ist auf Spanisch. Die Eröffnung der Ausstellung fand am Mittwoch, 25. November 2015 statt. Nach einer Begrüßung durch das Dekanat und die Institutsleiterin, Professorin Bettina Kluge, gab Professor Jesús Baigorri (Salamanca) in englischer Sprache Einblicke in den Entstehungsprozess der Ausstellung und die Arbeit der Dolmetscher während der Nürnberger Prozesse. Anschließend besteht die Möglichkeit, an einem Rundgang teilzunehmen.

Die Ausstellung ist ein Ergebnis der jahrelangen Kooperation der Hildesheimer Übersetzungswissenschaftlerin Dr. Conchita Otero Moreno. Sie arbeitet seit acht Jahren mit Fachkollegen in  der internationalen Forschungsgruppe „Alfaqueque“ zusammen. Auch der Konferenzdolmetscher und Historiker Prof. Jesús Baigorri und die Konferenzdolmetscherin und Philosophin Prof. Icíar Alonso (Universidad de Salamanca), die derzeit als Gastwissenschaftler zum Forschungsaustausch in Hildesheim arbeiten, gehören mit weiteren Kollegen aus Bologna-Forlí und Temuco (Chile) diesem Netzwerk an. Sie befassen sich mit dem Berufsprofil „Dolmetschen“.

Wer mehr über das Thema erfahren möchte, kann Dr. Conchita Otero Moreno kontaktieren (E-Mail otero@uni-hildesheim.de, Telefon 05121.883-30936).

Die Ausstellung ist bis zum 17. Dezember 2015 an der Universität Hildesheim zu sehen und kostenfrei (Altbau, Bühler-Campus, Lüneburger Straße). Die Poster hängen im Flur und sind von Montag bis Freitag frei zugänglich. Zuvor hat die Ausstellung in Salamanca, Saragossa, La Rioja (Spanien) und in Doha (Katar) Station gemacht. 2016 zeigen die Wissenschaftler ihre Erkenntnisse unter anderem in Paris und in Luxemburg (im Europäischen Gerichtshof).

Lesetipp: NDR über die Dolmetscher-Ausstellung an der Universität Hildesheim / NDR-Interview mit Conchita Otero Moreno

Medienkontakt: Pressestelle Uni Hildesheim (Isa Lange, presse@uni-hildesheim.de, 05121.883-90100)


Professor Jesus Baigorri (Salamanca) erläutert in der Ausstellung „Die Dolmetscher in Nürnberg" an der Universität Hildesheim, wie Simultandolmetscher, Richter, Angeklagte und Zeugen vor 70 Jahren die Technik während der Gerichtsverhandlung verwendet haben. Erst durch die Arbeit der Dolmetscher war eine rasche Kommunikation möglich, sagt die Hildesheimer Übersetzungswissenschaftlerin Conchita Otero Moreno. Die Studentinnen Sarah Gizik und Luise Heselhaus haben die Ausstellung mitentwickelt. Foto: Isa Lange/Uni Hildesheim

Professor Jesus Baigorri (Salamanca) erläutert in der Ausstellung „Die Dolmetscher in Nürnberg" an der Universität Hildesheim, wie Simultandolmetscher, Richter, Angeklagte und Zeugen vor 70 Jahren die Technik während der Gerichtsverhandlung verwendet haben. Erst durch die Arbeit der Dolmetscher war eine rasche Kommunikation möglich, sagt die Hildesheimer Übersetzungswissenschaftlerin Conchita Otero Moreno. Die Studentinnen Sarah Gizik und Luise Heselhaus haben die Ausstellung mitentwickelt. Foto: Isa Lange/Uni Hildesheim