Covid 19: Wie solidarisch kann eine Gesellschaft handeln? - Interview mit Politikwissenschaftlerin Prof. Marianne Kneuer

lundi, 22. février 2021 um 10:22 Uhr

Selbst zurückzustehen, um andere zu schützen – dazu ist in der aktuellen Pandemie nicht jeder gleichermaßen bereit. Wie gesellschaftliche Solidarität entsteht – und welche Rolle dabei entsprechende Appelle aus der Politik spielen – erforscht ein Team von Wissenschaftler*innen der Universität Hildesheim. Politikwissenschaftlerin Prof. Marianne Kneuer gibt im Interview Einblick in die multidisziplinäre Arbeit und Ausblicke über das Projekt hinaus.

Sie forschen zu der Frage, inwieweit Menschen in der aktuellen Pandemiesituation bereit sind, eigene Interessen zurückzustellen, um andere zu schützen. Wie kam es zu diesem Forschungsprojekt?  

Wir haben bei uns am Institut bereits seit zwei Jahren einen Schwerpunkt zur Solidaritätsforschung in der Migrationskrise. Im Rahmen des Forschungsverbunds mit Politikwissenschaftler*innen, Soziolog*innen und Informationswissenschaftlern aus Fachbereich 3, sind wir sehr vielfältig vernetzt. Aus diesem Netzwerk heraus entstand zu Beginn der Corona-Krise die Idee, unsere Forschung in diese Richtung auszuweiten. Mit Kolleg*innen des Leibniz Instituts GESIS konnte 2020 ein Verbund eingeworben werden im Rahmen der Covid-19 Förderung des BMBF. Da wir alle transdisziplinär zum Solidaritätsverhalten in Krisensituationen forschen, war es naheliegend, diese bisher völlig präzedenzlose Krise aufzugreifen.

Wie untersuchen Sie die Solidarität während der Corona-Pandemie?

Zum einen führen wir Meinungsumfragen durch und zwar in drei Wellen. Zum anderen untersuchen wir die Diskurse, die 2020 zu Covid-19 auf Twitter stattgefunden haben. Beide Datenquellen werden uns zu einem Bild verhelfen, wie Bürger*innen über Solidarität in dieser Krise denken, was sie antreibt, solidarisch oder nicht solidarisch zu sein.

Haben Sie bereits erste Ergebnisse in Ihrem Projekt gewonnen?

Die erste Meinungsumfrage, die wir im Ende November/Anfang Dezember 2020 durchgeführt haben, hat durchaus einige interessante Ergebnisse zu Tage gebracht. So etwa in Bezug auf das Vertrauen der Bürger*innen in unterschiedliche Institutionen oder Personen. Das höchste Vertrauen wird der Gruppe der Wissenschaftler*innen und dem Robert-Koch-Institut entgegengebracht. Sehr hoch ist auch das Vertrauen in staatliche Institutionen wie die Kommunen, die Gesundheitsämter, der Bundestag und die Bundesregierung. Das niedrigste Vertrauen genießen dagegen die Religionsgemeinschaften.

Unterscheidet sich solidarisches Verhalten gegenüber schwächeren oder schlechter gestellten Gruppen in einer Krisensituation vom Alltagsverhalten außerhalb von Krisenzeiten?

Ja, das ist auf jeden Fall so. Krisen werden sowohl von Politiker*innen und von Vertreter*innen sozialer Institutionen als auch von den Bürger*innen in Bezug auf solidarisches Verhalten anders wahrgenommen als normale Alltagssituationen. Wir haben in diesem Zusammenhang untersucht, welches Framing die Kanzlerin insbesondere zu Beginn der Corona-Krise benutzt hat, wie sie ihre Kommunikation ausgerichtet hat. Der Appell an die Solidarität und den Zusammenhalt in der Gesellschaft – verbunden mit dem Thema Gesundheitsschutz – hat dabei einen ganz hohen Stellenwert eingenommen.

