SOLIDARITÄT UND SCHWIERIGE GÜTERABWÄGUNGEN
Auswirkungen von sozio-politischen Abwägungen auf solidarisches Verhalten und Einstellungen
Seit Beginn der COVID-19-Krise bekräftigen die politischen Akteur_innen ihre Forderung nach Solidarität, die sie als eine zentrale Voraussetzung für den Erfolg der mildernden Maßnahmen betrachten. Dieses Arbeitspaket stützt sich auf die Definition von Solidarität nach Sangiovanni (2015) als eine gemeinsame Aktion zur Überwindung einer Notlage, wobei es sich auf ein gemeinsames Ziel und die Bereitschaft stützt, dafür erhebliche Kosten aufzubringen. In Anlehnung an diese Definition wird argumentiert, dass die Kosten für die Überwindung der COVID-19-Krise außerordentlich hoch sind, da die Bürger_innen in einem noch nie dagewesenen Ausmaß auf ihre Autonomie und politische Freiheiten verzichten müssen und mit erheblichen ökonomischen Verlusten (und damit implizit mit Auswirkungen auf ihre persönliche Situation) konfrontiert sind. Die Solidaritätsbereitschaft der Bürger_innen steht vor einer schwierigen Wahl, da die Regierungen (Bund und Länder) sowohl Solidarität als auch eine Akzeptanz der Einschränkung demokratischer Freiheiten einfordern – eine "Zumutung für die Demokratie", wie Bundeskanzlerin Merkel es formulierte (23.4.2020). Für die Analyse stützt sich das Projekt auf die von Stjerno (2009; 2011) vorgeschlagenen analytischen Kategorien der Solidarität: die Quellen der Solidarität und das Ausmaß, in dem kollektive Interessen die individuellen Interessen überwiegen. So werden die konkreten Ursachen (Quellen) und die konkrete Disposition für den Verzicht auf individuelle Rechte (Umfang) solidarischen Handelns ebenso untersucht wie mögliche Veränderungen im Verlauf der COVID-19-Krise. Die Hauptforschungsfrage lautet: Warum und inwieweit sind die Bürger_innen zu einem solidarischen Opfer zugunsten anderer bereit und schränken damit ihre individuellen Rechte in einer Demokratie ein?
Sangiovanni A. (2015) 'Solidarity as Joint Action', Journal of Applied Philosophy, 32(4), 340–59.
Stjernø S. (2009) Solidarity in Europe: The history of an idea (Cambridge University Press).
Stjernø S. (2011) 'The idea of solidarity in Europe', European Journal of Social Law, 1(3), 156–76.
Universität Hildesheim, Institut für Sozialwissenschaften / Prof. Dr. Marianne Kneuer