Musikmedienpädagogische Verortung

Embodiment, Verkörperung, Bewegung und eine App. Die Entwicklung einer App im Lichte aktueller Diskussionen in der Musikpädagogik

Lorenz Heimbrecht

Einleitung

Vermehrt wird in der Musikpädagogik in den letzten Jahren ein Diskurs über die Bedeutung des Körpers und Leibes geführt (vgl. Heß 2018, Hiekel, Oberaus 2017 u. a.).1

„Aus den Differenzen zwischen musikalischer Praxis und musikbezogenen Praxen, Performativität und musikalischem Handeln sowie schließlich der Theorien der Praxis und Praxistheorien ergeben sich zahlreiche musikpädagogische Fragen, z.B.

  • zu Begrifflichkeiten innerhalb der praxeologischen Debatte,

  • zum Musikmachen als gesellschaftliche Praxis,

  • zu fachbezogenen und überfachlichen Diskursen der Performativität (Theater-, Tanzwissenschaft und Musikpädagogik),

  • zur körperbezogenen Inszenierung und Einschreibung musikbezogener Praxen (Verkörperung, Embodiment, Körperwissen),

  • zum Verhältnis praxeologischen Denkens und musikbezogener Handlungstheorien,

  • zum Einfluss eines praxial turns auf musikbezogene Bildungsvorstellungen,

  • zu spezifischen Praxiskonstellationen innerhalb der Praxis des Musikunterrichts,

  • zur wissenschaftlichen Geltung, Normativität und Fragen der praktischen Realisierbarkeit von Praxisforschung“ (Heß et al. 2018, S. 9-10).

Eine wesentliche Motivation dieser Diskussion ist es, einem rationalistischen Begriff von Musikverstehen entgegenzuwirken (vgl. Heß 2003). „An die Stelle eines Verständnisses von music as object tritt eine Auffassung von music as practice“ (Heß et al. 2018, S. 8). Aber auch alle anderen angesprochenen Punkte werden mit der Erprobung und Reflexion der Möglichkeiten der App in den Blick genommen. Dass das Konzept des Musikverstehens hier vorrangig und wesentlich ist, lässt sich mit Oberhaus & Stange wie folgt begründen: „Zweifelsohne ist der Stellenwert des Begriffs [Verstehen] v. a. im Bereich der Bildung und der Wissenschaft stark verankert, wobei kontrovers diskutiert werden kann, inwiefern ein ‚Verstehen von Musik mit dem Körper‘ überhaupt möglich bzw. legitimierbar erscheint. Der Verstehensprozess geht über die rein kognitive Auseinandersetzung mit dem Werk (Musikverstehen) hinaus und umfasst zusätzlich einen Erkenntnisgewinn über das sinnlich-körperliche Subjekt (Selbstverstehen)“ (Oberhaus/Stange 2017, S. 8).

Wie weit von einem Musikverstehen im Sinne eines adäquaten Zur-Sprache-Bringens überhaupt ausgegangen werden kann, sei hier dahingestellt. Zahlreiche Reflexionen zu dem Verhältnis von Musik und Sprache weisen auf die Unübersetzbarkeit von dem einen in das andere Phänomen hin (vgl. Bierwisch, Grüny, Vogel, Wellmer). Wie aber generiert sich die Überzeugung, dass ein musikalisches Ereignis stimmig und gelungen ist? Wann hat mich Musik wie berührt? Wie wird Musik nachvollzogen? Diese Fragen sind wesentlich und folgenreich für musikpädagogische Aufgabenstellungen und Vermittlungsversuche.

Körperlichkeit

„Innerhalb der Wissenschaften, die sich der Erforschung der Musik widmen, stellt die Dimension des Körpers eine, wenn nicht gar die zentrale Schnittstelle dar“ (Hiekel/Lessing, 2010, S. 7).

Stange weist daraufhin, dass die Begriffe Embodiment und Verkörperung weder synonym verwendbar sind noch in sich klar. Die Berufung auf Theorien sehr unterschiedlicher Provenienz (vgl. Plessner, Clark etc.) lässt die Begriffe sehr schillernd, annähernd beliebig zurück, so dass „qualitative Aussagen“ (Stange 2018, S. 67) fehlen.

