Die Welt als Bühne: Freies Theater in Europa

lundi, 30. novembre 2015 um 14:50 Uhr

Über die Lage des Freien Theaters in Deutschland und Europa diskutieren Fachleute auf einer Konferenz an der Universität Hildesheim. „Bisher ist es kulturpolitisch nicht gelungen, freies und institutionelles Theater zu einer Theaterlandschaft weiterzuentwickeln“, sagt Professor Wolfgang Schneider. Theaterkünslter seien „Botschafter einer europäischen Idee des permanenten Dialogs“.

„Das Besondere des freien Theaters in Europa ist, dass es in vielen Ländern eine gesellschaftspolitische Rolle spielt und zur Verbreitung sowie Vermittlung der Darstellenden Künste beiträgt. In Dänemark, Belgien und osteuropäischen Ländern wie Kroatien und Serbien zum Beispiel erreicht das freie Theater die meisten Menschen“, sagt Wolfgang Schneider, Professor für Kulturpolitik an der Universität Hildesheim.

Blickt man auf die Lage in Deutschland so stehen etwa 150 Stadt- und Staatstheater den rund 1000 freien Theatern gegenüber. „Wir haben ein Parallelsystem. Freies Theater wird in erster Linie über Projektförderung öffentlich unterstützt. Wir beobachten auch die zunehmende Förderung von Gastspielen und Festivals. Es gibt Beziehungen untereinander, aber so recht ist es kulturpolitisch nicht gelungen, freies und institutionelles Theater zu einer Theaterlandschaft weiterzuentwickeln.“ Zwar entstehen Kooperationen, die zum Beispiel im Programm „Doppelpass“ durch die Bundeskulturstiftung gefördert werden, aber die Erfahrung nach fünf Jahren zeige, dass die Zusammenarbeit zwischen freien Gruppen und Stadttheatern „nicht genug nachhaltig ist“.

„Die Vermessung der dramatischen Welt hat noch nicht stattgefunden. Allzu oft sind es die großen Apparate, die die Lufthoheit in der Kulturpolitik geltend machen, all zu wenig wird ein Zusammendenken gepflegt oder gar ein Zusammentun ausprobiert“, sagt Schneider, der sich mit Kulturpolitik für das Theater befasst. Dabei habe die Enquête-Kommission „Kultur in Deutschland“ des Deutschen Bundestages schon 2007 in ihrem Abschlussbericht formuliert, dass sie Ländern und Kommunen empfiehlt, „regionale Theaterentwicklungsplanungen zu erstellen, mittelfristig umzusetzen und langfristig die Förderung auch darauf auszurichten, inwiefern die Theater, Kulturorchester und Opern auch Kulturvermittlung betreiben, um möglichst breite Schichten der Bevölkerung zu erreichen.“ (Deutscher Bundestag 2008). „Ausdrücklich wird auf die Vielfalt an Kooperationen, Netzwerken und Modellen hingewiesen, diese zu stärken“, so Schneider. „Die Kommunen klagen über klamme Kassen und kennen nur noch Kennzahlen, fordern Platzauslastung und kürzen künstlerische Etats – an den Strukturen ändern sie rein gar nichts.“

Professor Schneider versucht in der Lehre, etwa mit Veranstaltungen wie „Theater entwickeln und planen“ junge Kultur- und Theaterwissenschaftler dabei zu unterstützen, „mutig ihre Erkenntnisse von der Geschichte von Ästhetik und Dramaturgie der Darstellenden Künste in den Strukturen von Politik und Management der Theater zu überprüfen, zu diskutieren und zu bewerten“.

„Kaum eine der Künste ist so grenzüberschreitend organisiert wie das Theater“, sagt Wolfgang Schneider. Europa habe „durch das Theater zusammengefunden“, auch dank der Mobilität. „Aufführungen finden nicht nur an den Produktionsstätten statt, Aufführungen touren. In der Region, im Lande, im europäischen Ausland. Ein Prinzip des Theaters in Europa ist die Pflege des Gastspiels. Ich behaupte, die Theaterkünstler sind nicht nur Botschafter ihrer Geschichten, sie sind auch Botschafter von Zeitgeist und Diskursen, sie sind Botschafter einer europäischen Idee des permanenten Dialogs.“

Über die Lage des Freien Theaters in Deutschland und Europa diskutieren Fachleute auf der Konferenz „Independent Theatre in contemporary Europe: structures – aesthetics – cultural policy“ (Freies Theater im Europa der Gegenwart: Strukturen – Ästhetik – Kulturpolitik“), die am 2. Dezember 2015 eröffnet wird. Bis zum 4. Dezember tagen etwa 80 Fachleute aus Schweden, Ungarn, Österreich, Slowenien, Niederlande, Tschechien und Deutschland auf dem Kulturcampus Domäne Marienburg der Universität Hildesheim. Das deutsche Zentrum des Internationalen Theaterinstituts (ITI) und das Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim veranstalten die Konferenz. Die Konferenzsprache ist Englisch. Am Abend bringt die freie Hildesheimer Gruppe „Voll:milch“ die Performance „Refugee Homecare“ auf die Bühne. Sie zeigen, wie man gesellschaftliche Relevanz und sprachliche Vielfalt in Probenprozesse  und eine zeitgenössische Theaterproduktion einbinden kann. Gesprochen wird in Arabisch, Englisch und Deutsch.