Das Besondere an der Corona-Krise ist sicherlich, dass ihre Implikationen und ihr Fortgang völlig offen und von großen Unsicherheiten und Unwägbarkeiten geprägt sind. Da dient der Appell an die Solidarität nicht nur als kommunikatives Element, sondern es geht wirklich darum, das Gemeinwohl vor die individuellen Interessen zu stellen, etwa um die Kapazitäten des Gesundheitswesens nicht überzustrapazieren.

Zudem ist auch interessant, dass über zwei Drittel der Befragten in unserem survey angaben, Solidarität sei zu Anfang und zum Befragungszeitpunkt, also Ende November, ebenso wichtig. Das heißt, es lässt sich keine Solidaritätsmüdigkeit feststellen.

In der Migrationskrise hat Merkel mit dem Satz „Wir schaffen das“, der ja auch als Appell an die Solidarität zu verstehen ist, aber auch viel Gegenwind geerntet.

Der Unterschied zur Migrationskrise ist, dass wir es in der Pandemie wir es mit einer Situation zu tun haben, die die Gesellschaft als Ganzes unmittelbar bedroht. Es gab anfangs eine große Unsicherheit und Unberechenbarkeit, wie viele Menschen schwer erkranken und auch sterben würden. Das hat eine ganz andere Qualität als im September 2015, als die Kanzlerin verfügt hat, die Grenzen für eine bestimmte Anzahl von Flüchtlingen zu öffnen und dann den Satz „Wir schaffen das“ formuliert hat. Das geschah auch aus einer Notsituation heraus, aber eine unmittelbare Bedrohung für die Gesellschaft hat sich daraus nicht abgeleitet. Das war zu Beginn der Corona-Pandemie anders.

Was ist von Seiten der Bundesregierung während der Pandemie kommunikativ gut gelaufen, was hätte besser laufen können?

Was die Kommunikation angeht, hat sich die politische Führung in Deutschland von Beginn an sehr stark auf Expertenwissen gestützt – und damit auch ihre Maßnahmen begründet. Dass auch die Experten nicht immer richtig lagen und zum Beispiel anfangs das Tragen von Mund-Nasen-Schutz sogar von der WHO als nicht notwendig erachtet wurde, kann man nicht der Bundesregierung anlasten. Das wurde auch in der Bevölkerung nicht so gesehen: Das Vertrauen in die Bundesregierung ist im Laufe der Pandemie und der Krisenbewältigung signifikant gestiegen. Auch unsere Daten bestätigen dieses hohe Vertrauen. Was man ebenfalls beobachten konnte, war, dass die politisch Handelnden durchaus ihre eigenen Maßnahmen hinterfragt und nachjustiert hat. Zudem hat die Bundesregierung sehr früh auch viel in die Forschung investiert, und zwar nicht nur in die epidemiologische, sondern auch in die sozialwissenschaftliche, um die Folgen der Corona-Krise besser einordnen zu können. Darüber hinaus war es aber auch interessant, dass Kanzlerin Merkel neben wissenschaftsbasierten Entscheidungen und dem Appell an die Solidarität in ihrer Kommunikation mehr als man das von ihr zuvor gewohnt war auf das Element der Empathie gesetzt hat. Das war im internationalen Vergleich nicht überall gegeben.

Haben Sie Beispiele für die Krisenkommunikation in anderen Ländern und ihre Auswirkungen auf das gesellschaftliche Miteinander?

Geradezu konträr zum deutschen Vorgehen stand das Kommunikationsverhalten des kürzlich aus dem Amt geschiedenen US-Präsidenten Donald Trump. Er hat sich nicht nur überhaupt nicht für die Position der Wissenschaft interessiert, sondern deren Erkenntnisse sogar noch geleugnet und damit die compliance, die Bereitschaft zum Mitwirken an den von der Wissenschaft empfohlenen Maßnahmen, in der Bevölkerung heruntergesetzt. Seine Kommunikation war fatal für die gesellschaftliche Solidarität.

