Bundesverfassungsgericht kippt das Betreuungsgeld

mercredi, 22. juillet 2015 um 19:40 Uhr

Das Bundesverfassungsgericht hat Dienstag entschieden: Wegen der fehlenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes für das Betreuungsgeld ist die Regelung nichtig. Nachgefragt bei Kirsten Scheiwe: Die Professorin der Universität Hildesheim beobachtet Entwicklungen im Familien- und Sozialrecht. Die Debatte verlagert sich in die Landespolitik, so Scheiwe.

Die Kompetenzfragen waren entscheidend für die Urteilsbegründung, sagt Kirsten Scheiwe, Professorin für Recht sozialer Dienstleistungen an der Universität Hildesheim. Das Bundesverfassungsgericht hat am Dienstag entschieden (Urteil vom 21.07.2015): „Dem Bundesgesetzgeber fehlt die Gesetzgebungskompetenz für das Betreuungsgeld.“

„Ob das Betreuungsgeld der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet dient, daran wurde schon während der Verhandlung stark gezweifelt. Aber nur wenn dadurch die Herstellung gleicher Lebensverhältnisse im Bundesgebiet erreicht werden sollte oder wenn die Rechts- und Wirtschaftseinheit in Deutschland ohne Betreuungsgeld gefährdet wäre, dann hätte der Bund die Gesetzgebungskompetenz für das Betreuungsgeld gehabt. Mit dem Urteil war nach den gezielten Fragen dazu in der Verhandlung zu rechnen“, sagt die Hildesheimer Professorin, die Entwicklungen im Sozial- und Familienrecht erforscht. Die Grundrechtsfragen, die vorher die Gemüter erhitzt haben, habe das Bundesverfassungsgericht kaum diskutiert. Der „sozialpolitische Gestaltungsspielraum“ sei dadurch auf Landesebene aber wieder offen. Bayern, Sachsen und Thüringen haben bereits ein Landesbetreuungsgeld eingeführt. „Die Debatte verlagert sich in die Landespolitik“, sagt Scheiwe.

Kirsten Scheiwe hat gemeinsam mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus den Disziplinen Erziehungswissenschaft, Medizin, Psychologie, Ökonomie, Rechtswissenschaft und Soziologie eine Stellungnahme verfasst, die auf ZEITonline veröffentlicht wurde. „Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts eröffnet die Möglichkeit, neu über das Betreuungsgeld nachzudenken und alternative Formen der finanziellen Unterstützung, der Betreuung, Erziehung und Bildung von Kindern zu erörtern“, heißt es in der Stellungnahme.

Die 24 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern fordern in dem ZEIT-Aufruf „Baut jetzt die Kitas aus!“, das Geld in öffentliche Kinderbetreuung zu stecken. Die Regierung des Landes Niedersachsen hat sich unmittelbar nach der Urteilsverkündigung am Dienstag geäußert und fordert, die für das Betreuungsgeld vorgesehenen Finanzmittel „unverzüglich den Ländern zuzuweisen“. Weiter heißt es: „In diesem Fall würde Niedersachsen das Geld zur Qualitätsverbesserung im Bereich der frühkindlichen Bildung nutzen.“ Der Streit über die Verwendung der freiwerdenden Mittel habe begonnen, so Scheiwe.

In der Stellungnahme beziehen sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auch auf die „Gesamtevaluation ehe- und familienpolitischer Leistungen“, aus dem Jahr 2014, die vom Bundesfamilienministerium und Bundesfinanzministerium in Auftrag gegeben wurde. Demnach gelingt es Deutschland im internationalen Vergleich trotz Ausgaben in Höhe von rund 200 Milliarden Euro im Jahr „nur begrenzt“, „die Sicherung der wirtschaftlichen Stabilität der Familien und die Vermeidung von Kinderarmut, die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die frühe Förderung von Kindern“ zu erreichen. Eine Maßnahme, nämlich die „öffentliche Subventionierung der Kindertagesbetreuung, also die finanzielle Unterstützung von Kinderkrippen, Kindergärten, Kindertagesstätten und Kindertagespflege“ würde diese familienpolitischen Ziele erfüllen. Daher kommen sie zum Schluss: „Mit Blick auf diese Forschungsergebnisse halten wir die Einführung des Betreuungsgeldes für falsch.“ Sie plädieren für eine „Aufwertung und Professionalisierung der Erziehungsberufe“. Auch die „wirtschaftlichen Anreize des Betreuungsgeldes“ halten sie für „problematisch“. Politik sollte stattdessen „eine enge Kooperation von Elternhaus und Einrichtungen fördern“.

Zu den Unterzeichnern der Stellungnahme gehören unter anderem auch Professor Klaus Hurrelmann von der Hertie School of Governance Berlin, Professorin Jutta Allmendinger vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Professor Michael Hüther vom Institut der deutschen Wirtschaft Köln und die Professoren Kirsten Scheiwe und Wolfgang Schröer von der Universität Hildesheim.

Die Einführung des Betreuungsgeldes, der Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz für Unter-Dreijährige oder die Arbeitsbedingungen für Hausangestellte: Professorin Kirsten Scheiwe beobachtet diese rechtlichen und sozialpolitischen Entwicklungen in Deutschland und im internationalen Vergleich. Thema ist auch, wie sich historisch die Institutionen der Förderung und Unterstützung in der frühen Kindheit seit dem 19. Jahrhundert verändert haben.

Sie erlebe häufig Verkürzungen und Simplifizierungen in der öffentlichen Debatte, so Scheiwe. Auf Twitter kursieren beispielsweise Hashtags wie „#Herdprämie“. Manuel Bewarder von der Zeitung DIE WELT twitterte daraufhin kurz vor der Urteilsverkündigung: „Jeder, der heute das Wort #Herdprämie benutzt, bekommt den Artikel von @robinalexander_ ausgedruckt und zugeschickt“ und verlinkt auf einen Artikel über den Begriff „Herdprämie“. „Das Betreuungsgeld wurde grob vereinfacht als Herdprämie bezeichnet, so einfach war es aber nicht.  Denn das Betreuungsgeld bekam auch, wer keine öffentlich geförderte Kinderbetreuung in Anspruch nahm – auch wenn die Oma oder ein Au-Pair sich um das Kind kümmerte. Genau hingucken ist wichtig. In Hildesheim geben wir Studierenden in der Sozial- und Organisationspädagogik rechtliche Kenntnisse mit auf ihren Berufsweg. Familienrecht, Sozialrecht, Kenntnisse über Sozialleistungen und die Kinder- und Jugendhilfe gehören zum Studium“, so Kirsten Scheiwe. Ihre Professur für Sozialrecht ist angedockt in den Erziehungs- und Sozialwissenschaften, nicht in den Rechtswissenschaften, das ist bundesweit besonders.

ZEITonline, Stellungnahme von 24 Wissenschaftler_innen aus Anlass des Urteils des Bundesverfassungsgerichts am 21. Juli 2015, „Wir halten die Einführung des Betreuungsgeldes für falsch“

Medienkontakt: Pressestelle der Universität Hildesheim (Isa Lange, presse@uni-hildesheim.de, 05121.883-90100)

 


Professorin Kirsten Scheiwe lehrt und forscht am Institut für Sozial- und Organisationspädagogik der Universität Hildesheim in den Bereichen Sozial- und Familienrecht. Foto: Isa Lange/Uni Hildesheim

Professorin Kirsten Scheiwe lehrt und forscht am Institut für Sozial- und Organisationspädagogik der Universität Hildesheim in den Bereichen Sozial- und Familienrecht. Foto: Isa Lange/Uni Hildesheim