In dem hier verfolgten Ansatz vollziehen alle an einem musikalischen Ereignis Beteiligten das Sinn(en)volle darin durch die Bewegung des menschlichen Körpers nach. Dies gilt für Aufführende ebenso wie Zuhörende. So stellt Krause-Benz mit Verweis auf Fischer-Lichte fest: „Das Performative ist immer als ein ‚körperliches Aufführen‘ (Göhlich 2001, S. 33) aufzufassen, wobei ‚körperlich‘ hier nicht in einem rein biologischen Sinne, sondern in der Bedeutung von ‚leiblich‘, also als körperliches Spüren, gemeint ist. Nach Fischer-Lichte ist die leibliche Ko-Präsenz sogar eine notwendige Bedingung von Aufführungen:

Damit eine Aufführung stattfinden kann, bedarf es also der leiblichen Ko-Präsenz aller Beteiligten. (…) Während die einen etwas tun, ausführen, handeln, nehmen die anderen sie wahr und reagieren auf sie – das heißt sie handeln! (Fischer-Lichte 2012, S.54)

Durch die leibliche Ko-Präsenz der Beteiligten ist jede Aufführung, auch als Wiederholung, einmalig (vgl. Göhlich 2001, S. 33). Dies führt zum zweiten wichtigen Punkt, mit dem ersten zusammenhängenden Merkmal von Performativität, welchem der folgende Abschnitt gewidmet ist: „zur Ereignishaftigkeit von Aufführungen“ (Krause-Benz 2018, S. 35). Die Eleganz der Bogenführung in Kombination mit der Exaktheit der auf die Saiten treffenden Finger in einem Solokonzert für Violine oder die lässige, nicht aus der Ruhe zu bringende, fließende Verwendung der Besen durch einen Jazzdrummer sind Bewegungen, die nur gelingen in dem gemeinsamen Anteilnehmen, der Resonanz2 von den Mit-Musizierenden und dem Auditorium. Diese Resonanz ist also gleichzeitig wesentlich zur Klangerzeugung und -wahrnehmung. In musikpädagogischen Aufgabenstellungen und Vermittlungsversuchen muss diese Bedeutung der nachvollziehenden Bewegung mit einbezogen werden und zwar ausdrücklich nicht, um anschließend adäquater über Musik sprechen zu können, sondern um über die Eindeutigkeit und Sinnhaftigkeit der Bewegung musikalische Ereignisse direkt erfahren und gestalten zu können (vgl. Rüdiger Die Geburt der Musik aus dem Geiste des Körpers).

Musikalische Ereignisse lassen sich in dieser Hinsicht mit sportlichen Ereignissen in Beziehung setzen (vgl. hierzu Alkemeyer 2018 Mikrokollektive in Kunst und Sport, S. 261 ff. und in diesem Kapitel: Müller: Jazz. Kollektive Subjektivierung durch Improvisation, 279 ff.). Die Umsicht, der Übeaufwand, das Zuspiel und die Kenntnis der Regeln sind beim Synchronschwimmen, einer Fußballmannschaft und einem musikalischen Ensemble grundsätzlich vergleichbar. Unstimmigkeiten ergeben sich dann folglich beim Exerzieren und seinen musikalischen Entsprechungen.

Anders als die Konzeption und Rezeption des „Musicking“ des Christopher Small wird hier aber nicht davon ausgegangen, dass außereuropäische Musik eine Vitalität bietet, die der europäischen Musik in Bezug auf die Bewegung abhandengekommen sei.

„[…] Small [stellt] seine Kritik abendländischer Kunstmusik vor, die letztlich zur Notwendigkeit einer Neuorientierung im Sinne von Musicking führt. Im Zentrum seiner Kritik steht die Rationalität abendländischer Kunstmusik […]. Insbesondere die Vernachlässigung des Rhythmus und der körperlichen Bewegungsimpulse seit der Renaissance führt laut Small zu einer Entsinnlichung der Musik“ (Kertz-Wetzel 2018, S. 15).

Die Bedeutung menschlicher Bewegung mag in der Rezeption europäischer Musik verschüttet worden sein, sie ist aber ungebrochen da. Letztlich ist jede Form der Notation als Bewegungsanweisung und Spielplan zu lesen. Rüdiger beschreibt diesen Vorgang eindrücklich anhand der Erschließung einer Notation für eine Uraufführung (vgl. Rüdiger 2017).

Instrumente als Körperergänzungen

Ersetzt man den Anspruch des Verstehens in Form einer wohlfeilen, ‚richtigen‘ Sprache durch eine Form des sinnvoll erlebten Nachvollziehens durch körperliche Bewegung – also das was die Sportsoziologen etwas grob umschrieben eine körperliche Intelligenz im Flow nennen würden (vgl. Alkemeyer 2018: Jenseits der Person, Brümmer 2009, Cube) – dann eröffnet sich damit ein Feld des Erlebens, des Übens und des intersubjektiven Begegnens in und durch Musik für alle Beteiligten (Musiker und Zuhörer sind gar nicht mehr trennbar), das tatsächlich im praktischen Vollzug Sinnhaftigkeit erfahren lässt.

