Rolle von Musik in der Gesellschaft

lundi, 30. juin 2014 um 18:27 Uhr

Musik spielen, um Konflikte zu lösen, um Kulturerbe zu erhalten, um Freiraum zu schaffen. Drei junge Forscher geben Einblicke, woran sie derzeit arbeiten. Der musikethnologische Nachwuchs trifft sich einmal im Jahr an der Uni Hildesheim. Philip Bohlman von der Universität Chicago sagt: „Das Spektrum der Forschungsarbeiten ist breiter geworden. Gerade für die jungen Forscher, die aus allen Ecken der Welt kommen, ist der fachliche Austausch wichtig. Das Center for World Music hat eine besondere Anziehungskraft."

„Musikethnologen haben direkten Kontakt zur Gesellschaft, beobachten Alltag. Ihnen wird in der Feldforschung sehr bewusst, welche Rolle Musik in der Gesellschaft spielen kann“, sagt Thomas Hilder, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Center for World Music der Uni Hildesheim. Fast 90 junge Musikethnologen hatten sich beworben, um Ende Juni 2014 beim sechsten internationalen Doktorandenworkshop in Hildesheim dabei zu sein, ein Viertel erhielt eine Zusage, um ihre Forschung vorzustellen und zu diskutieren. „Es geht in diesem Jahr zum Beispiel um indische Casting-Wettbewerbe, bei denen Jugendliche versuchen, zwischen Tradition und Individualismus eine Balance zu finden. Sie machen die Stimmen von Vorbildern nach und versuchen doch ihren eigenen Stil zu entwickeln, wie Annar Desai-Stephens zeigt. Andere Forscherinnen, etwa Stephanie Vos, befassen sich mit Migration und Musik und untersuchen etwa die Lebenslagen von südafrikanischen Jazzmusikern, die seit 1960 nach London auswanderten und sich hier auch musikalisch positionierten“, so Thomas Hilder, der nach seiner Promotion an der University of London nach Hildesheim übersiedelte und hier den musikethnologischen Forschungsnachwuchs stärken möchte. Diler Özer Efe von der Istanbul Technical University untersucht anhand von Interviews und Aufnahmen, wie sich die Musikkultur seit den 1970er Jahren im Vergleich zum politischen Wandel in der Türkei verändert hat und welche Rolle oppositionelle Musiker spielen.

„Über die Jahre hat sich das Themenspektrum erweitert, die Entwicklung ist vielversprechend, Hildesheim hat für die jungen Forscherinnen und Forscher eine besondere Anziehungskraft. Hier können sie plaudern, sich fachlich austauschen“, sagt Philip Bohlman, Professor für Musikwissenschaft an der Universität Chicago. Er dreht sich schwungvoll um, blickt über die Schulter und strahlt. „Darum geht’s!“ Hinter ihm wuselt es – persönliche Gespräche statt bloß E-Mail-Kontakt. Es ist Pause, der Marathon beginnt um 9:00 Uhr, endet täglich am späten Abend. Die Pausen sind goldwert, um einander besser kennen zu lernen. „Die Wissenschaftler kommen wie bereits im Vorjahr aus allen Ecken der Welt, so entsteht ein gemeinsamer Fachbereich, denn uns verbinden ähnliche Fragen“, sagt Bohlman. Von traditionell bis populär, über Jazz und Klassik – nicht ein bestimmtes Thema steht im Fokus, stattdessen bietet die Universität Raum, um sich über theoretische und methodische Herausforderungen auszutauschen. Dabei wird der Nachwuchs von Musikethnologen, darunter die beiden Direktoren des Center for World Music, Professor Raimund Vogels und Julio Mendívil, begleitet. Die Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover (HMTMH) und die Universität Hildesheim organisieren den Doktorandenworkshop einmal pro Jahr gemeinsam. So entsteht ein weltweites Netzwerk von Nachwuchswissenschaftlern.

