Digital - auch über die Vermittlung digitaler Inhalte hinaus: Welche Kompetenzen in der Lehrerbildung wichtig sind

mercredi, 02. décembre 2020 um 09:46 Uhr

Fernunterricht, Lehrvideos und die Frage, ob es "Digital Natives" überhaupt gibt: Interview mit Prof. Dr. Christof Wecker im Vorfeld der CeLeB-Tagung „Bildung in der digitalen Welt“ am 4. und 5. Dezember 2020.

Im Projekt Cu2RVE, das Sie gemeinsam mit Prof. Dr. Jürgen Menthe und Prof. Dr. Barbara Schmidt-Thieme leiten, geht es darum, wie digitale Kompetenzen im Lehramtsstudium verankert werden können. Was ist das Wichtigste, das angehende Lehrer mit Blick auf die Digitalisierung aus ihrem Studium mitnehmen sollten?

Da ist sicher mehr als eine Sache sehr wichtig. Zum einen müssen Lehrkräfte in der Lage sein, digitale Medien zu nutzen, um ihren Schülerinnen und Schülern Wissen und Fähigkeiten zu vermitteln. Das hat die Pandemie deutlich vor Augen geführt. Die angesprochenen Lernergebnisse müssen dabei gar nichts mit Digitalisierung zu tun haben, wenn etwa Verständnis für naturwissenschaftliche Gesetze beim Lernen mit Simulationen oder mathematische Fähigkeiten mit Hilfe von Erklärvideos gefördert werden. Zum anderen müssen Lehrkräfte ihren Schülerinnen und Schülern Fähigkeiten vermitteln können, die wir anknüpfend an die Strategie der Kultusministerkonferenz als „Kompetenzen in der digitalen Welt“ bezeichnen, also etwa im kritischen Umgang mit Informationen, in der Nutzung digitaler Technologien zur Präsentation von Inhalten oder zur Kommunikation und Zusammenarbeit mit anderen, oder auch im Nachdenken über die mit der Digitalisierung einhergehenden Veränderungen der Gesellschaft. Und natürlich müssen angehende Lehrkräfte über diese Kompetenzen in der digitalen Welt zuerst einmal selbst verfügen, bevor sie diese anderen vermitteln können.

 

Wenn ich so an meine eigenen Lehrer zurückdenke, da gab es einige, die man daran erinnern musste, beim Dia-Projektor den Spiegel hochzuklappen und die Videokassette erst zurückzuspulen. Inzwischen sind wir zwei oder drei Generationen weiter. Heutige Studienanfänger sind um die Jahrtausendwende geboren und gelten ohnehin als Digital Natives – wie erleben Sie denn deren Basisqualifikation zu Beginn des Studiums? Woran fehlt es noch?

Die weit verbreitete Auffassung, dass es inzwischen eine Generation von „digital natives“ gebe, die in der digitalen Welt aufgewachsen ist und sich in digitalen Medien daher wie ein Fisch im Wasser bewegt, wird durch wissenschaftliche Untersuchungen massiv in Frage gestellt und etwa von Paul Kirschner, einem internationalen führenden Lehr-Lern-Forscher, als „urbaner Mythos“ bezeichnet. Es gibt in Bezug auf die Kompetenzen in der digitalen Welt zwischen den Mitgliedern dieser Generation große Unterschiede, und selbst bei fitteren Personen ist das Kompetenzniveau nicht zwangsläufig über alle Kompetenzbereiche hinweg gleichmäßig hoch. Viele Mitglieder dieser Generation sind in der Kommunikation in sozialen Netzwerken sehr bewandert. Das schließt aber teilweise eklatante Lücken in so profanen, aber für das Studium und das spätere Berufsleben in der Regel viel wichtigeren Bereichen wie etwa in der Handhabung von Dateiformaten oder von Tabellenkalkulationssoftware nicht aus. Selbst beim Thema Video sehen wir häufig Defizite. Obwohl sich die vermeintlichen „digital natives“ laut den in vielen Medien verbreiteten Klischees angeblich ständig selbst filmen, müssen wir Themen wie Komprimierung oder Schnitt bei der Erstellung von Lernvideos eigens behandeln.

