Archive der Umwelt: Aus der Vergangenheit lernen

vendredi, 08. juillet 2016 um 17:55 Uhr

Auf Spurensuche – aus Sedimenten kann Juniorprofessor André Kirchner Umweltgeschichte rekonstruieren. In Hildesheim baut er ein Bodenproben-Archiv auf. Das Archiv enthält Informationen aus der Vergangenheit. Ein Besuch im Uni-Labor.

Es ist eine mühsame Tätigkeit und sie erinnert an die Suche nach einer Nadel im Heuhaufen. André Kirchner sammelt – nicht Bücher, Gemälde oder Musik, sondern Böden und Sedimente. Nicht jeden x-beliebigen Boden, doch dazu später mehr. In seinem Archiv reiht sich Sedimentprobe an Sedimentprobe, beschriftet und verpackt in durchsichtigen Tüten. Brasilien neben Thüringen, Franken neben Ägypten.

An diesem Vormittag liegen Bodenproben aus dem Hildesheimer Umland auf dem Labortisch in der 4. Etage am Hauptcampus der Universität. Das Institut für Geographie liegt inmitten einer der fruchtbarsten Flächen der Bundesrepublik Deutschland: Die Hildesheimer Börde hat sehr ertragreiche Böden, doppelt so nährstoffreich wie die Marschen an der Nordseeküste oder die Heidelandschaften.

Seit April 2016 arbeitet André Kirchner als Juniorprofessor für Angewandte Geoökologie an der Universität in Hildesheim. In seiner Forschung untersucht der Geograph, wie Siedlungs- und Nutzungstätigkeiten in der Vergangenheit unsere Umwelt beeinflusst haben. „Mich interessieren Beziehungen zwischen Mensch und Umwelt", sagt Kirchner. Wie haben frühere Kulturen die Umwelt beeinflusst? Und andersherum – wie haben veränderte Umweltbedingungen frühere Kulturen beeinflusst?“.

Um Antworten auf diese Fragen zu finden, nutzt Kirchner „Geoarchive“: Böden, Fluss- oder Seeablagerungen. „Sie speichern Informationen aus der Vergangenheit, die man mit Hilfe von Feld- und Laboruntersuchungen wieder ans Tageslicht befördern kann“, sagt der 34-Jährige. „Böden und Sedimente speichern die Informationen, die wir lesen können“, sagt Kirchner. Er bestimmt Korngrößen, stellt fest, ob ein Boden sandig, tonig oder schluffig ist, wie viel Kalk und Organik ein Boden hat. „Wenn ich Sedimente als Archiv nutzen möchte, dann muss ich außerdem natürlich wissen, wie alt diese Sedimente sind.“

Im Rahmen seiner Promotion hat Kirchner Flusssedimente in Brasilien untersucht. „Die Sedimente speichern klimatische Signale. Ich kann klar erkennen, wenn das Klima deutlich feuchter wird, weil der Fluss dann andere Sedimente ablagert als zu trockenen Zeiten. Aus Flusssedimenten können wir also das Klima rekonstruieren“, sagt Kirchner und zeigt auf Aufnahmen aus Brasilien, die in seinem Büro hängen. Das alte Moor im Hinterland der Megacity Rio de Janeiro etwa speichert die Information über die Vegetationsentwicklung der letzten 4500 Jahre. „Vegetation hängt immer auch vom Klima ab. Wenn ich also die Vegetation aus diesem Moor rekonstruiere, kann ich etwas über das Klima in dieser Zeit sagen.“ In Brasilien hat Kirchner am Rio Guapiaçu und Rio Macacu geforscht, diese Flüsse haben sich tief in den Boden geschnitten und Sedimente hinterlassen, die Kirchner dann Schicht für Schicht untersucht hat. Dabei hat er herausgefunden, dass Klimaverhältnisse das Ökosystem maßgeblich beeinflussen und es in der Vergangenheit zu einem mehrfachen Wechsel von landschaftlich stabileren und aktiveren Phasen kam.