Gespräche mit Komponisten, DJs und Publikum in Mazedonien

Woran und wie arbeiten Musikethnologen – Dave Wilson, Leila Qashu und Cassio Nobre sind Teil des diesjährigen Doktorandenworkshops und geben Einblicke in ihre Forschung. Was er besonders an der musikethnologischen Forschung schätzt, ist die Flexibilität, sagt Dave Wilson von der University of California in Los Angeles. „Ich zeichne Interviews auf, frage Musiker, Komponisten, DJs, das Publikum und Club-Besitzer, welche Rolle Musik in ihrem Leben spielt.“ Derzeit befasst er sich viel mit den Grenzen und Möglichkeiten von „participant-observation“, also „teilnehmender Beobachtung“. Sein Feldlabor liegt in Mazedonien. „Ich verbringe die Zeit mit Menschen und beobachte, wie und warum verschiedene Dinge eine Bedeutung für sie haben. In der Regel notiere ich meine Beobachtungen noch spät in der Nacht, um sicherzustellen, dass ich nichts vergesse.“ Er konzentriert sich, etwa in der Hauptstadt Skopje, auf „Ethno-Bands“, die Folk und Pop mixen, auf Jazz, House und Techno sowie neue klassische Kompositionen. Mittlerweile hat Dave Wilson eine Menge Material in dem südosteuropäischen Land angesammelt, aufgezeichnete Interviews und Notizen, um herauszufinden, welche Bedeutung Musik für die Menschen hat. „Ich bin selbst Musiker, so habe ich beschlossen, dass die musikalische Zusammenarbeit Teil meiner Forschung wird. Indem ich mit Jazzmusikern, traditionellen Musikern und DJs in Tonaufnahmen und Live-Auftritten zusammenarbeitete, komme ich in die Lage, die Musik in einer anderen Art und Weise zu verstehen, als ich es durch Fragen und Beobachtungen erfassen könnte.“

In Mazedonien arbeitet der ausgebildete Saxophonist Dave Wilson mit Jazzmusikern zusammen. „Es ist faszinierend, mit ihnen zu sprechen, zu spielen und von ihnen zu lernen.“ Einige mazedonische Musiker haben Jazz in Amerika studiert, andere in Österreich, nur wenige in Mazedonien. Das Musik- und Bildungsumfeld beeinflusse die Kreativität der Musiker maßgeblich, so Wilson. An der Universität Hildesheim verbringt er einige Tage Forschungsaufenthalt, „um die Arbeiten anderer Wissenschaftler zu entdecken, die in einem ähnlichen Stadium der Forschung sind, und um vom Erfahrungsreichtum und Wissen der älteren Forscher zu lernen“. Und, natürlich, um die Fußball-Weltmeisterschaft – vor allem das Spiel USA gegen Deutschland – zu sehen.

Musikrituale in Äthiopien, um Konflikte zu lösen

Musik, um Konflikte zu lösen? Leila Qashu untersucht, wie Frauen in Äthiopien, die Gruppe der Arsi Oromo, die Kraft von Musik und Klängen nutzen, um sich gegen Unterdrückung und Missbrauch zu wehren und Konflikte friedlich zu lösen. Dabei analysiert sie in ihrer Doktorarbeit „Towards an Understanding of Justice and Human Rights: Women's Musical Rituals in Ethiopia as Conflict Resolution" das spirituelle und musikalische Ritual „Ateetee“.

„Die Frauen leben in einer politisch männlich dominierten Gesellschaft, sie nutzen musikalische Rituale, um Wiedergutmachung zu verlangen. Wenn eine Frau missbraucht und in irgendeiner Weise entehrt wurde, ob mündlich, körperlich oder psychisch, versammelt sie sich mit anderen Frauen vor dem Haus des Täters“, so Leila Qashu. Am Ende des Gesangsrituales erwarten sie vom Täter eine Entschuldigung. Die Musikethnologin der nordamerikanischen University of Newfoundland hat Jahre in äthiopischen Gemeinden verbracht, um die Rituale zu dokumentieren und mit den Arsi-Frauen, Teilnehmern, Gemeindemitgliedern, Regierungsbeamten für Kultur- und Frauenfragen und religiösen Führern zu sprechen. „Diese Art der lokalen Justiz ist oft erfolgreich, weil viele Menschen vor Ort in den Prozess eingebunden werden. Sie versuchen so Frieden zu schaffen.“ Leila Qashu berichtet in Hildesheim aus der Feldforschung, die sie in Filmaufnahmen festgehalten hat: „In einem Geschäft in der Stadt geriet ein Mann in einen Streit mit einer Frau, er beleidigte sie. Sie rief den Rat der Frauen, im Lauf des Tages versammelten sich über 200 Frauen vor dem Haus des Mannes, um die Betroffene zu unterstützen.“

