Theater

Die ästhetische Praxis des Theaters

Theater ist Kunst und Ereignis. Vor allen Dingen ist Theater aber immer auch eine ästhetische und soziale Praxis, d.h. ein performatives Tun und Machen – und als solches körperlich tradiert, medial bedingt und kulturell verortet. Ein solches ostentatives Schaustellen, das allen theatralen Vorgängen zu Grunde liegt, manifestiert sich in der kulturell kontingenten Anordnung von Aktion und Rezeption, wo Handlungsmöglichkeiten und Wahrnehmungsräume zugleich eröffnet und eingeschränkt werden. Diese lassen sich nicht nur in den Aufführungen des ausspezialisierten Kunsttheaters der Moderne finden, sondern auch in Alltag, Politik, Medien, Einkaufspassagen, Parlamenten und Fernsehsendungen.

Theater ist – mit anderen Worten – nie nur Kunst, immer aber ästhetische Praxis. Und eben diese theatrale Praxis in Gegenwart und Geschichte, im intermedialen und interkulturellen Kontext inspiriert und konstituiert die zentralen Forschungsperspektiven der Hildesheimer Theaterwissenschaft. Neben den bewährten Verfahren der Theatersemiotik, Aufführungsanalyse und Theaterhistoriographie richtet sich das Interesse verstärkt auf die Entwicklung einer praxeologischen Perspektive auf Theater und Theatralität. Einerseits geht es dabei um die Entwicklung neuer Methoden und Verfahren zur Erforschung theatraler Arbeitsformen und Produktionsweisen, andererseits stellt sie die Frage nach der theatralen Praxis selbst als ein epistemisches Verfahren, das künstlerisches Tun als eigenständige Form der Beobachtung und Reflexion begreift.

In Anknüpfung an frühere Forschungen des Instituts zur Kollektiven Kreativität, im interdisziplinären Verbund des Fachbereichs Kulturwissenschaften und des Herder Kollegs für transdisziplinäre Kulturforschung sowie in enger Anbindung an die zeitgenössische Theaterkultur haben sich so vier Forschungsschwerpunkte etabliert:

  1. Praktiken der Produktion. Wechselwirkungen von Arbeit und Ästhetik
  2. Theater und seine Vermittlung
  3. Theater wird gemacht! Forschende Theaterpraxis in Hildesheim
  4. Schriftenreihe Medien und Theater
  5. Performance und die Macht des Schwächeren: Unpünktlichkeit, Ersetzbarkeit, Niedlichkeit

1. Praktiken der Produktion. Wechselwirkungen von Arbeit und Ästhetik

Prozesse des künstlerischen Produzierens bringen eigene Formen des Wissens hervor. In künstlerischen Arbeitsprozessen werden spezifische und individuelle Problemstellungen formuliert, für die je eigene Lösungen generiert werden. Diese gehen oft über das bereits Denkbare hinaus und werden wiederum selbst diskursiv reflektiert zu eigenen Theorien des künstlerischen Produzierens. Im Entwerfen, Proben, Konzipieren, Skizzieren, Überarbeiten, Korrigieren wird künstlerisches Gestalten als Kulturtechnik verstanden, die in ihrer historischen Verfasstheit erforscht wird. Formen des Probens und Hervorbringens von Inszenierungen – jenseits der konkreten Aufführung – sind in der theaterwissenschaftlichen Forschung der letzten Jahre allerdings kaum beachtet worden. Mit der Kritik an einer Produktionsästhetik, die auf eine Ermittlung von Intentionen und Wirkungsabsichten zielt, rückte die Erforschung des kreativen Prozesses selbst aus dem Fokus des wissenschaftlichen Interesses.

Hier nimmt das Forschungsprojekt, ausgehend von den Erkenntnissen der jüngeren Forschung zur Performativität kultureller Prozesse, eine Neuausrichtung vor: Es wird nicht mehr nach dem Künstler-Subjekt als Urheber und Initiator wird gefragt. Vielmehr rücken die Prozesse des Herstellens und Hervorbringens in den Fokus – die Techniken, Methoden und Verfahren des künstlerischen Prozesses, die sich einer intentionalen Ausrichtung des Tuns entziehen. Die Probe wird als eigene Form der Inszenierung künstlerischer Praxis erforscht.

