Geographie-Professor Dr. Martin Sauerwein: „Das Reiseverbot war erstmal ein Schock“

mardi, 01. décembre 2020 um 10:28 Uhr

Geographische Forschung lebt von der räumlichen Erkundung. Normalerweise. Doch jetzt ist alles anders. Teil 1 der Serie "Forschung in Zeiten der Pandemie".

Die Geographie beschäftigt sich mit dem Wirkungsgefüge physischer, biotischer und anthropogener Sachverhalte, die sich auf die Struktur und Entwicklung der dreidimensionalen Landschaftshülle der Erde auswirken. So lässt sich die aus einem geographischen Wörterbuch entnommene Definition des früher Erdkunde genannten Fachgebiets zusammenfassen. Geradezu zwangsläufig ergibt sich daraus, dass, wer die Erde erkunden will, diese auch bereisen muss. Doch das ist in Zeiten einer weltweiten Pandemie nur noch sehr eingeschränkt möglich, berichtet Prof. Dr. Martin Sauerwein, geschäftsführender Direktor des Instituts für Geographie an der Uni Hildesheim: „Als die Universitätsleitung uns im ersten Lock-Down Ende März ein Reiseverbot ausgesprochen hat, war das erstmal ein Schock.“ Selbstverständlich habe er Verständnis für die Notwendigkeit der Maßnahme gehabt, fügt Sauerwein hinzu, doch stellte sie die gesamte Planung der kommenden Monate auf den Kopf. „Genau zu der Zeit, Anfang April, hatten wir einen Geländeaufenthalt im ligurischen Nationalpark Cinque Terre geplant. Mit dem dortigen Projekt ist auch eine Dissertation verbunden.“

Doktorand Moritz Sandner erforscht in Italien den Landnutzungswandel der historischen Weinbauterrassen. Die früher kleinbäuerlichen Strukturen befinden sich seit mehr als 50 Jahren in Auflösung, und die nicht mehr für den Anbau genutzten Terrassen verfallen zusehends. Die Folge: Verlust der historischen Kulturlandschaft und Erdrutsche, die auch eine Gefahr für die bei Touristen beliebten namensgebenden fünf Küstendörfer darstellen. Doch wie will man die Vegetation kartieren und theoretische Überlegungen validieren, ohne selbst vor Ort zu sein? „Zum Glück waren wir bereits vor Corona dort und haben Daten gesammelt, auf die wir nun zurückgreifen können“, sagt Sauerwein. „Und es gibt durchaus auch Möglichkeiten der Fernerkundung.“ Dennoch habe der Ausfall der diesjährigen Arbeiten Sandner ein halbes Jahr gekostet, das er nun an seine Promotionszeit anhängen muss.

Was aus weiteren Geländeerkundungen in Cinque Terre wird, steht derweil noch immer in den Sternen – ebenso wie bei einem weiteren, ursprünglich für das Jahr 2021 gemeinsam mit der Uni Bozen geplanten Forschungsprojekt im Nationalpark Parco della Maremma Toskana). „Diese Reise haben wir inzwischen ganz abgesagt, beziehungsweise auf 2022 verschoben“, sagt Sauerwein. Und auch die Planung einer für März angedachten Exkursion nach Salzburg liegt auf Eis: zu hoch das finanzielle Risiko, falls kurzfristig storniert werden müsste. „Für den Sommer 2021 brauchen wir für alles einen Plan B“, sagt Sauerwein, „aber wir hoffen, dass wir vieles im Jahr 2022 nachholen können.“

Statt großer Auslandsexkursionen – für Geographie-Studierende in der Regel ein absolutes Highlight ihres Studiums – setzt man am Institut für Geographie nun erstmal vermehrt auf kleinere Tagesexkursionen und Geländeübungen. Denn die können mit entsprechendem Hygienekonzept meist noch ganz gut umgesetzt werden. „Aber auch da haben wir durch die begrenzte Teilnehmerzahl einen deutlich höheren Aufwand“, macht Sauerwein deutlich. „Wo ich früher mit 20 Studierenden losgefahren bin, müssen jetzt zwei Gruppen mit je zehn Leuten starten. Und bei Anreise mit dem Auto dürfen nur noch zwei Personen pro Fahrzeug mitfahren.“ Statt wie bei manchen digitalen Formaten mit weniger Lehrpersonal auszukommen, benötigt die Arbeit im Gelände nun doppelt so viel.

Dankbar ist Sauerwein der Universitätsleitung dafür, dass sie solche Ausflüge im Namen der Wissenschaft innerhalb Deutschlands weiterhin zulässt, denn so können zumindest Inlandsforschungen wie das Projekt zur Revitalisierung von Mooren in Brandenburg relativ problemlos fortgesetzt werden. Und eine Geographie ganz ohne Erkundungsfahrten wäre wohl auch fast undenkbar.

Text: Sara Reinke

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Vegetationskartierung im Nationalpark Cinque Terre. Foto: Moritz Sandner

Die Weinbauterrassen oberhalb der Küstenorte werden immer seltener traditionell bewirtschaftet. Das hat Folgen für die Landschaft und die Menschen. Foto: Moritz Sandner

Prof. Dr. Martin Sauerwein. Foto: Daniel Kunzfeld