Kurzbeschreibung:
Eichler, Wie und warum entstand Philosophie in verschiedenen Regionen der Erde?


Klaus Dieter Eichler und Ralf Moritz haben kurz vor der Wende im Jahr 1988 einen Band in Ost-Berlin herausgegeben mit dem Titel: Wie und warum entstand Philosophie in verschiedenen Regionen der Erde? Der Titel des Bandes akzentuiert die Geschichte der Philosophie in geographischer Hinsicht, so dass nach Ursprüngen der Philosophie in verschiedenen Regionen der Welt gefragt wird. Der Band umfasst folgende Beiträge: Hiltrud Rüstau, Die Genesis der altindischen Philosophie; Ralf Moritz, Wie und warum entstand in China philosophisches Denken?; Steffi Richter, Zur Herausbildung philosophischen Denkens in Japan; Klaus-Dieter Eichler / Helmut Seidel, Philosophie im antiken Griechenland; Gerd-Rüdiger Hoffmann, Wie und warum im subsaharischen Afrika Philosophie entstand; Birgit Gestenberg, Philosophisches Denken im präkolumbischen Mexiko und die Philosophie der Kolonialzeit in Lateinamerika. Der programmatische Horizont des Bandes ist der Marxismus, der für die Autorinnen und Autoren die folgenden Auswirkungen hatte: 

Philosophie, die ‚Liebe zur Weisheit‘ das Wort ist, wie wir alle wissen, griechischen Ursprungs, und wer an Entstehung von Philosophie denkt, hat zunächst meist das Denken im antiken Griechenland im Sinn. Doch auch außerhalb der griechisch-europäischen Kulturentwicklung hat es philosophisches Denken gegeben, und zwar höchst bedeutsames, höchst produktives, oft mit immenser geschichtlicher Wirksamkeit. Die Autoren des vorliegenden Buches möchten ihren Beitrag dazu leisten, den Blick zu weiten und die gesamte Weltkarte der Philosophie zu betrachten. Dies entspricht dem Internationalismus unserer Weltanschauung und unserer politischen Praxis. Doch ist das leichter gesagt als getan, denn dabei ist an die Schwierigkeiten im Umgang mit Quellen zu denken, an Sprachbarrieren, an die Notwendigkeit, vorhandene Übersetzungen kritisch zu benutzen, an zwangsläufige Unsicherheiten der Interpretation, nicht zuletzt an die vielen Fragen, die noch bei der Klärung von historischen Voraussetzungen geistiger Entwicklungen auftreten. Nichtsdestoweniger gibt es gute Gründe, das philosophische Erbe der Menschheit als Ganzes in den Blick zu nehmen, Gründe, die zunehmend dringlicher werden.

Der wohl gewichtigste Grund: Atomare Bedrohung heißt heute Bedrohung der ganzen Menschheit, und dies läßt bewußt werden, was es im Kampf dagegen zu bewahren gilt: eben das Gattungswesen Mensch mit allem, was es hervorgebracht hat und was von der Entwicklung seiner produktiv-schöpferischen Möglichkeiten zeugt. Der Gedanke an den universellen kulturhistorischen Entwicklungsprozeß der Menschheit sensibilisiert für das ganze Ausmaß dessen, was es heute zu erhalten gilt und im Kampf für den Frieden eingesetzt werden kann und muß.

Die geistige Aneignung der Wirklichkeit durch den Menschen hat menschheitsgeschichtliche Größenordnung; Philosophiegeschichte ist damit zwar nicht identisch, wird aber in diesem universellen Prozeß erzeugt. Wir als Marxisten fühlen uns allem, was Menschen an Progressivem, Produktivem und Humanistischem, an Wissen und Erkenntnis über die Welt hervorgebracht haben, verpflichtet. Wir sehen darin eine Bestätigung menschlicher Wesenskräfte, schöpferische Leistungen. Wie der Kampf um den Frieden weltweite Dimension hat, so sind die produktiven geistigen Leistungen der Menschheitsgeschichte ein weltweites Potential in diesem Kampf.

Sozialistischer Humanismus prägt unseren Zugang auch zu den geistigen Errungenschaften anderer Völker und prägt unsere Achtung vor ihnen. Auch philosophische Traditionen verstehen wir als Ausdruck jeweiliger geschichtlicher Erfahrungen, wir sehen in ihnen eine Widerspiegelung des Weges, den ein Volk historisch zurückgelegt hat. Jedes Volk hat mit seiner Geschichte einen Beitrag zum Werden der Welt von heute geleistet. Aufgabe ist, die Originalität eines solchen Beitrages zu würdigen, das, was er an Spezifischem in die Schatzkammer der Menschheitskultur eingebracht hat – fehlte es, wäre die Menschheit heute ärmer. […] 
Die vorliegende Publikation ist dem Problem der Herausbildung philosophischen Denkens gewidmet, dem Anfang philosophischen Bewußtseins, und sie möchte damit selbst in gewissem Sinne einen Anfang machen. Sie enthält Beiträge zur gleichen Problematik, in unterschiedlichen Regionen betrachtet. Die Verfasser sind sich bewußt, daß dies erst Voraussetzung für eine Art Zusammenschau ist, der eigentliche Vergleich aber noch aussteht. Dabei kann auch nicht der Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden. Nichtsdestoweniger hoffen die Autoren, Anstöße zu liefern für die Ausarbeitung einer vergleichenden Philosophiegeschichte auf marxistischer Grundlage. Diese steht – so scheint es den Autoren – auf der Tagesordnung der Wissenschaftsentwicklung. Der Vergleich setzt die Bestandsaufnahme des Faktischen voraus, aber auch in dieser Hinsicht bleibt noch viel zu tun. […] 