 

a. DFG-Forschungsgruppe „Krisengefüge der Künste. Transformationsdynamiken in den darstellenden Künsten der Gegenwart“

Teilprojekt 2: „Markt als Krise: Internationalisierung des Freien Theaters in Deutschland – Förderökonomie, Kooperationsräume, Ästhetiken“ (Laufzeit 2012-2024)

Leitung: Prof. Dr. Axel Haunschild (Leibniz Universität Hannover), Prof. Dr. Jens Roselt (Universität Hildesheim)

Mitarbeitende: Silke zum Eschenhoff, Anja Quickert

Forschungsprogramm: Das Freie Theater in Deutschland ist durch eine zunehmende Internationalisierung geprägt, die sich z.B. in länderübergreifenden Kooperationen, internationalen Festivals und Gastspielen sowie Artist-in-Residence-Programmen widerspiegelt und Eingang in die Bewertungskriterien der Förderinstitutionen gefunden hat. Das Teilprojekt „Markt als Krise“ hat zum Ziel, Pfade und Auswirkungen der Internationalisierung des Freien Theaters in Deutschland empirisch zu untersuchen. Die Forschung zum International (Human Resource) Management untersucht seit mehreren Jahrzehnten, wie in multinationalen Unternehmen und Kooperationen unterschiedlich kulturell und institutionell geprägte Praktiken lokal zusammenwirken, welche neuen Praktiken sich hierbei herausbilden und inwiefern diese durch globale Konvergenz, dominante nationale Praktiken, lokale Beharrung oder auch Neuschöpfungen geprägt werden. Für die darstellenden Künste – und hier die freie Theaterarbeit – stehen solche Analysen noch aus. Auch für die Sozialwissenschaften versprechen derartige Analysen weiterführende Erkenntnisse, da anders als in den meisten ökonomischen Kontexten mit mehr oder weniger standardisierten Produkten in der Kunst das Produkt selbst in besonderer Weise kulturell definiert und bewertet wird. Das „re-making“ lokaler Praktiken verdeutlicht, dass das Internationale nicht nur anderswo, sondern gerade auch im Lokalen untersucht werden kann und muss. Die im Teilprojekt eingenommene Analyseperspektive ist daher, das Internationale im Sinne der Gleichzeitigkeit und Vielfalt von kulturellen, organisationalen, institutionellen und theaterästhetischen Praktiken und Traditionen in lokalen freien Theaterszenen zu betrachten. Interdisziplinarität ergibt sich im Teilprojekt nicht nur aus der Einbettung in die Forschungsgruppe „Krisengefüge der Künste“, sondern aus der konsequenten teilprojektbezogenen Verzahnung einer arbeitswissenschaftlichen mit einer theaterwissenschaftlichen Perspektive. Nur dieses Zusammenführen der Perspektiven erlaubt es, das Zusammenwirken von kulturpolitischen Rahmenbedingungen, Arbeits- und Produktionsbedingungen sowie künstlerisch-ästhetischen Aspekten fundiert zu untersuchen. Die empirische Erhebung und Untersuchung konzentriert sich auf die freien Theaterszenen in Niedersachsen und Berlin. Die übergeordnete Zielsetzung des Projekts wird entlang der folgenden Untersuchungsfelder konkretisiert: (1) Förderpolitik und Internationalisierung, (2) Arbeits- und Produktionsbedingungen, (3) Räume der internationalen Kooperation und Einfluss der Digitalisierung und (4) Ästhetik(en) internationalisierter Theaterproduktionen.

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2. Theater und Vermittlung

Der Forschungsschwerpunkt legt das Untersuchungsinteresse auf Begegnungen von Kindern und Jugendlichen mit ästhetischen Verfahren zeitgenössischen Theaters und der Performancekunst. Vor dem Hintergrund einer wachsenden Zahl künstlerisch ambitionierter Theaterproduktionen für junge Zuschauer einerseits und der andererseits nahezu fehlenden Reflexion und Vermittlung der Kunstform Theater im deutschen Schulsystem, zielt dieses Projekt darauf, Rezeptionsprozesse junger Zuschauer, Modelle der Rahmung von Aufführungen an den institutionalisierten Theatern sowie Aneignungen postdramatischer Verfahren von Kindern und Jugendlichen im eigenen Spiel zu erforschen.

