Bewertungskompetenz: Urteilen und Entscheiden

Bewertungskompetenz ist Ankerpunkt einer Vielzahl von Arbeiten der AG Fachdidaktische Forschung. Allen Arbeiten liegt ein auf Partizipation zielendes und kontextsensitives Verständnis von Bewertungskompetenz zugrunde. Wir stellen uns damit in eine Tradition fachdidaktischer Forschung und Lehre, die die politische und emanzipatorische Dimension naturwissenschaftlicher Bildung anerkennt und bearbeitet, was zugleich eine kritische Auseinandersetzung mit psychometrischen Modellen der Kompetenzdiagnostik bedeutet.

Die bildungstheoretische Fundierung bedeutet vor allem, dass Urteile und Entscheidungen immer auch vor dem Hintergrund ihrer biographische Verankerung verstanden werden müssen. Diese führt dazu, dass viele Entscheidungen gar nicht als solche wahrgenommen werden, weil das Handeln auf selbstverständliche Weise auf Erfahrungen und Routinen basiert. Häufig sind es erst Entscheidungen einer gewissen Tragweite oder Iritationsmomente (bis hin zu Krisen), die eine bewusste Auseinandersetzung mit etablierten Routinen hervorrufen, was die Basis der bildungstheoretischen Bedeutung von Krisen für die Entwicklung von Bewertungskompetenz aufzeigt. Gerade die Reflexion moralischer Intuitionen stellt daher ein zentrales Element subjektorientierter Förder- und Forschungsansätze ethischer Bewertungskompetenz dar. Der Einsatz von Reflexionsphasen auf die Enwicklung von Bewertungskompetenz bei nachhaltigkeitsbezogenen Entscheidungen wird im Rahmen des Promotionsvorhabens von Christina Priert untersucht.

In Hinblick auf eine Erweiterung der theoretischen Bezugspunkte in der naturwissenschaftsdidaktischen Forschung über Bewertungskompetenz fokussieren wir die Bedeutung von krisenhaften Bildungsprozessen, von intuitiven Urteilen sowie von verinnerlichten Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata beim Bewerten und Beurteilen ethischer Fragen. Dieser Zugang impliziert forschungsmethodisch die Verwendung rekonstruktiver qualitativer Forschungsmethoden, da die Ursachen und Gründe für bestimtme Entscheidungen den Individuen selbst in der Regel nicht bewusst sind und erst durch Reflexionsphasen in Ansätzen zutage treten. Eine genauere Schilderung der methodischen Verankerung finden Sie in der AG Methodenwerkstatt.

Zusammenfassend ergeben sich folgende Setzungen für unser Verständnis von Bewertungskompetenz:

1.       Bildungsprozesse sind subjektbezogen und führen durch krisenhafte Auseinandersetzung zur Veränderung des Selbst- und Weltverhältnisses (Koller 2007).

2.       Ausgangspunkt ethischer Bildungsprozesse sind unsere Intuitionen (Haidt 2001) und unsere verinnerlichten Erfahrungen, die sich im Habitus ausdrücken (Bourdieu 1998).

3.       Auch naturwissenschaftliche Bildung trägt zur Partizipationsfähigkeit und damit zur Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse bei (Freise 1994).

Im Lichte der dargelegten Theoriebezüge wird ein Rahmenmodell[1] zur Förderung und Erforschung ethischer Bewertungskompetenz postuliert, das Reflexion als zentrales Element ausweist und die Bezugspunkte „Intuition“, „Habitus“, „Krise“ und „Partizipation“ integriert.

In einem weiteren Promotionsvorhaben „Bewertungs­kompetenz – Aufgaben richtig verstehen“ werden Aufgaben zur Messung von Bewertungskompetenz analysiert. Hintergrund ist der Diskurs um die theoretische Fundierung und Modellierung der Bewertungskompetenz. Prominente Modelle (u.a. Eggert & Bögeholz, 2006; Hostenbach, 2011) konzipieren diese wesentlich auf Basis des rational- choice-Paradigmas. Dagegen ist einzuwenden, dass implizite bzw. intuitive menschliche Entscheidungsprozesse in ihrer Bedeutung dabei zu wenig berücksichtigt würden (Dittmer et al., 2013; Hößle & Menthe, 2013; Düker & Menthe, 2016; Sander, 2016). Dafür werden Befunde aus der Entscheidungspsychologie und der Soziologie herangezogen (u.a. Bourdieu, 2001; Haidt, 2001; Strack & Deutsch, 2004; Kahneman, 2012).

 


[1] Eine ausführlichere Darstellung der hier genannten Theoriebezüge und des Rahmenmodells haben wir in der Zeitschrift für Didaktik der Naturwissenschaften dargelegt (Dittmer, Gebhard, Höttecke & Menthe, 2017).