„Oft steht das institutionalisierte Theater im Fokus“, so Wolfgang Schneider. Daher haben Arbeitsgruppen drei Jahre lang die Entwicklung des Freien Theaters in europäischen Ländern untersucht. Das Forschungsprojekt wird vom Doyen der deutschen Theaterwissenschaft, Professor Manfred Brauneck, geleitet und der italienisch-schweizerischen Balzan-Stiftung gefördert. Zu den Universitäten, die sich mit einzelnen Forschungsfragen befassen, gehört neben Berlin, Leipzig und Hamburg auch Hildesheim. Sie erfassen, wie sich das osteuropäische Theater, das Tanztheater, das Kinder- und Jugendtheater entwickelt. An der Teilstudie „Postmigrantisches Theater“ arbeitet die in Hildesheim promovierte Wissenschaftlerin Dr. Azadeh Sharifi.

Auf der Hildesheimer Konferenz stellen die Nachwuchswissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erstmals gemeinsam ihre Forschungsergebnisse vor und diskutieren sie mit Fachleuten der europäischen Theaterlandschaft. Die Studien werden in dem zweibändigen Werk „Das Freie Theater im Europa der Gegenwart" dokumentiert. Die deutsche und englische Fassung gibt einen umfassenden Überblick über die Formen und Strukturen des freien Theaters.

Die Konferenz bringt auch Fachleute von mehreren kulturwissenschaftlichen Instituten der Hildesheimer Universität zusammen: Professor Matthias Rebstock forscht über zeitgenössisches Musiktheater und Professorin Geesche Wartemann über Kinder- und Jugendtheater, Professor Jens Roselt befasst sich mit Ästhetik des zeitgenössischen Theaters, mit Probenprozessen und Räumen des Theaters. Henning Fülle, der in Hildesheim über das freie Theater in Deutschland vor kurzem promoviert hat, gibt in diesem Zusammenhang auch einen Einblick in das Forschungsvorhaben „Archiv des freien Theaters“. Dabei blicken Wissenschaftler vom Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim auf die Theatergeschichte zurück. Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, die Kunst- und Kulturministerien der Länder Baden-Württemberg, Brandenburg, Hamburg und Sachsen sowie die Stiftung Niedersachsen und weitere Projektträger, darunter der Bundesverband Freier Theater und der Dachverband Tanz, fördern seit 2015 eine Studie zum Bestandsüberblick über die Sammlungen und Materialien des Freien Theaters.

Konferenz:

Prof. Jens Roselt und Prof. Annemarie Matzke forschen über Proben im Theater. Foto: Andreas Hartmann

Die Konferenz „Independent Theatre in contemporary Europe“ findet vom 2. bis 4. Dezember 2015 an der Universität Hildesheim (Kulturcampus Domäne Marienburg, Domänenstraße, 31141 Hildesheim) statt. Das Programm findet man online. Die Konferenzsprache ist Englisch. Hildesheimer Studierende vom Institut für Kulturpolitik werden von der Konferenz auf www.theaterpolitik.de berichten.

Lesetipp: Auf dem Weg zu einer Theaterlandschaft

„Steppengesänge" wurde von Studierenden im Kollektiv erarbeitet. Foto: Körber-Stiftung/Krafft Angerer

Ein aktueller Beitrag „Auf dem Weg zu einer Theaterlandschaft: Kulturpolitische Überlegungen zur Förderung der Darstellenden Künste“ von Wolfgang Schneider erscheint in dem zweibändigen Werk „Das Freie Theater im Europa der Gegenwart“ (Bielefeld 2016). Der Hildesheimer Professor für Kulturpolitik äußert sich zu diesen Bereichen: Theater entwickeln und planen, Theaterkooperationen als europäische Impulse, Theater und Migration, Kindertheater und Jugendtheater, Theaterförderung im europäischen Vergleich, Theaterentwicklungsplanung als Modell, die Top Ten der Förderung des Freien Theaters. Er fordert: „Freies Theater braucht Kulturpolitik!".

Medienkontakt: Pressestelle der Uni Hildesheim (Isa Lange, presse@uni-hildesheim.de, 05121.883-90100)


Kaum eine der Künste sei so grenzüberschreitend organisiert wie das Theater“ sagt Wolfgang Schneider, Professor für Kulturpolitik an der Universität Hildesheim. In Hildesheim liegen Forschungsschwerpunkte unter anderem in den Bereichen zeitgenössisches Musiktheater, Jugendtheater, Probenprozesse und Räume des Theaters. Ein „Archiv des freien Theaters“ entsteht: Derzeit blicken Forscher auf die Theatergeschichte zurück. Probenbesuch bei der freien Theatergruppe „VOLL:MILCH": Theaterstudierende und weitere junge Erwachsene haben ein Stück über Isolation erarbeitet. „Wann ist freie Zeit einfach leer? Komik ist ein Mittel, um Isolation zu durchbrechen", sagt Katja Trachsel, die an der Uni Hildesheim Theater studiert. Fotos: Isa Lange/Uni Hildesheim

Kaum eine der Künste sei so grenzüberschreitend organisiert wie das Theater“ sagt Wolfgang Schneider, Professor für Kulturpolitik an der Universität Hildesheim. In Hildesheim liegen Forschungsschwerpunkte unter anderem in den Bereichen zeitgenössisches Musiktheater, Jugendtheater, Probenprozesse und Räume des Theaters. Ein „Archiv des freien Theaters“ entsteht: Derzeit blicken Forscher auf die Theatergeschichte zurück. Probenbesuch bei der freien Theatergruppe „VOLL:MILCH": Theaterstudierende und weitere junge Erwachsene haben ein Stück über Isolation erarbeitet. „Wann ist freie Zeit einfach leer? Komik ist ein Mittel, um Isolation zu durchbrechen", sagt Katja Trachsel, die an der Uni Hildesheim Theater studiert. Fotos: Isa Lange/Uni Hildesheim