a. doing reception. Rezeptionsprozesse von Kindern und Jugendlichen im Theater

Die Aufgabe und Herausforderung von Rezeptionsforschung besteht zum einen darin, Aufführungen als Wechselspiel zwischen Bühne und Zuschauerraum zu beschreiben. Was genau machen Kinder in einer Aufführung? Zum anderen fragt das Projekt nach Rezeptionsvoraussetzungen und Rezeptionsbedürfnissen, die junge Zuschauer ins Theater mitbringen. Die theaterwissenschaftlich fundierte Rezeptionsforschung zielt dabei nicht primär darauf, die Erfahrungen und möglichen Wirkungen des Theater auf die Kinder zu beschreiben. Sie versteht sich vielmehr als Untersuchung von Aufführungen, die nur im Zusammenspiel mit ihren Zuschauern entstehen. Das Projekt schließt an die kameraethnographische Studie „Wechselspiele im Experimentierfeld Kindertheater“ (2009) an.

b. Modelle der Rahmung von Aufführungen – zur theaterpädagogischen Praxis an deutschen Theatern

Die Heterogenität der Spielweisen und Darstellungsformen im zeitgenössischen Theater und die Diversität heutiger Theaterpublika fordert eine immer wieder neu zu leistende Reflexion und Vermittlung von Spielvereinbarungen. Im deutschen Theatersystem hat sich im Zuge der letzten 20 Jahre das Praxisfeld Theaterpädagogik entwickelt, dessen Aktivitäten dazu beizutragen sollen, Zuschauern – insbesondere Kindern und Jugendlichen – eine neue Souveränität als ‚co-creators’ (Kattwinkel) des Theaters zu eröffnen. Eine Reflexion der impliziten theatertheoretischen Prämissen dieser Vermittlungspraxis hat bisher allerdings ebenso wenig stattgefunden, wie eine systematische Beschreibung der vorhandenen Formate und ihrer spezifischen Vermittlungsleistung. Anhand ausgewählter Beispiele werden insbesondere handlungsorientierte Ansätze theaterpädagogischer Vermittlung untersucht, die eine Aneignung postdramatischer Verfahren im eigenen Spiel von Kindern und Jugendlichen initiieren. 

 

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3. Theater wird gemacht! Forschende Theaterpraxis in Hildesheim

Der Hildesheimer Forschungsschwerpunkt Forschende Theaterpraxis geht von der Annahme aus, dass in Prozessen des künstlerischen Produzierens unterschiedliche Formen des Wissens angewendet und transformiert oder hervorgebracht werden, die in Körperpraktiken, Arbeitstechniken und ästhetischen Verfahren zum Ausdruck kommen. Jede Art von Theaterarbeit ist demnach sowohl durch theoriegeleitete als auch durch praxisorientierte Prozeduren gekennzeichnet, deren spezifisches Verhältnis in Probenprozessen kenntlich wird. Im Gegensatz zu neueren Ansätzen der „künstlerischen Forschung“, „Kunst als Forschung“ oder „practice as research“ gehen wir hingegen nicht davon aus, dass jedes künstlerische Tun als Forschung zu begreifen ist. Wir verstehen die künstlerische Praxis vielmehr als ein Untersuchungsfeld, das Wissen generiert und reflektiert. Wir suchen nicht nach einer Formel für die Entgrenzung von Theorie und Praxis, sondern entwickeln Modelle für den Zwischenraum oder das Wechselverhältnis von ‚knowing how‘ und ‚knowing that‘ (Gilbert Ryle). Die wissenschaftliche Aufmerksamkeit richtet sich damit auf die Gesten zwischen Theorie und Praxis sowie deren historische Dimensionen und strukturelle Voraussetzungen.

Die Forschende Theaterpraxis in Hildesheim legt ihren Schwerpunkt auf die wissenschaftliche Untersuchung der Probe im Theater, die ein Desiderat der Theaterwissenschaft ist. Unsere Prämisse lautet: Die Art und Weise, wie Theater gemacht wird, hat entscheidenden Einfluss darauf, was für ein Theater dabei entsteht. Das Forschungsfeld wird in fünf Richtungen entwickelt:

Theorie der Probe: Die Theaterprobe wird als Modell für kreative Prozesse, die sich kollektiv und ereignishaft vollziehen, reflektiert.

Analyse von Proben: Es werden Verfahren der Probenprozessforschung entwickelt. Hierzu zählen Methoden der (teilnehmenden) Probenbeobachtung und der Probendokumentation.

