Die Unausgeschlafenen: Entscheidungen bei Schlafmangel

mardi, 14. juillet 2015 um 11:02 Uhr

Wenn die Nacht zum Tag wird: Manchmal werden Entscheidungen, etwa in der Griechenlandkrise oder auf dem internationalen Klimagipfel, mit wenig Schlaf getroffen. Bisher liegen kaum wissenschaftliche Erkenntnisse vor, wie sich Schlafmangel auf Gruppenentscheidungen auswirkt. Der Sozialpsychologe Jan Häusser von der Universität Hildesheim untersucht Entscheidungsfindungen – und würde gerne einmal einen EU-Gipfel analysieren. Isa Lange traf den Forscher.

Sie untersuchen gemeinsam mit weiteren Sozialpsychologen, wie Gruppen und politische Gremien Entscheidungen treffen und Informationsaustausch auch bei Schlafmangel gelingt. „Ist das wirklich die beste Zeit, um wichtige Entscheidungen zu treffen?“, fragt die Frankfurter Allgemeine Zeitung um 03:30 Uhr in der Nacht zu Montag in einem Liveblog zu Griechenland. Die Regierungschefs der Euroländer haben einen „17-stündigen Verhandlungsmarathon“ hinter sich, wie die Bundesregierung zusammenfasst. Belgiens Premierminister Charles Michel hatte am Montagmorgen auf Twitter verkündet: „Agreement". Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht von „lang andauernden“ und für die vielen Stunden „eigentlich sehr sachlichen“ Verhandlungen. Wie verkraftet der Körper so einen Marathon? Und wie halten die Entscheidungen das aus?

Jan Häusser: Wie der Körper das aushält, untersuchen vor allem Mediziner. Wir schauen uns eher die Konsequenzen an, wie wirkt sich Schlafmangel auf die Entscheidungsfindung in Gruppen aus? Aus der Forschung wissen wir bisher erstaunlich wenig darüber. Eine Rolle spielt im politischen Bereich die Selbstselektion, wir beobachten eine Art „Survivor-Effekt“: Die Personen, die in der Politik und in solchen Verhandlungspositionen sind, die bringen die Fähigkeit mit, mit dem Entscheidungsdruck unter Schlafentzug zurechtzukommen. Das ist kein offizielles Selektionskriterium. Aber wenn jemand Schwierigkeiten mit wenig Schlaf hat, wird er oder sie früher oder später aus dem politischen Betrieb ausscheiden.

Was verstehen Sie unter Schlafmangel?

Ab 24 Stunden ohne Schlaf sprechen wir von akuter Schlafdeprivation. Schlafforscher nennen das „leichten Schlafmangel“, in den klassischen Studien zu Schlafdeprivation werden die Probanden schon mal gerne 36 oder 48 Stunden vom Schlafen abgehalten. Davon abgrenzen müssen wir die sogenannte „Schlafschuld“. Sie besteht immer dann, wenn man über einen längeren Zeitraum, mehrere Nächte über mehrere Wochen lang pro Nacht weniger als sechs Stunden schläft. Dann baut sich eine Schlafschuld auf, die gesellschaftlich extrem verbreitet ist. Es gibt Erhebungen aus den USA, die zeigen, dass die Schlafschuld für ein gutes Viertel der arbeitenden Bevölkerung ein absoluter Normalzustand ist.

Die Aufmerksamkeit, das Kurzzeitgedächtnis und die Reaktionszeiten werden durch fehlenden Schlaf beeinträchtigt. Was verändert sich, wenn wir wenig Schlaf haben?

Es gibt Befunde, die zeigen, was auf der individuellen Ebene passiert: Zunächst werden grundlegende kognitive Funktionen beeinträchtigt. Unsere Aufmerksamkeit und Konzentration,  unsere Wahrnehmungsgeschwindigkeiten und das Kurzzeitgedächtnis leiden in signifikantem Ausmaß. Aber: Wir betreiben kompensatorischen Aufwand, versuchen den Mangel auszugleichen: Wir trinken viel Kaffee oder versuchen, letzte Kräfte zu mobilisieren, wenn viel auf dem Spiel steht.

