Reflexion zu den Einteilungen der philosophiegeschichtlichen Werke in russischer Sprache

Geschichte der russischen Philosophie

Auffallend an den Einteilungen der Philosophiegeschichten auf Russisch ist ein starkes Interesse an der Erforschung speziell der russischen Philosophie. Zur Geschichte der russischen Philosophie sind bei weitem die meisten Werke erschienen. Selbst der mit der Revolution von 1917 einhergehende Bruch in der russischen Wissenschafts- und Philosophiegeschichte hat dieser ausgesprochen starken Selbstbeschäftigung keinen Abbruch getan.

Besonders interessant ist die Zeit der Sowjetunion (1922 bis 1991). Hier entsteht eine marxistische Philosophiegeschichtsschreibung, die sich im Rahmen eines historisch-materialistischen Gedankengebäudes bewegt und auch zu neuen Forschungsschwerpunkten und Einteilungskriterien führte. Als ‚Grundfrage der Philosophie‘ wird hier die Frage nach dem Verhältnis zwischen Denken und Sein, zwischen Geist und Natur, zwischen Bewusstsein und Materie betrachtet. Anhand der Beantwortung dieser Frage wird die Philosophie in zwei große Lager unterteilt: das eine, das die Natur, das Sein als primär anerkennt (das Lager des Materialismus) und das andere, welches den Geist bzw. das Bewusstsein als primär betrachtet (das Lager des Idealismus). Gerade die Erforschung der materialistischen Traditionslinie des Denkens steht im Zentrum der sowjetischen Philosophiegeschichtsschreibung, da diese als progressive gesellschaftliche Kraft betrachtet wird im Gegensatz zur ‚absterbenden‘ Weltanschauung des Idealismus.

Bürgerliche Philosophie

In den Jahrzehnten der sowjetischen Wissenschaft finden sich in der Philosophiegeschichte viele Werke zur marxistischen Philosophie und deren Geschichte, eine Kategorie, die auch auf Chinesisch einen größeren Raum einnimmt. Interessant ist aber auch die Kategorie „Bürgerliche Philosophie“. Unter diesem Begriff sind auf Russisch mehrere Werke erschienen, eine Benennung, die uns bisher (außer in der DDR, vgl. Manfred Buhr: Zur Geschichte der klassischen bürgerlichen Philosophie. Bacon, Kant, Fichte, Schelling, Hegel. Leipzig: Reclam 1972) in keiner anderen Tradition der Philosophiegeschichtsschreibung begegnet ist. Interessanterweise findet sich der Begriff ‚bürgerliche Philosophie‘ in der deutschsprachigen Literatur 1947 bei Alois Dempf in seiner Selbstkritik der Philosophie und vergleichende Philosophiegeschichte im Umriss, wo er in Abgrenzung zur vorwiegend juristischen (römische und neuzeitliche) und theologischen Philosophie (indische und scholastische) gebraucht wird. Die griechische Philosophie und die Renaissancephilosophie versteht Dempf als vorwiegend bürgerliche Philosophie. Ganz anders ist die Kategorie im Russischen (in der Periode der Sowjetunion) zu verstehen. Hier wurden mit dem Begriff ‚bürgerliche Philosophie‘ all jene philosophischen Traditionen und Strömungen bezeichnet, die dem Idealismus zugeordnet wurden, also u.a. die deutsche klassische Philosophie, die Phänomenologie etc.. Arbeiten zur bürgerlichen Philosophie widmen sich dann dementsprechend der kritischen Darstellung der Entwicklung der Philosophie im ‚Westen‘, u.a. in England, den USA oder auch Deutschland, wobei deutlich der Schwerpunkt auf dem 19. und 20. Jahrhundert liegt. Die nicht geringe Anzahl an Werken zur Philosophiegeschichte in westlichen Ländern dokumentiert jedoch ebenso ein reges Interesse an den Entwicklungen dort.