„Das Instrument als zunächst unbelebtes Objekt will immer wieder von neuem in den Körper integriert werden, sei dieser auch noch so stark durch jahrelange Übepraxis und Spielroutine habitualisiert“ (Stange 2018, S. 283).

Wenn man der körperlichen Bewegung diese Bedeutung im musikalischen Ereignen einräumt, kann man Instrumente als eine Form der Ergänzung zum Körper ansehen, die dafür sorgen die körperliche Bewegung hör-, z.T. auch sicht- und damit erfahrbar zu machen. Die Atmung – eine sehr existentielle Bewegung des Körpers durch ein Blasinstrument – erzeugt einen Ton (vgl. Rüdiger 1999). Singen ist erst einmal eine äußerlich in seiner Komplexität kaum erfassbare Bewegung und Beherrschung des Körpers und damit auch des Atmens, was aber ein intersubjektives Spüren ermöglicht. Finger-, Fuß-, Arm- und Atembewegungen erzeugen in allen erdenklichen Kombinationen Töne auf allen möglichen Instrumenten. Forte ist nichts anderes als die Möglichkeit der Wahrnehmung von körperlicher Stärke durch einen entsprechend erzeugten Klang. Jede Tempoangabe bezeichnet eine psychophysische Voreinstellung für die Anforderung an die geforderte Bewegung im Stück (Andante, Presto oder „Mit heiterem Behagen“). Die Liste der Spielanweisungen lässt sich mit Sicherheit ausnahmslos unter dem Bewegungsaspekt lesen.

Die App als Instrument in diesem Sinne

Die vorliegende App setzt Bewegung in Klang um. Sie ist damit ein digitales Instrument im oben beschriebenen Sinne eines Klangerzeugers durch eine menschliche Bewegung, das analog gespielt werden muss. Dies kann mit einer Person geschehen, aber vor allem kollektiv in beliebig großen Gruppen. Das Besondere bei diesem Instrument sind die frei verfügbaren Zuweisungen der Klangsegmente und die Bestimmung der Anzahl an Klängen. Damit können bekannte Strukturen vom Blues über Minimal Music zu einem Bicinium des 16. Jahrhunderts nachvollzogen, regelrecht in den Raum gezeichnet werden wie außereuropäische Rhythmen, Skalen und Formen. Möglich scheinen sogar neue Formen oder Synthesen musikalischer Ereignisse.

Auf die anfängliche Frage des Nachvollziehens und Gelingens von Musik zurückkommend: Hier ereignet sich jetzt Musik durch Bewegung im Raum. Gelungen und nachvollziehbar ist dies, wenn sich die Musizierenden zeitlich exakt zueinander in sinnvoll bewegende Beziehung gesetzt haben. Die Freiheit und die konzentrierte Gefasstheit dazu konstituiert sich durch alle im Raum Anwesenden. Dies ist kein einfacher Akt und bedarf einer ausdauernden Übung sowie mindestens der Kompetenz der Antizipation und sozialen Umsicht. Diese Bewegung kann auch minimal sein, z. T. auch innerhalb des Körpers (z. B. beim Singen), also nicht sichtbar sein und ist mit einem herkömmlichen Verständnis von Tanz, als einer artifiziellen Kunstform, nicht gleichzusetzen.

Erste Versuche haben ergeben, dass z. B. ein Blues mit einem im wahrsten Sinne des Wortes walking Bass, improvisierten Skalen und Akkorden von einer neunten Klasse innerhalb von 90 Minuten durchaus umsetzbar ist. Verschiedene Varianten von Call & Response sind unmittelbar einsichtig über die Bewegung umsetzbar.

1 Den Debatten um die begriffliche Differenz zwischen Körper und Leib und auch um einen impliziten cartesischen Dualismus kann hier nicht Rechnung getragen werden.

2 Auch der Resonanzbegriff ist vielfältig. Hier wird an die Erwägungen dazu bei Rudolf zur Lippe angeknüpft.

Literatur

Alkemeyer, Thomas (Hg. et. al): Jenseits der Person. Bielefeld: transcript, 2018.

Alkemeyer, Thomas (Hg. et. al.): Selbst Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung. Bielefeld: transcript, 2013.

Alkemeyer, Thomas: Zeichen, Körper und Bewegung. Aufführungen von Gesellschaft im Sport. Habilitationsschrift, 2000, zuletzt abgerufen am 15.04.2020.

Bierwisch, Manfred: Musik und Sprache. Überlegungen zu ihrer Struktur und Funktionsweise, zuletzt abgerufen am 12.05.2020.

Brümmer, Kristina: Praktische Intelligenz – Überlegungen zu einer interdisziplinären Systematisierung. In: Alkemayer, Thomas: Ordnung in Bewegung. Choreographien des Sozialen. Körper in Sport, Tanz, Arbeit und Bildung. Bielefeld: transcript, 2009.