Wenn wir auf die Regierungschefs im Verhandlungssaal in der Nacht blicken: Welche Tätigkeiten sind unter Schlafmangel beeinträchtigt?

Die Einschränkungen im Bereich der grundlegenden kognitiven Funktionen spielen in komplexen Verhandlungen im politischen Bereich keine irre große Rolle. Zur Veranschaulichung: Wenn Sie ein Pilot sind, kann eine erhöhte Reaktionszeit fatale Folgen haben. Bei langwierigen Diskussionen hingegen ist eine schnelle Reaktion eher von untergeordneter Bedeutung – wir reden hier über Unterschiede im Millisekunden-Bereich. Der Rahmen in politischen Verhandlungen und auf nächtlichen Gipfeltreffen gibt es her, dass man gegenseitig aufeinander eingehen und nachfragen kann. Was eine größere Rolle spielt in solchen Verhandlungen, das sind höhere kognitive Prozesse. Logisches Schlussfolgern ist zum Beispiel wichtig, es wird von leichtem Schlafmangel kaum beeinträchtigt.

Es gibt aber auch Befunde, die zeigen, dass Schlafmangel negativ auf Entscheidungsprozesse wirken kann. Was mit wenig Schlaf nicht mehr so gut funktioniert, zeigt dieses Beispiel: Personen fällt es schwerer, auf veränderte Begebenheiten zu reagieren, also neue Informationen hinreichend zu berücksichtigen. Wir nennen das „updating information“, das funktioniert nicht so gut bei Unausgeschlafenen. Man schlägt eher auf Grundlage der Informationen, die man eingangs vorliegen hatte, eine bestimmte Richtung ein. Wenn dann im Verhandlungsprozess ein neuer Vorschlag hinzukommt, fällt es den Personen schwer, darauf einzugehen und die neuen Informationen angemessen zu berücksichtigen. Übermüdete Menschen werden zudem risikoaffiner, das heißt, sie sind bereit, Risiken einzugehen. Zudem reagieren müde Menschen auf vermeintlich unfaire Angebote ablehnender als wache Menschen, das ist für Verhandlungen ein interessanter Befund.

Den Schlafmangel kann man kompensieren: Wichtig in großen nächtlichen Verhandlungsrunden ist das „group monitoring“, das meint, dass man gemeinsam antritt und sich gegenseitig in der Spur hält und zusammenreißt, man passt auf, dass alle mitkommen und dass Informationen ausgetauscht werden. Eine Verhandlungsseite, die dies effektiv betreibt, kann hier Vorteile haben.

Sie interessieren sich in der Forschung in Hildesheim vor allem für Entscheidungen in Gruppen, für soziale Anforderungen, für Kommunikation und Informationsaustausch unter Schlafmangel.

Es gibt eine Studie, die zeigt, dass die Kommunikation bei Schlafentzug von deutlich über 30 Stunden weniger effektiv ist. Da kommen wir aber in Bereiche, in denen in politischen Gremien nicht mehr verhandelt wird. Es gibt zudem Untersuchungen, die zeigen, dass in müden Gruppen „social loafing“, also „soziales Faulenzen“, stärker ist als bei Vergleichsgruppen. Man schraubt die eigenen Beiträge in der Gruppe zurück und „lässt die anderen machen“.

Trotz der hohen gesellschaftlichen Relevanz gibt es bisher wenige Studien, wie sich Schlafmangel auf Verhandlungen und Gruppenentscheidungen auswirkt. Sie erforschen Grundlagen, haben untersucht, wie sich Schlafmangel auf die Nutzung von Ratschlägen auswirkt.