 

Die Corona-Pandemie bringt in Sachen Digitalisierung aktuell an den Schulen einiges in Bewegung.  Vielleicht bringen ja schon die nächsten Schulabsolventen-Jahrgänge ganz andere Voraussetzungen im Digitalen mit?

Die Erfahrungen der Studierenden aus der eigenen Schulzeit sind für uns häufig Segen und Fluch zugleich. Natürlich ist es hilfreich, wenn zukünftige Studierende manche Formen des Lernens mit digitalen Medien in der aktuellen Pandemie bereits kennengelernt haben. Gleichzeitig haben wir als Universität sehr damit zu kämpfen, dass Studierende etwa in den Schulpraktika die selbst erlebten Unterrichtsmuster häufig einfach nur reproduzieren. So ist Fortschritt nur schwer möglich.

Ein Teilprojekt von Cu2RVE befasst sich übrigens damit, die bereits vorhandenen Kompetenzen in der digitalen Welt der Studienanfängerinnen und -anfänger zu erfassen: Wir arbeiten an einer Eingangsdiagnostik, die im Rahmen eines zweiten Teilprojekts ermöglicht, am Anfang des Studiums im Sinne einer Basisqualifizierung passgenaue Angebote auf unterschiedlichen Niveaus für die verschiedenen Kompetenzbereiche zu machen. Das ist im Prinzip gar nicht lehramtsspezifisch, sondern ließe sich auch für andere Studiengänge nutzen. Die spezifischen pädagogischen und fachdidaktischen digitalisierungsbezogenen Kompetenzen, die Lehrkräfte benötigen, vermitteln wir dann später im Verlauf des Bachelor- und Master-Studiengangs.

 

Blicken wir mal auf die Lehrerinnen und Lehrer, die aktuell im Schuldienst tätig sind: Abgesehen von der technischen Ausstattung, woran fehlt es in der aktuellen Corona-Situation am meisten bei der Realisierung des Fern-Unterrichts?

Es war ja in den letzten Monaten häufig zu lesen, dass die Digitalisierung in den Schulen verschlafen worden sei. Dabei wird verkannt, dass die meisten Formen des Lernens mit digitalen Medien in Präsenzsituationen – und kaum jemand konnte sich bis vergangenen März Unterricht anders vorstellen – nicht ohne Weiteres funktionieren, wenn die Schülerinnen und Schüler zuhause bleiben müssen. Wer in Zweiergruppen im Klassenzimmer das Recherchieren im Internet übt, benutzt dafür zwar vielleicht ein Tablet, aber keine Videokonferenz.

Schulschließungen oder Wechselbetrieb, deren Ausmaß sich derzeit ja in Grenzen hält, stellen ganz andere Anforderungen. Woran es dabei wirklich mangelt, sind gute Ideen dafür, Schülerinnen und Schülern etwas Neues beizubringen, auch wenn sie zuhause sitzen. Erklärvideos können dabei eine wichtige Rolle spielen, vor allem wenn es gelingt, sie mit Anwendungs- und Übungsaufgaben zu verbinden, bei denen die Schülerinnen und Schüler hilfreiche Unterstützung und Rückmeldungen erhalten. Genau daran haben wir im letzten Durchgang des Allgemeinen Schulpraktikums mit denjenigen Studierenden gearbeitet, die das Praktikum nicht in Präsenz an einer Schule absolvieren konnten.

Viel zu lange war dagegen zu hören und zu lesen, dass man die Situation zur Wiederholung und Festigung des bereits Gelernten nutzen könne. So wichtig die Konsolidierung von Wissen und Fähigkeiten ist und so sehr diese sonst oft vernachlässigt wird – nach Wochen und Monaten ist es damit auch mal genug. Wenn die nächste PISA-Erhebung nicht drastische Lernrückstände aufzeigen soll, muss auch im Fall von Schulschließungen und Wechselbetrieb Neues gelernt werden können.