Was die Beiträge auf den ersten Blick zeigen, ist die faszinierende Vielgestaltigkeit bei der Entstehung von philosophischem Denken. Erkennbar wird jedoch, daß die Entstehung von Philosophemen eindeutiger gesellschaftlicher Bedingungen bedurfte. Als übereinstimmende Voraussetzung wird eine bestimmte Form von früher Klassengesellschaft, so etwa die Sklaverei in Griechenland, die altorientalische Klassengesellschaft in Indien oder China, und damit in Verbindung die in den jeweiligen Gesellschaften vollzogene Trennung von körperlicher und geistiger Arbeit festgestellt. Es bestätigt sich, daß die Entstehung von philosophischem Denken an entsprechende weltanschaulich-ideologische Bedürfnisse gebunden ist, die sich im Prozeß der praktischen Aneignung der Welt durch den Menschen und der damit verbundenen Entwicklung seiner gesellschaftlichen Lebensform ausgebildet haben, dies auf dem Boden einer Evolution von Kultur allgemein und damit auch von Wissen über die Umwelt schlechthin. […] 

In Indien, China und Griechenland hat sich philosophisches Denken als solches autochthon ausgeprägt, wenngleich gerade in Griechenland Elemente anderer Kulturen – so Ägyptens – mit zur Schaffung von Voraussetzungen dafür beigetragen haben. Es fällt auf, daß dort, wo philosophisches Denken als solches autochthon entstanden ist, dies in deutlicher Distanz zu vorangegangenen religiösen Vorstellungen geschah, als unleugbare Revolution im Denken, wobei in China philosophisches Bewußtsein der ethico-politischen Problematik untergeordnet war und in gewisser Weise von ihr bestimmt wurde. Im Prozeß der Rezeption chinesischen Kulturerbes entstand philosophisches Denken in Japan mehr als ein Jahrtausend später. Im Nahen Osten hat sich Philosophie etwa zeitgleich mit der Entstehung japanischen philosophischen Denkens unter fundamentalem Einfluß der antiken griechischen Philosophie ausgebildet. Hinsichtlich der geistigen Entwicklung Lateinamerikas sind zwei inhaltlich und zeitlich verschiedene Etappen zu berücksichtigen: einmal eine eigenständige Ausbildung protophilosophischer Elemente in vorkolumbischer Zeit (vor allem im 15. Jahrhundert), die ihre enge Verflechtung mit überkommener Religion und Mythologie bewahrten, und zum anderen die Zeit nach der Conquista (Eroberung) mit der beginnenden Rezeption europäischer, vor allem spanischer Philosophie. Im subsaharischen Afrika wiederum bildeten sich im Rahmen vorkolonialer Entwicklung einerseits in bestimmten Gebieten (so in Teilen Westafrikas) - in gewissem Sinne analog zur Entwicklung in Lateinamerika – protophilosophische Elemente in einer von Religion und Mythen bestimmten Weltanschauung aus. Andererseits zeigen sich – lokal begrenzt – Einflüsse europäisch-arabischen Denkens. Mit dem Ende des zweiten Weltkrieges formte sich hier in Zusammenhang mit der revolutionären nationalen Befreiungsbewegung Philosophie als theoretische Disziplin.“

(Wie und warum entstand Philosophie in verschiedenen Regionen der Erde? Hg. v. Klaus Dieter Eichler, Ralf Moritz. Berlin 1988, S. 5-9.)

Mit diesem Buch treten erstmals in der Philosophiegeschichtsschreibung verstärkt und gleichberechtigt afrikanischen und südamerikanische Perspektiven der Philosophie in die Aufmerksamkeit. Mit dieser Erweiterung ergeben sich Fragen, die bis heute kontrovers diskutiert werden. Für viele ist die Einbeziehung Indiens und Chinas in die Philosophiegeschichte nicht wirklich problematisch, aber die Einbeziehung Afrikas und Südamerikas ist weit davon entfernt, selbstverständlich zu sein. Durch die marxistische Perspektive, die per definitionem in der DDR eine „internationale“ war, wurden in dem Band Grenzen überwunden, die im damaligen Westdeutschland noch festen Bestand hatten.

(Auszug aus: Elberfeld, Rolf: Philosophiegeschichtsschreibung in globaler Perspektive. Felix Meiner Verlag: Hamburg 2017, S. 295–98.)