Historiographie der Probe: Mit der Probe wird ein bisher weitgehend unbeachtet gebliebenes Kapitel der Theatergeschichte systematisch aufgearbeitet. Dabei werden die historischen Voraussetzungen und strukturellen Bedingungen von Theaterarbeit ermittelt und untersucht.

Diskursivierung von Proben: Die Thematisierung und Auseinandersetzung mit Probenprozessen in anderen Medien (Filme, Romane usw.) sowie die selbstreflexive Darstellung von Probenprozessen in Dramen oder Theaterinszenierungen soll Aufschluss darüber geben, durch welche Perspektiven Proben in den Blick geraten können und wie dieser medial organisiert ist.

Didaktik der Probe: Im Rahmen der Forschenden Theaterpraxis ist die Initiierung von Probenprozessen ein integraler Bestandteil der universitären Lehre. Hierzu werden entsprechende Lehrformate (Einzelprojekte, Projektsemester, Übungen) angewendet und weiterentwickelt. Unter Einbezug von Praktikern (künstlerische Gastprofessur) wird eine produktionsästhetische Perspektive eingenommen, um im Theaterlaboratorium (Burgtheater und zwei Probenbühnen) theatrale Praktiken und Verfahren experimentell zu erforschen.

Ziel des Forschungsschwerpunkts ist es schließlich, die unterschiedlichen Wissensformen der performativen Künste zu analysieren und zu systematisieren, um sie der Theoriebildung zu erschließen.

 

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4. Schriftenreihe Medien und Theater (Herausgegeben von Prof. Dr. Maike Gunsilius, Prof. Dr. Annemarie Matzke und Prof. Dr. Jens Roselt)

Band 18: Ekaterina Sophia Trachsel (2023): De-Montage im zeitgenössischen Theater

Band 17: Anna Wieczorek (2023): Historische (Re-)Formulierungen Zum Umgang mit Zeit in der choreografischen Praxis von Trajal Harrell und Faustin Linyekula

 

Band 16: Vera Nitsche (2022): Vom Gespenst des Kommunismus zum Geist des Neoliberalismus Kollektive Produktionsverfahren am Theater in den 1960er-/70er-Jahren und zu Beginn des 21. Jahrhunderts am Beispiel der Schaubühne am Halleschen Ufer sowie She She Pop und Gob Squad

 

Band 15: Anne Bonfert (2021): Das Politische der zeitgenössischen theatralen Praxis als kritische Erprobung von Produktionszusammenhängen am Beispiel von Theaterkollektiven

 

Eine erweiterte Liste der Bände der Schriftenreihe, die bisher im Universitätsverlag erschienen sind, findet sich hier

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5. Performance und die Macht des Schwächeren: Unpünktlichkeit, Ersetzbarkeit, Niedlichkeit

DFG-Heisenberg-Projekt von PD Dr. Kai van Eikels

Beginnend im Dezember 2023, führt Kai van Eikels sein Heisenberg-Forschungsprojekt „Performance und die Macht des Schwächeren: Unpünktlichkeit, Ersetzbarkeit, Niedlichkeit“ am Institut für Medien, Theater und populäre Kultur der Universität Hildesheim durch.

Performance besteht in dem, was Körper vollziehen. Sie findet sich regulär in der Position des Schwächeren – im Verhältnis sowohl zu juridisch-institutioneller Macht als auch zu jenen materiell-energetischen Fakten, durch die das Herstellen seine weltverändernde Macht erlangt. Die Autorität von Gesetzen; die Exekutivmacht von staatlichen, teils privatisierten Regulierungen; die Gewalt, die souveräne Instanzen ausüben lassen oder androhen; und die Sachzwänge infrastrukturell objektivierter Produktions- und Distributionsökonomien – all das ist zu einer überwältigenden Wirksamkeit aggregiert, gegen die körperliches Vollziehen offenbar wenig vermag.

In dem Projekt geht es darum, dieses Wenige präziser zu benennen, seine Möglichkeiten und (Un-)Wahrscheinlichkeiten zu erörtern. Die Wirkungsperspektive für performative Künste liegt in der modernen Welt kaum mehr darin, eine Mehrheit oder statistisch relevante Minderheit („kritische Masse“) von Zuschauer*innen politisch zu überzeugen. Ein Wirkungspotenzial haben diese Künste darin, dass sie Praxen darbieten und vorschlagen – das heißt etwas, das so in die Welt gelangt und dadurch in der Welt gehalten wird, dass immer wieder einmal jemand es vollzieht, und das sich in kollektiven Dynamiken des Vollziehens zeitweise verstetigen kann.