Die Sedimente liefern weitere Hinweise: Wann kamen die Menschen ins Spiel? Im oberen Bereich hat der Wissenschaftler ältere Keramiken und Holzkohlen gefunden, an ihnen kann man ablesen, dass vor allem die intensive Landnutzung seit der portugiesischen Kolonialisierung die Landschaft massiv verändert hat. Kirchner hangelt sich mit den Bodenproben durch die Labormethoden. „Die Spuren sind meist nicht offensichtlich, sondern eher versteckt. Ich kombiniere eine Kette an Daten.“

André Kirchner blickt nicht bloß bis zur Industrialisierung, sondern geht weiter zurück. War etwa die Landnutzung der Sambaqui oder Tupi-Guarani-Kultur in Brasilien nachhaltiger als unsere heutige? Der Juniorprofessor untersucht derzeit auch Bodenproben aus Nordwestthüringen. „Ich will in die Steinzeit. Ich wäre froh, wenn mir das gelingen würde, aber es ist nicht sicher. Ich möchte gerne wissen, wie stark war der Einfluss der Steinzeitler, der Bronzezeitler auf die Umwelt? Ich suche nach punktuellen Informationen. Großen Einfluss auf die Landschaft beobachten wir dann, wenn die Bevölkerungsdichte hoch ist. In der Römerzeit springt die Bevölkerungszahl nach oben, aus dieser Zeit kennen wir, großflächige Waldrodungen und signifikante Bodenerosionsraten.“

Universitäten wird oft vorgeworfen, die Arbeit finde „im Elfenbeinturm" statt. Dazu sagt Kirchner: „Ich kann diesen Vorwurf durchaus nachvollziehen. Ich halte es für sehr wichtig, dass die universitäre Forschung eine gewisse Transparenz für die Öffentlichkeit besitzt und universitäre Forschung auch allgemeinverständlich kommuniziert wird. Trotzdem sollte eine Universität aber auch in Zukunft eine Institution sein, in der eine fachliche Spezialisierung möglich ist und wo ergebnisoffen an innovativen Ansätzen gearbeitet werden kann. Hier kommt es auf eine ausgewogene Balance an.“

Über sein Ankommen in Hildesheim sagt Kirchner: „Ich schätze es sehr, dass verschiedene Fachdisziplinen hier an der Universität Hildesheim quasi Tür an Tür sitzen. Ich freue mich auf die fächerübergreifende Zusammenarbeit. Und ich bin sehr gespannt auf die Arbeit mit den Studierenden, da mich diese Tätigkeit mit besonderer Freude erfüllt.“ Derzeit leitet Kirchner zum Beispiel ein Seminar zur Regionalen Geographie Südamerikas und bereitet zusammen mit seinem Kollegen Professor Martin Sauerwein eine Studentenexkursion an die Ost- und Nordsee vor. Zusammen mit Kolleginnen und Kollegen aus der Chemie und Biologie möchte er an der Universität Hildesheim ein naturwissenschaftliches Schülerlabor aufbauen, in dem Jugendliche eigene Erfahrungen beim selbständigen Experimentieren und Forschen sammeln können.

Kirchner ist oft „im Gelände“ unterwegs. Die Digitalisierung ist aber auch in der Geographie längst angekommen. Geographische Informationssysteme, Fernerkundungssoftware und Modellierungsprogramme gehören mittlerweile zum festen Arbeitsalltag und Handwerkszeug eines Naturwissenschaftlers, sagt Kirchner. „Die Digitalisierung birgt große Chancen, etwa bei der Modellierung der globalen Klimaentwicklung. Diese Modelle sind aber immer nur so gut, wie die Daten die sie speisen, weshalb man regionale Untersuchungen in der Natur auch zukünftig nicht vernachlässigen sollte.“ Also sammelt Kirchner weiter Bodenproben, denn in ihnen stecken unverzichtbare Information, das Gedächtnis des Bodens ist eine unverzichtbare Datengrundlage für realistische Zukunftsprognosen, sagt Kirchner.