Es gibt wenige Untersuchungen, daher arbeiten wir an den Grundlagen. In einer Studie an der Universität Hildesheim habe ich mit Forschern vom Donders Institut in Nijmegen und der Universität Oxford gerade 96 Probanden untersucht. Die Hälfte haben wir unter Schlafmangel gesetzt und eine Nacht lang wach gehalten. Die untersuchten Studierenden wurden in Folge des Schlafdefizits empfänglicher für Ratschläge als die untersuchte Kontrollgruppe. Derzeit untersuchen wir, wie sich Schlafmangel auf gegenseitiges Vertrauen auswirkt. Schlafmangel führt offenbar dazu, dass man skeptischer wird und anderen weniger vertraut. Die Grundskepsis steigt.

Dass wir überhaupt von nächtlichen Entscheidungsfindungen erfahren, da spielen Medien eine wichtige Rolle. Auch Journalisten halten während der nächtlichen Entscheidungen aus und machen die Nacht durch. In sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter berichten sie davon, zum Beispiel Stefan Leifert vom ZDF: „Wichtigste journalistische Quelle zurzeit: Der Kaffeeautomat. #Eurogipfel“. Tweets zu Kaffee und Croissants kursieren.

Ich glaube ohne Kaffee könnte man das nicht durchhalten, das ist meine persönliche Einschätzung. Das wirkt auch kompensatorisch. Von Hillary Clinton wird erzählt, dass sie sich mit extra-scharfen Chilis wachhält.

Welche Verantwortung tragen diejenigen, die Entscheidungen unter Schlafmangel treffen?

Man kann leichten Schlafentzug – also wenn jemand bis zu 24 Stunden wach ist – mit leichtem bis mittlerem Alkoholrausch vergleichen. Wir beobachten ähnliche Ausfälle und Effekte, etwa Ausfälle beim Kurzzeitgedächtnis, eine leichte Euphorisierung, leichte Probleme bei der Wortfindung. Wir würden Entscheidungen von alkoholisierten Politikern aber weniger akzeptieren und ganz klar als verantwortungslos bewerten. Im besten Fall sind die Auswirkungen von Schlafmangel nicht so schlimm, weil wir sie kompensieren können. Positive Auswirkungen sind aber nicht zu erwarten. Wann immer möglich, sollte man nächtliche Verhandlungen vermeiden. Warum haben die Parteien etwa in der Koalitionsbildung nach der letzten Bundestagswahl über Nacht verhandelt? Teilweise hat dies neben strategischen Gründen – die Gegenseite zermürben auch oft eher einen Demonstrationscharakter an das Publikum, in diesem Fall die Wähler: Wir nehmen es sehr Ernst und sind bereit große Opfer zu bringen um das bestmöglich für Euch herauszuholen.

Eine Fragen an den Forscher: Würden Sie den Unausgeschlafenen gerne einmal über die Schulter schauen und solch einen Gipfel auf europäischer Ebene erforschen?

Super gerne! Ich hoffe, dass einmal diese Gelegenheit entsteht. Politische Entscheidungsprozesse finden ja oft hinter verschlossenen Türen statt, ich würde gerne einmal die Prozesse analysieren. Natürlich sind das Einzelfallentscheidungen, sie sind nicht vergleichbar, wir wissen auch nicht: Wie fallen die Entscheidungen aus, wenn Sie am Tag zustande kommen?

Vielen Dank für das Gespräch.

Die Fragen stellte Isa Lange.

Zur Person

Dr. Jan Häusser hat an der Universität Göttingen studiert und 2010 zum Thema Fehlbeanspruchungen bei der Arbeit promoviert. Seit 2011 arbeitet er als Post-Doc in der Arbeitsgruppe Sozialpsychologie an der Universität Hildesheim. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen neben der Analyse von Gruppenentscheidungen, soziale Aspekte beim Stresserleben, Effekte von Verantwortlichkeit, experimentelle Arbeitspsychologie sowie die Untersuchung von Belastungsfaktoren bei der Arbeit.