Für die politische Valenz solcher Praktiken kommt es weniger darauf an, ob sie gegenwärtig breit popularisierbar sind, als vielmehr darauf, dass das Vollziehen selbst über Techniken und Ressourcen verfügt, um sie weiterzutragen, ihnen ein Überdauern zu organisieren. Kraft der Evidenz körperlichen Vollziehens demonstrieren die Praxen in einem „to whom it may concern“-Modus, dass jede*r tun kann, was die Künstler*innen tun, die sie im Rahmen ihrer spezifischen Ästhetiken ersinnen.

In diesem Sinne analysiert das Projekt Performances unter den folgenden drei Aspekten:

 

1. Unpünktlichkeit

In dem Maße, wie der moderne Nationalstaat sich als maßgebliche Herrschafts- und Verwaltungsinstanz etabliert, fällt Zeitherstellung in die Zuständigkeit des politischen Souveräns. Sie ist geregelt durch entsprechende Gesetze und institutionelle Befugnisse, „primäre Uhren“ zu unterhalten, deren verbindliche Normzeit sämtliche „sekundären Uhren“ informiert. Die staatliche Standardisierung von Zeit ist dabei in hohem Maße ökonomisch motiviert. Sie erfolgt in Europa im späten 19. Jh. auf Forderung der Unternehmen und spielt eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des globalen Kapitalismus und seiner weltweiten Logistik, die koloniale Verhältnisse verlängert.

Performance kann in eine Auseinandersetzung mit souveräner Macht eintreten, indem sie die Körperzeitlichkeiten des Vollziehens mit Uhrzeit konfrontiert: Welche Auswirkungen haben chronometrische Informationen auf Körper und deren kollektive Synchronisierungen? Welche Kräfteverhältnisse manifestieren sich in den Begegnungszonen von zentral administrierter Zeitgebung und marginalen ästhetischen Praxen? Welche Macht wohnt der konstitutiven Unpünktlichkeit von Körpern inne, die über keinen zentralen inneren Taktgeber verfügen, sondern ihre zeitliche Wirklichkeit des (Zusammen-)Lebens immerzu erst aus den Interferenzen vieler Temporalitäten ermitteln?

 

2. Ersetzbarkeit

An Vorgängen des Ersetzens zeigt sich exemplarisch das Kräfteverhältnis von Körpern und Institutionen. Gerade für ein vollziehendes Handeln, das keine zeitbeständigen Werke hervorbringt, sondern irgendwann aufhört, ist es wichtig, dass die Praxis von der handelnden Person immer wieder aufgenommen oder von anderen fortgeführt werden kann. Phasen des Ersetzens sind oft heikel, manchmal gar systemgefährdend. Obgleich eine Institution umso stärker erscheint, je gleichgültiger ihre Strukturen sich gegenüber den auswechselbaren Arbeitenden verhalten, bleibt sie darauf angewiesen, dass diese mit der Ersetzung kooperieren – und von dieser Kooperation her zeigen sich unterschiedliche Optionen für die Körper, ihre Schwäche zum Einsatz in Machtkämpfen und spielen zu machen.

An Beispielen des Ersetzens in Theater- und Tanz-Performances untersucht das Projekt Beziehungen zwischen Ethik, Ökonomie und Ästhetik in einer durch postfordistische Arbeitsverhältnisse geprägten Gesellschaft. Um der Untersuchung eine historische Kontur zu geben, werden vergleichend Brechts noch im Geist der Moderne erhobene Forderung nach einer Affirmation von Ersetzbarkeit („sich entbehrlich machen“) und sein Entwurf einer Lehrstück-Praxis herangezogen: Wie können wir uns darin üben, nicht dermaßen verzweifelt darauf hinzuarbeiten, dass das System uns weiterbeschäftigt, sondern die Freiheit eines Einverständnisses in die eigene Endlichkeit (wieder-)gewinnen?

 

3. Niedlichkeit

Die affektive Macht, die das Niedliche ausübt, diene dem Schutz der Schwächsten, lautete die Erklärung, die Konrad Lorenz in den 1950er Jahren anhand eines Vergleichs zwischen jungen Säugetieren und menschlichen Kindern gab: Das „Kindchenschema“ – großer Kopf im Verhältnis zum Rumpf; große, tief liegende Augen; kleine Nase, kleiner Mund; kurze Extremitäten – löse bei Erwachsenen einen „Schutzreflex“ aus.

