Bloß neue Technik? Wie sich Kommunikationsformen verändern

mardi, 07. avril 2015 um 18:14 Uhr

Wie wir mit digitalen Medien umgehen: Sind Facebook, Twitter und Youtube bloß eine neue Technik oder ändern sich damit auch Formen der Kommunikation? Soziologen der Uni Hildesheim untersuchen, wie Medien genutzt werden: Sie beobachten Online-Kommunikation in Blogs und Foren – und offline-Debatten in Vereinen, an Fotoabenden und Stammtischen. Sie wollen erfahren, wann etwa „Selfies“ entstehen, warum man in politischen Live-Chats und auf Podien diskutiert oder wer Fotos (nicht) online teilt. Interessierte aus dem Raum Hildesheim, Hannover, Braunschweig, Göttingen können an der Studie teilnehmen.

Neulich war Michael Corsten mit seiner Familie in einer fremden Stadt. Mit dem Stadtplan in der Hand suchte er nach einem Restaurant. „Mein Sohn hat sein Smartphone rausgezückt, in der Nähe soll ein gutes Restaurant liegen. 35 gute Bewertungen ploppten auf“, erzählt der Soziologe der Universität Hildesheim. Sein Sohn setzt sich durch, die Familie lässt sich auf Empfehlungen von Usern ein, die ihnen unbekannt sind – das Essen war brillant. Das heimische Restaurant ist in keinem Stadtführer verzeichnet, obwohl es im Internet die meisten „Gefällt mir“-Klicks zählt. Ein simples Beispiel aus dem Alltag. „Wir müssen uns vor Augen halten, wie wirksam digitale Kommunikation ist. Jedwede Information – etwa über den letzten Restaurantbesuch – bleibt gespeichert und das verändert soziale Praktiken“, sagt der Professor für Soziologie.

„Wir untersuchen, wie sich Kommunikationsformen in der digitalen und nicht-digitalen Welt unterscheiden. Wie setzt man zum Beispiel ein Thema? Wie weckt man für ein Bild Interesse? Wie protestieren Menschen digital und auf der Straße, wie debattieren sie am Stammtisch oder im Blog über Fußball?“, zählt Michael Corsten auf. Er ist vor allem an den „Umschlagspunkten der Kommunikation“ interessiert, wie Themen gewechselt werden und jemand neue Punkte in eine Debatte einführt.

Ins Feld gehen: Beobachten, was in Debattierclubs, Blogs, Foren und an Stammtischen passiert

Gemeinsam mit den wissenschaftlichen Mitarbeitern Holger Herma, Laura Maleyka und Sascha Oswald möchte Michael Corsten in dem Forschungsprojekt „Digitale Verbreitungsmedien, Kommunikationsmacht und Generation“ herausfinden, wie verschiedene soziale Gruppen mit den neuen technischen Kommunikationsmitteln umgehen. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft fördert das Projekt mit etwa 250.000 Euro über drei Jahre. Verändert sich mit Facebook, Youtube, Twitter, Blogs und Co lediglich die technische Art der Kommunikation – oder auch die Formen der Kommunikation selbst? Um das herauszufinden gehen die Wissenschaftler ins Feld: Sie beobachten, was in Debattierclubs, Foto- und Filmvereinen, in Blogs, Foren und auch an Stammtischen passiert. Sie sammeln zum Beispiel, wie visuell dargestellte Ironie via „reddit“ verbreitet wird. Die anfangs kleine Gemeinschaft gilt mittlerweile als weltweit genutzte Plattform, die sich als „Startseite des Internets“ bezeichnet.

Die Hildesheimer Arbeitsgruppe geht davon aus, dass „jedes Medium Menschen über unterschiedliche technische Kanäle miteinander verbindet und so eigene Rahmenbedingungen für die Kommunikation setzt“. Ein Zeitschriftenartikel richtet sich über den Sehsinn von einem an viele, während das Telefon den Austausch von nur zwei Menschen über den Hörsinn ermöglicht. Wie stellt ein Chat nun Verknüpfungen zwischen Menschen her? Verlaufen Diskussionen in Foren und via Skype anders, als am städtischen Stammtisch und wie verändert sich dadurch ein Gespräch?