Cube, Felix von: Verhaltensbiologischer Aspekte der Musik. In: Bastian, Hans G. & Kreutz, Günther: Musik und Humanität. Interdisziplinäre Grundlagen für (musikalische) Erziehung und Bildung. Mainz: Schott, 2003, S. 154 ff.

Elberfeld, Rolf: Ästhetik des Atmens. Studi di estetica, anno XLVI, IV serie, 1, 2018

Elberfeld, Rolf: Sinnlichkeit unterscheiden. Phainomena XXIV/92-93, 2015, S.185 ff.

Elberfeld, Rolf: Transformative Philosophie. In: Information Philosophie 5. 2007, S.26 ff.

Grüny, Christian: Musik und Sprache. Dimensionen eines schwierigen Verhältnisses. Göttingen: Vellbrück, 2012.

Grüny, Christian: Musik und Geste: Theorien, Ansätze, Perspektiven. Paderborn: Wilhelm Fink, 2018.

Heß, Frauke: „Verstehen“ – ein musikpädagogischer Mythos. In: Kruse, Matthias/Schneider, Reinhard (Hg.): Musikpädagogik als Aufgabe. Kassel: Bosse, 2003, S. 119-136.

Heß, Frauke: Sichtbares Erleben. Bewegungsaufgaben im Musikunterricht im Lichte der Neuen Phänomenologie. In: Oberaus, Lars (Hg. u.a.): Musik und Körper. Interdisziplinäre Dialoge zum körperlichen Erleben und Verstehen von Musik. Bielefeld: transcript, 2017.

Hiekel, Jörn P. (Hg. u.a.): Verkörperungen der Musik. Bielefeld: transcript, 2014.

Kertz-Welzel, Alexandra: „There is no such thing as music“: Musicking und seine Bedeutung für die internationale Musikpädagogik. In: Heß, Frauke (Hg. u. a.): Zwischen Praxis und Performanz. Zur Theorie des Handelns in musikpädagogischer Perspektive. Sitzungsbericht 2017 der Wissenschaftlichen Sozietät Musikpädagogik. Lit Berlin, 2018, S.13ff.

Krause-Benz, Martina: Performativität beginnt, wenn der Performer nicht mehr über seine Performance verfügt – Verunsicherung als musikpädagogisch relevant Dimension des Performativen. In: Heß, Frauke (Hg. u.a.): Zwischen Praxis und Performanz. Zur Theorie des Handelns in musikpädagogischer Perspektive. Sitzungsbericht 2017 der Wissenschaftlichen Sozietät Musikpädagogik. Lit Berlin, 2018, S.31ff.

Müller, Christian: Doing Jazz. Zur Konstitution einer kulturellen Praxis.Weilerswist: Velbrück, 2017.

Müller, Christian: Jazz. Kollektive Subjektivierung durch Improvisation. In: Alkemeyer, Thomas (Hg. u.a.) 2018: Jenseits der Person. Bielefeld: transcript, 2018, S.279 ff.

Oberaus, Lars (Hg. u.a.): Musik und Körper. Interdisziplinäre Dialoge zum körperlichen Erleben und Verstehen von Musik. Bielefeld: transcript, 2017.

Oberaus, Lars: Quälende Qualia. Argumente gegen die Reduktion sinnlicher Erfahrungen auf körperliche Zustände. In: ders., 2017.

Rüdiger, Wolfgang: Der musikalische Atem. Wiesbaden: Breitkopf & Härtel, 1999.

Rüdiger, Wolfgang (2017): Die Geburt der Musik aus dem Geiste des Körpers. Aspekte musikalischen Embodiments von der kommunikativen Musikalität der frühen Kindheit bis zur komplexen musikalischen Körperlichkeit. In: Oberaus, Lars (Hg. u.a.): Musik und Körper. Bielefeld: transcript, 2017, S.269 ff.

Stange, Christoph: Denken mit den Beinen, spüren mit dem Kopf, tanzen mit der Seele. Zum Potenzial des Körpers für das Verstehen von Musik. In: Oberaus, Lars (Hg. u.a.): Musik und Körper. Bielefeld: transcript, 2017. S.71ff.

Stange, Christoph: Verkörperung – Schwierigkeiten mit einem schillernden Begriff. In: Heß, Frauke (Hg. u.a.): Zwischen Praxis und Performanz. Zur Theorie des Handelns in musikpädagogischer Perspektive. Sitzungsbericht 2017 der Wissenschaftlichen Sozietät Musikpädagogik. Lit Berlin, 2018, S.49ff.

Vogel, Matthias: Musikalischer Sinn. In: ebd. Frankfurt a.M: Suhrkamp, 2017, S.314 ff.

© All rights reserved by Lorenz Heimbrecht