Kurzbeschreibung:
Mall; Hüllsmann, Die drei Geburtsorte der Philosophie: China, Indien, Europa.


Ram Adhar Mall und Heinz Hülsmann haben nur ein Jahr später im damaligen Westdeutschland einen in ähnlicher Weise geographisch orientierten Entwurf unter folgendem Titel vorgelegt: Die drei Geburtsorte der Philosophie: China, Indien, Europa. Die Autoren begründen ihren Entwurf und die Auswahl, die sich eben nur auf drei Orte beschränkt, wie folgt: 

„Dem Leser möchten wir hier deutlich machen, worin wir den eigentlichen Beitrag dieses Buches sehen. Wenn zwei Autoren, von denen einer ein Asiate, der andere ein Europäer ist, ein Buch schreiben über die drei Ursprünge der Philosophie: China, Indien und Europa, so bedeutet dies eine gemeinsame Autorschaft, kraft deren sie den Versuch unternehmen, die Gleichzeitigkeit und Gleichrangigkeit in genau dieser gemeinsamen Denkarbeit zu verwirklichen. Das Auszeichnende des Versuchs ist eigentlich, die jeweilige Tradition in die geistige Ko-Existenz einer gemeinsamen Situation zu überschreiten. Der Versuch hat nichts mit dem romantischen und dilettantisch anmutenden Interesse für das asiatische und europäische Denken zu tun. […] 

Es ist uns sicherlich bewußt, daß China, Indien, Europa eine Assoziationskette freisetzen, der gemäß wir an Afrika, Australien, Südamerika zu denken haben. Dem sind wir aber nicht nachgekommen, weil da auch die Gesprächspartner fehlten. Nicht nur das ist zu bemerken, wesentlicher erscheint uns die Tatsache, daß wir gezwungen sind, Philosophie aus unserem Koautorendialog heraus anders zu thematisieren. Unser Philosophieren enteuropäisiert sich, auch wenn der philosophische Diskurs leicht zur Täuschung führen kann, die Diktion der europäischen Terminologie garantiere ihre Dominanz. Vermeiden wir aber das Mißverständnis, als könne dies bedeuten, daß dadurch unsere Philosopheme chinesisch oder indisch werden. Es geht nicht um eine Art Kulturromantik und einen Weltanschauungstourismus.

Die Gleichzeitigkeit, die wir erfahren, ist eine globale Situation. Die Philosophie ist nicht nur ihre Geschichte. Die Geschichte ist selber situativ geworden. Ob China, Indien oder Europa, sie finden sich zusammen in dieser Situation einer menschlichen Welt. In dieser Welt ist der Mensch selber die Provokation für die Geschichte. Das wäre gedanklich zu bestehen. 

Das heißt aber konkret, daß die geschichtlichen Bestände in die Situation hineinwirken und in derselben präsent bleiben. Wir sind heute gezwungen, Philosophie nicht einfach nur vom Text her zu denken, und das heißt von der Schrift her und auf der Basis einer schriftlichen Dokumentation und Objektivation zu denken. Die Herausforderung, in der wir uns situativ finden, ist ursprünglich. Wir haben darauf zu achten, daß gleichzeitig zu der Schriftkultur die lebendigen Traditionsbestände von Ritual, mündlicher Überlieferung wirksam bleiben. Damit verweisen wir auf ein Defizit. Mbira ist als philosophischer Inhalt zu bedenken. Ebenso sind die ethno-philosophischen Versuche eines Castaneda oder eines Eliade ernst zu nehmen.

Wir sind uns klar darüber, daß wir für einen eineindeutigen Philosophiebegriff ein Skandalon liefern. Es geht uns hier nicht um ein Wiederfinden eines durch Definitionsgewalt oder durch eine philosophische Konvention festgelegten Philosophiebegriffs, sondern um einen ‚metonymischen Transfer‘ des Philosophischen, das trotz seiner Traditions- und Sprachgebundenheit seine Unverfügbarkeit behält." (Mall, Ram Adhar u. Hülsmann, Heinz: Die drei Geburtsorte der Philosophie: China, Indien, Europa. Bonn 1989, S. 9ff.)