Sozialpsychologen untersuchen, wie wir Entscheidungen treffen

Sozialpsychologen der Universität Hildesheim befassen sich mit Entscheidungsfindungen. Jan Häusser untersucht zum Beispiel Effekte von Schlafmangel auf Entscheidungen. „Hier interessieren mich insbesondere Gruppenentscheidungen, da diese anders als Entscheidungen von Einzelpersonen noch zusätzliche ‚soziale‘ Anforderungen haben, zum Beispiel effektive Kommunikation und Informationsaustausch“, so Häusser, der für seine hervorragende Forschung auch mit dem Forschungspreis der Universität ausgezeichnet wurde. In einer Studie, die in Kooperation mit Forschern der Universitäten Nijmegen und Oxford durchgeführt wurde, untersucht der Psychologe, wie sich Schlafmangel auf die Nutzung von Ratschlägen auswirkt.

Die Arbeitsgruppe „Sozialpsychologie“ der Universität Hildesheim kennt sich aus mit Entscheidungen in Gruppen. So untersuchen die Forscher etwa, wie der Informationsaustausch und Entscheidungsprozesse in politischen Gremien ablaufen und verbessert werden können. In Gruppen sei das „Streben nach Einmütigkeit, das Schließen der Reihen“ weit verbreitet, doch es verstellt den Blick für eine kritische Analyse, sagt Professor Andreas Mojzisch. Er forscht zu Gruppenentscheidungen und Gruppenurteilen. Von Abweichlern und Querdenkern könnten Gruppen profitieren. Gremien, die mehr oder weniger einer Meinung sind, können etwa auf den „Advocatus Diaboli“ zurückgreifen und Meinungsdissens künstlich erzeugen. „Meinungsvielfalt bringt allerdings wenig, wenn die Gruppenmitglieder sich nicht trauen, abweichende Meinungen zu äußern“, sagt Mojzisch. Dafür sei Vertrauen nötig.

In einem weiteren Forschungsprojekt, gefördert von der VolkswagenStiftung, untersucht der Hildesheimer Psychologe mit Forschern aus Oxford, London, Heidelberg und Göttingen, warum Menschen fehlerhafte Entscheidungen unter sozialem Einfluss treffen. Dabei gehen die Forscher von der Annahme aus, dass Urteile anderer einen erheblichen Einfluss auf das eigene Verhalten und Denken haben. In einer aktuellen Studie fanden Andreas Mojzisch und Markus Germar heraus, dass bereits basale Wahrnehmungsprozesse durch die Meinung von anderen Menschen beeinflusst werden können.

[Hier finden Sie dieses Interview als PDF-Datei]

Frankfurter Allgemeine Zeitung (print und online), 18.07.2015, Interview über Gruppenentscheidungen von Kornelius Friz mit Jan Häusser von der Universität Hildesheim

DIE WELT (online), 14.07.2015, Artikel „Riskanter Milliardendeal im Übermüdungs-Rausch" von Stephan Maaß: Jan Häusser über nächtliche Entscheidungsfindung

Medienkontakt: Uni Hildesheim, Isa Lange (05121.883-90100 und 0177.8605905, presse@uni-hildesheim.de)


Wenn das „Wir" entscheidet: Sozialpsychologen untersuchen, wie Entscheidungen in Gruppen zustande kommen und wie zum Beispiel Gremien unter Schlafmangel entscheiden. Anders als bei Einzelpersonen kommen „soziale" Anforderungen hinzu, etwa effektiver Informationsaustausch, sagt Jan Häusser von der Universität Hildesheim. Foto: Isa Lange/Uni Hildesheim

Wenn das „Wir" entscheidet: Sozialpsychologen untersuchen, wie Entscheidungen in Gruppen zustande kommen und wie zum Beispiel Gremien unter Schlafmangel entscheiden. Anders als bei Einzelpersonen kommen „soziale" Anforderungen hinzu, etwa effektiver Informationsaustausch, sagt Jan Häusser von der Universität Hildesheim. Foto: Isa Lange/Uni Hildesheim