Aktuelle Forschung korrigiert die Behauptungen des Biologen, dessen Verhaltenslehre auch durch seine Nähe zum Nationalsozialismus in Verruf geraten ist: Niedlichkeit stimuliert sowohl „care affects“ als auch „play affects“. Sie regt Formen von Kommunikation an, die der relativen Schwäche der noch jungen Lebewesen Rechnung tragen, aber im Modus des Spiels durchaus auch kalkulierte Riskanz, das Austesten konflikthafter Situationen und die Suche nach Sublimierungsoptionen für Aggressionen und unerfüllbare Wünsche einschließen.

Im 20. und 21. Jh. etabliert sich mit dem japanischen kawaii eine populäre Niedlichkeitsästhetik mit globaler Resonanz. Ein Grund für den Erfolg von kawaii Manga und Anime in Japan liegt darin, dass deren Darstellungen schon seit Jahrzehnten in einer Anzahl performativer Praktiken verankert sind. Der Akzent auf der Verkörperung, wie im Cosplay, hat kawaii-Ästhetik aus der Abhängigkeit von kommerziellen Normierungen so weit gelöst, dass sich bis heute immerzu neue subkulturelle Varianten entwickeln – darunter hentai kawaii (‚perverse cute‘) mit einer offenen Grenze zum Pornografischen, kimo kawaii (‚creepy cute‘) und guro kawaii (‚grotesque cute‘) mit Affinität zu Horror und Splatter sowie yami kawaii (‚dark/sinister cute‘), wo Figuren mit Depressionen und Angststörungen im Mittelpunkt stehen.

Das Projekt widmet sich sozialen Praxen und künstlerischen Strategien der Verkörperung von kawaii-Figuren mit der Frage, was die Orientierung an einem gezeichneten Schema aus den Körpern macht: Kawaii-Niedlichkeit zieht alles ins Zweidimensionale und schickt es von dorther in die jeweilige Ausdehnung zurück. Das hat befreiende und ermächtigende Wirkungen. Es erleichtert es bspw., Grenzen zwischen männlich und weiblich, Mensch und Tier, Mensch und Ding oder Maschine, Einzelwesen und Umwelt zu überschreiten oder zu suspendieren. Niedlichkeitseffekte kommen damit queeren Subjektivierungen zugute. So nimmt eine jüngere Generation von Künstler*innen die transgressiven Impulse der queerfeministischen Performance und Body Art aus den 1970er und 80er Jahren wieder auf und verknüpft sie mit kawaii Designs.

Darum, welche Effekte Niedlichkeit haben darf, ist allerdings längst ein Kampf entbrannt: Auf der einen Seite helfen die performativen Ermächtigungen einem politischen Aktivismus – für den Online-Aktivismus formulierte etwa Ethan Zuckerman die „cute cat theory“, und der Umweltaktivismus in Japan brachte nach dem nuklearen Desaster in Fukushima 2011 Formen von „kawaii direct action“ (Gonoi) hervor. Auf der anderen Seite manipulieren Staaten und Konzerne die Bevölkerung durch putzige Maskottchen oder Polizeifahrzeuge, die wie Mangafiguren ausschauen, und auch die extreme Rechte macht von der Selbstverharmlosung durch niedliche Avatare Gebrauch.

Zudem stehen weltweit die entgrenzende, freie Übertragungen stimulierende kawaii-Ästhetik und die hyperdefinierte Disney-Cuteness, die den Körper mit Petitessen überzieht und selbst in die Kontur des Zierlichen zwingt, in einer nicht nur ökonomischen, sondern auch kulturellen und gesellschaftspolitischen Konkurrenz. Das Projekt sucht angesichts dieser Kämpfe nach Kriterien, um das Niedliche körperpolitisch zu verstehen und emanzipative Niedlichkeitsästhetiken zu unterstützen.

 

Kontakt: PD Dr. Kai van Eikels

 

Veröffentlichungen:

Vorüberlegungen und Skizzen finden sich auf dem Forschungs-Blog kunstdeskollektiven.wordpress.com und

auf der Academia-Seite von Kai van Eikels https://zbi-uni-hildesheim.academia.edu/KaivanEikels

 

 

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