Andere Länder haben eher auf Kriegsrhetorik und aus dem Militärischen entlehnte Begrifflichkeiten im „Kampf gegen das Virus“ gesetzt, so etwa in Frankreich. In stärker autoritätsorientierten Kulturen werden politische Vorgaben zum Teil generell viel stärker respektiert. Eine Besonderheit in Japan ist es, dass der Staat rechtlich gesehen beispielsweise gar keine Maskenpflicht verordnen kann. Dennoch halten sich fast 100 Prozent der Bevölkerung an die diesbezügliche „Empfehlung“ der staatlichen Autorität. Ein anderer Aspekt bei der Kommunikation und Umsetzung von Maßnahmen ist das Ausmaß der Digitalisierung in einem Land. In Südkorea beispielsweise ist die Infektionsnachverfolgung über die stärkere digitale Vernetzung sehr viel einfacher. Hier ist die Nutzung dieser digitalen tools – etwa für das tracing der Kontakte - im Übrigen verpflichtend.

Blicken wir nochmal auf Deutschland: Würden Sie der Beobachtung zustimmen, dass das solidarische Bewusstsein in Teilen der Bevölkerung in den vergangenen Monaten deutlich zugenommen hat, in anderen Teilen zugleich aber vermehrt egoistische Tendenzen in den Vordergrund getreten sind? Welche dieser Gruppen hat aus Ihrer Sicht den größeren gesellschaftlichen Einfluss?

Ob sich Einzelne solidarischer oder weniger solidarisch verhalten, als sie es sonst getan hätten, kann ich natürlich nicht beurteilen. Aber ganz allgemein kann man sagen, dass es durchgehend seit Beginn der Krise allen Umfragen zufolge eine klare mehrheitliche Unterstützung für die Maßnahmen des Gesundheitsschutzes gibt. Rund 75 Prozent der Bürger*innen stehen hinter den Maßnahmen, nur 15, maximal 20 Prozent sprechen sich dagegen aus. Dass sich das in der öffentlichen Wahrnehmung nicht unbedingt widerspiegelt, hat damit zu tun, dass diejenigen, die die Maßnahmen unterstützen, schlichtweg weniger sichtbar sind und weniger mediale Aufmerksamkeit bekommen, als die sehr viel kleinere Gruppe derjenigen, die sich den Maßnahmen verweigern, bewusst keine Masken tragen oder sich als Corona-Leugner*innen oder Querdenker*innen bei Demonstrationen zeigen.  Wir sehen also eine laute Minderheit, die viel mediale Aufmerksamkeit bekommt, aber daneben steht eine leise Mehrheit, die die Vorgaben der Regierung mitträgt und, so kann man wohl unterstellen, auch selbst solidarisch handelt oder anderen hilft.

Unsere Befragung hat dies bestätigt: Die große Mehrheit der Befragten zeigt eine große Bereitschaft, Einschränkungen hinzunehmen, wenn diese der Eindämmung der Corona-Pandemie dienen. Und dies bezieht sich auf die Einschränkung persönlicher und politischer Freiheiten wie Reisen, persönliche Kontakte oder beschränkte Teilnehmerzahlen bei Demonstrationen ebenso wie auf die Tatsache, dass Steuermittel für Corona-Hilfen genutzt werden oder zur Ankurbelung der Konjunktur. Es zeigt sich zugleich auch, wo die empfindlichen Themen liegen: Einzelhandel, Schließung von Restaurants und Gastronomie. Sogar bei der Schließung von Kitas und Schulen waren es rund 50 Prozent, die erklärt haben, sie würden diese Maßnahmen mittragen.  

Zu Beginn der Corona-Zeit wurde das Einhalten von Maskenpflicht und Kontaktbeschränkungen vor allem als Solidaritätsleistung gegenüber sogenannten vulnerablen Gruppen propagiert, damit waren vor allem Ältere gemeint. Im Verlauf der Pandemie wurde deutlich, dass auch jüngere Personen schwer erkranken können, und dass das Maskentragen durchaus auch dem Eigenschutz dient. Fällt Solidarität leichter, wenn das entsprechende Verhalten auch eigene Vorteile bringt?