Die Universität Hildesheim verzeichnet in den Umweltstudiengängen stetig wachsende Studierendenzahlen. Die Universität bildet Umwelt-Fachleute in den Bereichen „Umweltsicherung“ und „Umwelt, Naturschutz und Nachhaltigkeitsbildung“ sowie Lehrerinnen und Lehrer für Biologie, Chemie und Sachunterricht aus. Studentinnen und Studenten können sich in Hildesheim in den Bereichen „Mensch und Umwelt in historischer Perspektive“, „Angewandter Naturschutz“ und „Nachhaltigkeitsbildung“ spezialisieren. Eine Forschergruppe um Professorin Jasmin Mantilla-Contreras befasst sich mit der biologischen Vielfalt und untersucht Wechselwirkungen zwischen Klima, Böden, Beweidung und Biodiversität, etwa auf Madagaskar und im Mittelmeerraum. „Wenn wir die Landschaften, in die der Mensch eingegriffen hat, verstehen, dann können wir aus der Vergangenheit für die Zukunft lernen. Aus Fehlern kann man lernen. Wir versuchen zu verstehen, welche Auswirkungen menschliches Handeln auf Umwelt hatte. Wir können Szenarien entwickeln: Was würde etwa passieren, wenn man den Hildesheimer Wald abholzt?“, sagt Professor Martin Sauerwein. Er forscht zu Bodenschutz und Flächenverbrauch sowie Altlasten. „Mit Unterstützung des Präsidiums ist es gelungen, die Umweltstudiengänge in Hildesheim auszubauen. Wir freuen uns sehr über die professorale Verstärkung durch André Kirchner“, so Sauerwein.

Antrittsvorlesung am 22. Juni 2016

Am Mittwoch, 22. Juni 2016, stellt sich Juniorprofessor Dr. André Kirchner der Hildesheimer Öffentlichkeit vor. Der Juniorprofessor für Angewandte Geoökologie spricht in seiner Antrittsvorlesung über Fragen und Herausforderungen der Mensch-Umwelt-Forschung. Die Vorlesung ist öffentlich und beginnt um 18:00 Uhr in Hörsaal 2 (Hauptcampus am Universitätsplatz 1). Schwerpunkte in Kirchners Forschung sind Geomorphologie, Paläoumweltforschung, Geoarchäologie und Bodengeographie sowie Umwelt- und Nachhaltigkeitsbildung.

Mehr erfahren: Was der Boden über das Leben verrät

Wir laufen täglich herum, ohne zu wissen, was sich eigentlich genau unter unseren Füßen abspielt. Wir vertrauen der Rasenfläche, dem Beton, dem Waldweg. Die „dünne Haut unserer Erde“ nennt Professor Martin Sauerwein den Boden, der auch Informationsträger ist. „Von der Bakterie bis zum Maulwurf leben Tiere in Böden. Der Boden entscheidet, wer darin lebt. Er ist die Grundlage jeglichen Lebens.“ [zum Artikel]

Medienkontakt: Pressestelle der Uni Hildesheim (Isa Lange, 05121.883-90100, presse@uni-hildesheim.de)


André Kirchner untersucht im Uni-Labor Bodenproben. Die Proben sammelt der Juniorprofessor für Angewandte Geoökologie weltweit, etwa während der Feldforschung in Südostbrasilien. Fotos: Isa Lange/Uni Hildesheim, Foto Brasilien: André Kirchner

André Kirchner untersucht im Uni-Labor Bodenproben. Die Proben sammelt der Juniorprofessor für Angewandte Geoökologie weltweit, etwa während der Feldforschung in Südostbrasilien. Fotos: Isa Lange/Uni Hildesheim, Foto Brasilien: André Kirchner

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