Philosophien verschiedener Völker

Ziel der sowjetischen Philosophiegeschichtsschreibung war zudem eine bewusste Ablösung vom vorherrschenden „West-Zentrismus“ der Philosophie. Aus diesem Grund lag ein Forschungsschwerpunkt auf der Rekonstruktion der ‚östlichen‘ Philosophie (worunter im Wesentlichen Indien, China sowie Ostasien verstanden wird) und der Philosophien der einzelnen Völker des Vielvölkerstaates UdSSR. So finden sich auf Russisch zahlreiche Untersuchungen zur Geschichte der Philosophie von Völkern und Nationen, die in der ‚westlichen‘ Philosophie gemeinhin keine Rolle spielen und keinerlei Erwähnung finden. Dazu gehören Untersuchungen zur armenischen, aserbaidschanischen, kasachischen, tatarischen, ukrainischen, usbekischen oder auch vietnamesischen Philosophie. Nach 1991 und dem Zerfall der Sowjetunion erhielten solche Forschungen nochmals einen Aufschwung im Prozess der Identitätsfindung neu bzw. wieder gegründeter Nationen. Im Fokus dieser Rekonstruktionsarbeit stand in den Jahrzehnten der Sowjetunion vor allen Dingen die Rekonstruktion der materialistischen Traditionslinien in diesen Regionen. Dies hatte auch interessante Auswirkungen auf die Darstellung der Philosophien des Ostens und der islamischen Tradition. Hier wurde sich dagegen gewendet, diese philosophischen Traditionen als rein religiös-idealistische oder gar mythische zu betrachten. Insbesondere hervorgehoben wurde die Bedeutung materialistischer Ansätze in diesen Traditionen, wie in der islamischen Philosophie der aus Zentralasien stammende al-Fārābī oder in der indischen Tradition die Strömung des Lokayata. Aber auch alle anderen Strömungen und Theorien wurden insbesondere auf ihnen innewohnende Elemente des Materialismus hin beleuchtet. Interessant ist zudem, dass in der Erforschung der philosophischen Traditionen anderer Völker bereits in den 1950er Jahren die Frage nach der Stellung oraler Traditionen im Rahmen einer Philosophiegeschichte aufgeworfen wurde.

Auffallend ist im Zusammenhang dieses internationalistisch begründeten Interesses an der Rekonstruktion der Ideengeschichte befreundeter Völker, dass es auf Russisch sehr wenige Veröffentlichungen zur Philosophiegeschichte in Afrika und Lateinamerika gibt. Auffallend ist zudem, dass es auf Russisch – bis auf einen Versuch aus der jüngsten Zeit – keine Arbeiten zu einer Rekonstruktion der Geschichte der Philosophinnen gibt.

Unter der Kategorie „Philosophie der Völker Zentralasiens“ befinden sich nur Werke, die diesen Begriff im Titel führen. Werke zur Philosophiegeschichte bestimmter zentralasiatischer Völker befinden sich unter den jeweiligen Völkern/Nationen (z.B. „Kasachische Philosophie“).

Epocheneinteilungen

Hinsichtlich der Epocheneinteilungen ist in der russischsprachigen Tradition hervorzuheben, dass sich Begriffe wie ‚antike Philosophie‘ oder ‚mittelalterliche Philosophie‘ auf einen bestimmten Zeitraum beziehen. Der Begriff ‚Antike‘ umfasst im Wesentlichen den Zeitraum zwischen dem 7. Jahrhundert BCE und dem 6. Jahrhundert CE und bezieht sich nicht ausschließlich auf die griechische und römische Antike. Besonders deutlich wird dies vor allem mit Blick auf die Epoche des Mittelalters, die zwischen dem 5./6. bis zum 15. Jahrhundert angesiedelt wird und nicht nur das europäische Mittelalter umfasst, sondern ebenso – wie sich einzelnen Titeln entnehmen lässt – indische Philosophie, die Völker des Nahen und Fernen Ostens oder arabische Philosophie. Damit wird die enge Vernetzung der mittelalterlichen Welt und Ideengeschichte von Europa bis Asien und Afrika in der russischen Literatur bereits deutlich gemacht und ein umfassenderes Bild vom Mittelalter vertreten als das lange Zeit in Westeuropa vorherrschende.