„Immer wieder und immer noch wird in Forschung und Lehre dieser Topos vertreten, der Ursprungsort der Philosophie sei Griechenland, genauer Athen. Wir lernen diese Geschichte in der Schule; wir hören sie an der Universität, aber sie steht auch in der wirksamen Tradition vor unseren Augen, in unserem Bewußtsein. Daß Athen der Geburtsort dessen sei, was wir als Philosophie lernen und wissen, erinnert aber zugleich daran, daß Kleinasien und Ägäis, daß Ägypten und Italien, daß der Mittelmeerraum daran beteiligt gewesen sind. Der mediterrane Raum ist also der Raum, in dem Philosophie sich entwickelt hat.

Damit sind wir eigentlich schon in diese Nachbarschaft der Kontinente geraten. Wir bemerken, wie hier Asien und Europa und Afrika einander berühren. Die kontinentale Nähe zueinander bleibt auch der Ort einer Überlappung, einer Überschneidung, wo sich die Lebenslinien verbinden. Wir bemerken eine spezifische Geographie, in der Denkwege, Lebenswege und Verkehrswege zusammengehören und zusammenführen. Diese Geographie des Ursprungs ist auch einer dieser Kontinente. Sie haben dabei ihre eigentümliche Stellung zueinander. Das gehört dann vor allem zu dieser geschichtlichen Selbstdeutung. Aus dieser resultiert jene Einheit der Geschichte, die mit dieser Deutung zusammengehört.

Die Geschichte der Philosophie ist also selber eine Philosophie der Geschichte. Sie scheint eine Geschichte als Hermeneutik derer, die von Europa her sie entwerfen. Diese erwähnte Ursprungsgeschichte ortet Philosophie ihrer Genese nach in Athen. Dazu gehören sodann Rom und Jerusalem. Philosophie, Staat und Religion verbinden sich darin zu einer Totalität. Das imperium romanum bezieht Asien und Afrika in seinen Bestand und beherrscht so ökonomisch wie auch ideologisch den mediterranen Raum. Damit ebnet sich und eröffnet sich der Raum der europäischen Geschichte, die Dimension der europäischen Philosophie. Diese historische Einstellung ist bekannt. Aber aus unserer heutigen Situation und angesichts der technologischen Formierung der Gesellschaft wird kaum noch bestritten, daß da Korrekturen nötig sind. […] 

Die These von den drei Orten ist darum sowohl eine zeitliche wie auch eine räumliche Korrekturthese. Sie betrifft den darin wirksamen Absolutheitsanspruch, ob er nun anonym oder offen artikuliert wird. Sie betrifft nicht weniger uns selber; denn es geht sicherlich darum, sie als eine Anregung oder Beschränkung zu vertreten. Sie ist nicht restriktiv zu nehmen, so als solle gesagt sein, es könne nicht mehr Orte des Philosophierens geben oder es gebe Zeiten, die ein qualitatives Mehr an Philosophie und an Wahrheit verwirklichen. Ein solches Urteil zu beanspruchen, wäre unsinnig.

Damit ist zugleich zugestanden, daß wir Afrika und Lateinamerika, Australien oder Neuseeland, wie immer, wann immer und wo immer, hier nicht als unbedeutend und unwichtig abqualifizieren wollen. Das zwingt zugleich zu sagen, daß wir auch die Formen von Tradition, Dokumentation und Objektivation nicht irgendwie auszuzeichnen gedenken. Der Zugang zu anderem Denken und zum anderen Leben soll von uns nicht auf bestimmte materielle, ideelle Quellen beschränkt werden." (Ebd., S. 11ff.)

Auch wenn die beiden Autoren nur „drei“ Geburtsorte der Philosophie behandeln, so sollen andere Gegenden dabei nicht ausgeschlossen werden. In den Erörterungen ist eine Perspektive besonders wichtig. Wenn die Autoren sagen, dass „die Geschichte der Philosophie selber eine Philosophie der Geschichte sei“ wird deutlich, dass jeder Versuch, eine Philosophiegeschichtsschreibung in globaler Perspektive zu konzipieren, sich die Frage nach der Philosophie der Geschichte in philosophischer Perspektive zu stellen hat. Letztlich arbeiten sich die meisten Versuche zur Philosophiegeschichtsschreibung noch immer an Kant und Hegel ab, die diese Frage in zugespitzter und zugleich eurozentrischer Weise beantwortet haben.  

(Auszug aus: Elberfeld, Rolf: Philosophiegeschichtsschreibung in globaler Perspektive. Felix Meiner Verlag: Hamburg 2017. S. 298–300.)