Die Forscherinnen und Forscher möchten in den nächsten drei Jahren mehr darüber erfahren, wie Medien genutzt werden. Dafür suchen sie derzeit Studienteilnehmer (siehe Aufruf unten). Wann entstehen „Selfies“? Wie unterhalten sich Menschen auf Facebook? Wie zeige ich meiner Familie meine Urlaubsfotos? Mit wem, wo und wie diskutiert man über gesellschaftliche und persönliche Themen? „Wir möchten mehr darüber erfahren, welche Generationen sich bestimmten Mediengattungen widmen“, sagt der Soziologe Holger Herma. „Es schafft Unterschiede, in welchem Alter man auf Medien trifft, sie als neuartig, als gewohnt oder als veraltet wahrnimmt, um sich zu informieren und zu kommunizieren. Wir beobachten, wie Menschen analog damit umgehen, zum Beispiel warum sich Menschen auch heute noch zu privaten Dia- oder Fotoabenden treffen, Bilder aber nicht online zirkulieren oder kommentieren lassen. Wir haben viele Fotokreise gefunden, die das Internet nur nutzen, um Termine unter sich zu vereinbaren. Anders verhält es sich mit politischen Live-Chats, wo von vorherein kein geschlossener Kreis gegeben ist“, so Herma.

Bei Podiumsdiskussionen ist ein Ende in Sicht – online ist unklar, wann Debatte endet

Was die Forscher zum Beispiel beobachten: Zeitungskolumnen, die in digitalen Foren in hoher Anzahl von Usern mit nicknames kommentiert werden. „Diese Art der Kommunikation mag dem ersten Eindruck zufolge unübersichtlich wirken, da sich Bezugs- und Anknüpfungspunkte anders ausbilden. Hierzu ein Ordnungssystem zu erstellen, gibt aber Aufschluss darüber, wie sich Kommunikation in digitalen Medien nach eigenen, oft neuartigen Gesetzlichkeiten vollzieht und reguliert", sagt Holger Herma.

Vieles laufe „im Analogen" anders ab: Bei Debatten in Vereinen oder bei einer Podiumsdiskussion ist zum Beispiel der Kreis der Mitwirkenden gesetzt. „Die Orientierung an Sachinhalten und die wechselseitige Bezugnahme ist gängigen Konventionen unterzogen – oder moderiert – und es ist deutlich, wann die Debatte zu Ende ist. Bei einem Thread ist es unklar, wann die Diskussion eigentlich zu Ende ist“, so der Forscher. Die Hildesheimer Arbeitsgruppe untersucht zurzeit intensiv solche Forendiskussionen und Debattierclubs. Die Forscher erfassen, wie um Publikumsgunst und Deutungshoheit gerungen wird und dabei auch Kämpfe um öffentliche Meinung ausgefochten – oder simuliert – werden.

Für manche sind E-Mails selbstverständlich – der Brief wird zur seltenen Sonderform

Außerdem will das Team von Michael Corsten erfahren, wie sich Nutzer die Technologien aneignen. Wie lernen sie mit dem Tablet oder dem Smartphone umzugehen, für welche Information und Kommunikation werden bestimmte Medientypen herangezogen oder absichtlich beiseite gelassen? Und wie binden sie die Technologien in ihren Alltag ein – vom Internetkaufhaus bis zum digitalen Navigationssystem?

Für manche ist das E-mailen selbstverständlich und das Verfassen eines Briefes wird zur seltenen Sonderform – der PISA-Sieger Finnland erwägt derzeit, dem Erlernen der Handschrift an Schulen einen nachrangigen Stellenwert zuzumessen. In Deutschland untersuchten Forscher jüngst die Feinmotorik von Grundschülern und ihre Schwierigkeiten, mit der Hand zu schreiben (dazu FAZ). Für wiederum andere sind E-Mail und sms bereits anachronistisch, sie nutzen Whatsapp und Co, andere Gattungen nehmen sie als randständig wahr.

In dem DFG-Forschungsprojekt untersuchen die Wissenschaftler aus Hildesheim auch, wie in sozialen Netzwerken und Foren Deutungshoheit und Weltauslegungen entstehen. Sie verwenden dafür den Begriff „Kommunikationsmacht“. Wer ist eigentlich berechtigt, einen Themenwechsel vorzunehmen? Laura Maleyka interessiert sich hierbei besonders für die Frage, wie Nutzer es schaffen „eine gegenläufige Meinung im Diskurs durchzusetzen“. Sie hat an der Hildesheimer Universität Internationales Informationsmanagement, Sprachwissenschaften, interkulturelle Kommunikation und Soziologie studiert. Ihre Abschlussarbeit hat Laura Maleyka über Online-Foren geschrieben – und am Beispiel der Brüderle-Debatte um Sexismus verglichen, wie Diskussion analog und digital stattfindet.