Solidarität, das konnten wir in unseren Untersuchungen zeigen, steht durchaus im Verhältnis zur Risikowahrnehmung. Wenn ich von einer Krise einen großen kollektiven Schaden erwarte für die Gesellschaft, für die Wirtschaft oder auch für mich selbst, richte ich meine Einstellung darauf aus. Und dann ist es durchaus so, dass die Allgemeinwohlorientierung die individuelle Autonomieerwartung übersteigt, dass man also eher bereit ist, eigene Bedürfnisse zurückzustellen, um diesen Schaden abzuwenden.

Auch hier hat unsere Befragung interessante Ergebnisse hervorgebracht. Nimmt man etwa die Motivation, eine Maske zu tragen, so ist der Selbstschutz dabei zwar erwartet wichtig (65 Prozent), noch wichtiger aber ist die Motivation, andere zu schützen (75 Prozent) und die Verbreitung des Virus zu verlangsamen (74 Prozent) – vor allem letzteres also ein Signal für eine starke Gemeinwohlorientierung.

Ist denn ein gemeinwohlorientiertes Verhalten, dass zugleich eigennützigen Motiven dient, überhaupt als Solidarität zu verstehen?

Wir definieren Solidarität in unserem Projekt als eine Bereitschaft, einen Beitrag zur Überwindung einer Widrigkeit zu leisten. Ob das uneigennützig geschieht (ich verhalte mich in jedem Fall so, egal, ob ich etwas zurückbekomme oder einen Mehrwert davon habe) oder ob dafür eine Gegenleistung erwartet wird (zum Beispiel: ich verhalte mich solidarisch, aber ich erwarte oder erhoffe mir, dass die anderen das dann auch tun, um mich zu schützen), ist dabei zunächst unerheblich. Grundsätzlich wäre das aber auch nicht verwerflich.

Kann man Solidarität erzwingen? Wie verhält es sich zum Beispiel mit der aus Steuermitteln finanzierten Unterstützung für Unternehmen, die durch die Corona-Pandemie wirtschaftliche Nachteile erleiden?

Wenn Sie unser wohlfahrtsstaatlich orientiertes Sozialsystem anschauen, von der Krankenkasse bis zur Arbeitslosenversicherung, dann beruht dieses System vom Grund her auf staatlich regulierter Solidarität. Steuern sind ein elementarer Bestandteil dieses Solidarsystems, deshalb weiß ich nicht, ob man von „erzwingen“ sprechen sollte. 

Man müsste vielleicht eher fragen: Inwieweit konkurriert solidarisches Verhalten mit anderen Zielen oder Werten wie demokratischen Freiheiten oder Wirtschaftswachstum? Anders gesagt: Wieviel Bereitschaft habe ich in der aktuellen Krise, meine diesbezüglichen Erwartungen an wirtschaftliches Wohlergehen und demokratische Rechte zurückzustellen zugunsten des Gesundheitsschutzes? Hier liegt ein klarer Zielkonflikt vor und ob das von den Bürger*innen auch wirklich so gesehen wird, und wie sie sich dazu verhalten, untersuchen wir in unserem Projekt.

Interview: Sara Reinke

Zum Hintergrund

Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Marianne Kneuer und ihr Team (Greta Jasser und Matthias Roche) erforschen seit Juli 2020 in dem BMBF-geförderten Projekt „Safe-19 – Solidarität in der Covid-19-Krise“  wie politische Entscheidungsträger und soziale Akteure über die Zielkonflikte zwischen Solidarität für den Gesundheitsschutz, Einschränkungen der Wirtschaft und der demokratischen Rechte kommunizieren und wie die Bürger*innen zu diesen schwierigen Güterabwägungen stehen. In der Analyse kommt ein multidisziplinärer Ansatz zum Tragen – unter anderem durch Umfragen und die Auswertung von Twitter-Beiträgen in Bezug auf Verhaltens- und Einstellungsänderungen über den Verlauf der Krise hinweg. Das Forschungsprojekt in Zusammenarbeit mit dem GESIS Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften läuft noch bis Dezember 2021.

 

 


Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Marianne Kneuer. Foto: Isa Lange