Forschung teilen, kritische und konstruktive Rückmeldungen empfangen"

Für die junge Wissenschaftlerin ist der Doktorandenworkshop im Hildesheimer Forschungszentrum „eine unglaublich gute Möglichkeit, um mit jungen und etablierten Wissenschaftlern über Forschungsprojekte zu diskutieren“. „Ich bin sehr dankbar, es ist eine fantastische Gelegenheit, um meine Forschung zu teilen, um kritische und konstruktive Rückmeldungen zu empfangen“, sagt Leila Qashu. Dabei sei die Teilnahme für sie eine Ehre. „Dass ich unter den Bewerbern ausgewählt wurde, spornt mich an. Das Stipendium ist auf höchstem Niveau. Im Verlauf einiger Tage sind wir zu einer kleinen internationalen Gemeinschaft zusammengewachsen. Ich möchte den Kontakt nun weiter halten und die Zusammenarbeit in den kommenden Jahren ausbauen“, sagt Leila Qashu.

Auch Cassio Nobre nutzt das Zusammenkommen in Hildesheim, um Kollegen aus anderen Orten der Welt kennen zu lernen. „Es ist sehr inspirierend und ich erfahre mehr darüber, wie sie mit ähnlichen Fragen und Herausforderungen umgehen.“ Der Doktorand der Musikethnologie an der University of Bahia in Brasilien untersucht, welche Maßnahmen wirken, um ein traditionelles handgefertigtes Instrument, die „viola machete“, zu erhalten. Er beobachtet Entwicklungen in der Politik und warum sich einige Samba-Spieler entscheiden, das Instrument wieder in ihren Ensembles professionell einzusetzen. Seit etwa zehn Jahren befasst sich Cassio Nobre in der Region Recôncavo Baiano, wo er aufgewachsen ist und lebt, mit traditionellen Varianten der brasilianischen Samba – „Samba de Roda" und „Samba Chula". „Als Forscher erlebe ich den Alltag in ländlichen Gemeinden, erstelle Musik- und Videoaufnahmen und stehe im engen Kontakt zu den meist älteren Menschen. Die Arbeit ist komplex und fordert einen großen Zeiteinsatz, auch um die Freundschaft zu erhalten, die zwischen mir und den Menschen, die ich beobachte, entstanden ist. Ich möchte den Kontakt halten, auch wenn das Forschungsprojekt abgeschlossen ist“, erzählt Cassio Nobre. Derzeit schreibt er Artikel, um seine Überlegungen über die Wechselwirkungen zwischen traditioneller Musik und zeitgenössischen Welt festzuhalten.

Wer sich für musikethnologische Forschung interessiert, kann Dr. Thomas Hilder vom Center for World Music kontaktieren (E-Mail cwm_hilder[at]uni-hildesheim.de).


Die Doktoranden Leila Qashu und Cassio Nobre mit dem Chicagoer Musikprofessor Philip Bohlman sowie Thomas Hilder und Julio Mendívil vom Center for World Music der Uni Hildesheim. Fotos: Isa Lange

Die Doktoranden Leila Qashu und Cassio Nobre mit dem Chicagoer Musikprofessor Philip Bohlman sowie Thomas Hilder und Julio Mendívil vom Center for World Music der Uni Hildesheim. Fotos: Isa Lange

Die Doktoranden Leila Qashu und Cassio Nobre mit dem Chicagoer Musikprofessor Philip Bohlman sowie Thomas Hilder und Julio Mendívil vom Center for World Music der Uni Hildesheim. Fotos: Isa Lange