 

Eigentlich ist Fern-Unterricht ja alles andere als neu. In Australien gab es schon in den 80er-Jahren für die Kinder aus weit abgelegenen Regionen Unterricht über den Fernseher. Warum tut sich ein hochentwickeltes Land wie Deutschland mit diesem Thema generell so schwer?

Weil diese Form des Unterrichts vor der Pandemie nicht nötig war. Deshalb dominiert ein bestimmtes Bild davon, wie Unterricht auszusehen hat. Und das sieht eben vor, dass er in einem Klassenzimmer stattfindet. Das ist aber ein reines Oberflächenmerkmal. Betrachtet man dagegen die Tiefenebene, also die Frage, was aus lernpsychologischer Sicht in den Köpfen der Schülerinnen und Schüler passieren muss, damit erfolgreich gelernt wird, gibt es zwischen den verschiedenen Settings gar keinen Unterschied. Die Grundprinzipien des Erwerbs von Wissen und Fähigkeiten bleiben gleich, unabhängig von Situationen und Technologien.

Dieser Punkt ist übrigens für das Thema Digitalisierung in der Lehrerausbildung absolut zentral: Die „Neuen Medien“ von heute sind die alten Medien von morgen. Nur wenn es uns gelingt, anhand der jeweils aktuellen Technologien zu vermitteln, worauf es beim Lernen wirklich ankommt, haben Lehrkräfte in ihrem hoffentlich langen Berufsleben eine Chance, die jeweils nächsten „Neuen Medien“ lernförderlich einzusetzen. Dieses Thema greifen wir auch im Rahmen der Tagung auf.

 

Eignen sich digitale Unterrichtsformate grundsätzlich für alle Altersstufen und alle Fächer?

Ich sehe einen größeren Unterschied zwischen den Fächern als zwischen den Altersgruppen. Die gerade erwähnten lernpsychologischen Grundprinzipien sind nicht so sehr altersabhängig, sie bleiben relativ konstant. Unterschiedliche Arten von Inhalten dagegen erfordern zumeist andere Herangehensweisen. Deshalb setzen wir in Cu2RVE auch auf fachspezifische Unterrichtskonzepte – und loten dennoch aus, was sich zwischen Fächern übertragen lässt.

 

Meine letzte Frage ist ein bisschen ketzerisch: Was glauben Sie, wie lange es noch dauern wird, bis Grundschüler gar nicht mehr lernen, mit der Hand zu schreiben?

Das weiß ich natürlich nicht, aber ich hoffe, dass es erst dann der Fall sein wird, wenn wir so weit sind, dass die Schülerinnen und Schüler über andere Möglichkeiten verfügen, sich Dinge zu notieren. Wenn Schülerinnen und Schüler lernen, so schnell zu tippen, wie sie mit der Hand schreiben, könnte man zumindest darüber nachdenken – wobei Forschungsergebnisse die darauf hindeuten, dass man beim Aufschreiben mit der Hand mehr lernt als beim Tippen auf dem Rechner. Und Lösungen wie die Eingabe per Spracherkennung sind in einem Klassenzimmer ja eher schlecht vorstellbar, weil dabei fünfundzwanzig Schülerinnen und Schüler durcheinandersprechen würden. Auch das reine Abspeichern von Tafelbildern als fertige Dateien ist kein brauchbarer Ersatz dafür, etwas selbst aufzuschreiben. Diese Form von „Habenwollen“ wird schon im Faust karikiert: „Was man schwarz auf weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen.“ Die meisten Lerninhalte müssen trotz Google und immer billigerem Speicherplatz in den Kopf, nicht auf die Festplatte.

Interview: Sara Reinke

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Prof. Dr. Christof Wecker lehrt und forscht unter anderem zu Unterrichtsmethoden unter Einbeziehung digitaler Medien. Zusammen mit Prof. Dr. Barbara Schmidt-Thieme und Prof. Dr. Jürgen Menthe leitet er das Projekt „Cumulativer und curricular vernetzter Aufbau digitalisierungsbezogener Kompetenzen zukünftiger Lehrkräfte“ (Cu2RVE).

Informationen zur digitalen CeLeB-Tagung „Bildung in der digitalen Welt“ am 4. und 5. Dezember 2020 gibt es hier.