Online = anonymer, weniger sozial? Zu einfach. Anaolog und digital kann man nicht mehr scharf voneinander trennen

Was ist tatsächlich neu an den digitalen Medien? „Ich halte die Annahmen, dass die Kommunikation asynchroner, anonymer und weniger sozial verläuft, für vereinfacht. Ich finde es daher spannend, zu erfassen, was sich wirklich in der Kommunikation verändert hat. Das kann man herausfinden, wenn man bestimmte Kommunikationsformate miteinander vergleicht, analog und digital. Dann sieht man auch dass diese Unterscheidung oft nicht mehr trennscharf vorzunehmen ist. So werden etwa digitale Kommunikationspraktiken auch in die analoge Sprache übernommen, zum Beispiel ‚lol‘“, sagt Sascha Oswald, der in Konstanz Soziologie, Sprachwissenschaften und Neurolinguistik studiert hat. „Das Forschungsprojekt reizt mich, weil wir verschiedene Phänomene im Zusammenhang betrachten: Kommunikation, Macht und Technik.“

Professor Michael Corsten, Laura Maleyka und Sascha Oswald. Foto: Lange/Uni Hildesheim

Studie: Teilnehmerinnen und Teilnehmer gesucht

Informationen rund um das Projekt erhalten Interessierte bei den Soziologen und der Soziologin unter der E-Mail-Adresse digi-med[at]uni-hildesheim.de. Die Forscher würden sich über Kontakte zu Fotografen, Debattierclubs, Stammtische und Gesprächsrunden aus dem Raum Hildesheim, Hannover, Braunschweig, Göttingen freuen, die an dem Forschungsprojekt teilnehmen. Die Forscher interessieren sich auch an Menschen aller Altersgruppen und beiderlei Geschlechts, die über Ihre Beschäftigung mit Fotografien, Videos oder Debattier- und Diskussionskunst ins Gespräch kommen möchten. Die Teilnehmer müssten etwas Zeit mitbringen und den Forschern Einblicke in ihre Interessen und Freizeitbeschäftigung geben.

Auch Fotojournalisten gesucht

Ein Gespräch mit professionellen Fotografen aus dem journalistischen Bereich wäre ebenfalls sehr interessant für die Hildesheimer Forscher. Sie möchten zum Beispiel erfahren, ob, und wenn ja, worin, sich der Einsatz von Fotos im Online-Journalismus vom klassischen Journalismus unterscheidet. Führt Online-Journalismus auch zu Veränderungen der Herstellung von Fotos (etwa durch die unterschiedliche Wahl von Kameras, aber auch Perspektiven, Größen, Farbeinstellungen)? Gibt es verschiedene Strategien der Platzierung von Fotos (digital/analog)? Ist der Unterschied digital-analog wirklich so bedeutend? Oder spielen nicht gängige Differenzen (wie Format der Zeitung/Zeitschrift, Gattung: Boulevard, Wochenzeitung, Illustrierte) eine viel wichtigere Rolle?

Medienkontakt: Pressestelle der Universität Hildesheim (Isa Lange, presse[at]uni-hildesheim.de, 05121.883-90100)


Hinter dem Forscher-Selfie steckt ein mehrjähriges DFG-Projekt: Die Soziologinnen und Soziologen der Universität Hildesheim untersuchen, wie sich Kommunikationsformen im Internet und offline verändern. Dazu tauchen sie ins Netz ein, untersuchen offline-Debatten. Kein Ende in Sicht: „Bei einem Thread ist unklar, wann die Diskussion eigentlich zu Ende ist“, sagt Holger Herma über Diskussionen im Internet. Laura Maleyka, Sascha Oswald und Professor Michael Corsten untersuchen, wer berechtigt ist, ein Thema zu setzen und „Kommunikationsmacht" hat. Fotos: Isa Lange/Uni Hildesheim

Hinter dem Forscher-Selfie steckt ein mehrjähriges DFG-Projekt: Die Soziologinnen und Soziologen der Universität Hildesheim untersuchen, wie sich Kommunikationsformen im Internet und offline verändern. Dazu tauchen sie ins Netz ein, untersuchen offline-Debatten. Kein Ende in Sicht: „Bei einem Thread ist unklar, wann die Diskussion eigentlich zu Ende ist“, sagt Holger Herma über Diskussionen im Internet. Laura Maleyka, Sascha Oswald und Professor Michael Corsten untersuchen, wer berechtigt ist, ein Thema zu setzen und „Kommunikationsmacht" hat. Fotos: Isa Lange/Uni Hildesheim

Hinter dem Forscher-Selfie steckt ein mehrjähriges DFG-Projekt: Die Soziologinnen und Soziologen der Universität Hildesheim untersuchen, wie sich Kommunikationsformen im Internet und offline verändern. Dazu tauchen sie ins Netz ein, untersuchen offline-Debatten. Kein Ende in Sicht: „Bei einem Thread ist unklar, wann die Diskussion zu Ende ist“, sagt Holger Herma über Diskussionen im Internet. Laura Maleyka, Sascha Oswald und Prof. Michael Corsten untersuchen, wer berechtigt ist, ein Thema zu setzen und „Kommunikationsmacht" hat. Fotos: Isa Lange/Uni Hildesheim

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