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Gesellschaftliche Transformation und Politische Bildung
Tagungsbericht
„Gesellschaftliche Transformation und Politische Bildung“
von Dr. Oliver Emde
Am 4./5. März 2022 haben auf der Online-Tagung „Gesellschaftliche Transformation und Politische Bildung“ mehr als 80 Teilnehmer:innen aus Universität, Schule und Zivilgesellschaft über gegenwärtige krisengetriebenen Herausforderungen und die daraus resultierenden Konsequenzen für formelle und non-formale politische Bildung diskutiert. Inhaltlich haben sich die über 16 Vorträge der Veranstaltung, die von der Professur Politikdidaktik und Politische Bildung der Universität Hildesheim (Dr. Oliver Emde) und der Nachwuchskoordination der GPJE (Felix Prehm) organisiert wurde, u.a. mit Themen der transformativen Bildung, nachhaltiger Entwicklung, sozial-ökologischer Transformation, imperialen Lebensweise und politischer Bildung im Anthropozän beschäftigt und auch Einblicke in weitere aktuelle Forschungsvorhaben gegeben.
In mindestens viererlei Hinsicht wurde auf der Tagung deutlich, dass Politische Bildung und gesellschaftliche Transformation(en) eng miteinander verbunden sind und in unterschiedlichen Beziehungen zueinander stehen:
1. Politische Bildung zu Transformation
Politische Bildung muss Prozesse gesellschaftlicher Transformation zu ihrem inhaltlichen Gegenstand machen! Durch Krisen angestoßenen Transformationsdebatten bieten besondere Lerngelegenheiten, wenn sie zum Thema in Bildungssettings werden: Der gewohnte Gang der Dinge kommt ins Stolpern, Normalvorstellungen geraten ins Wanken, der Blick öffnet sich für Alternativen. Gesellschaftliche Verhältnisse verlieren ihre Selbstverständlichkeit und werden als als Produkt menschlichen Handelns und menschlicher Interessen sichtbar und repolitisiert.
Auch die aktuellen Entwicklungen rund um den Angriffkrieg Russlands auf die Ukraine unterstreichen die Forderung, krisengetriebene Transformation (Stichwort „Zeitenwende“) zum Thema zu machen: Politische Bildung muss an Alltagseindrücken, an Angst und Ohnmachtserfahrungen anknüpfen, geschützte Austauschräume anbieten, Komplexität von Themen aufschlüsseln, zur kritischen Urteilsbildung betragen und ermutigende Lernumgebungen schaffen.
2. Politische Bildung in Transformation
Politische Bildung in Transformation stellt die Selbstverständlichkeiten politischer Bildung selbstreflexiv in frage und richtet den Blick auf die eigene Verwobenheit mit bestehende Verhältnisse und deren Reproduktion. Bildung kann zur Veränderung von Gesellschaft beitragen und einen Beitrag zu Demokratisierung und Gleichheit leisten – aber genauso den status quo legitimieren und Machtstrukturen verfestigen.
Vor diesem Hintergrund besteht die Aufgabe von politischer Bildung in Transformation darin, den politischen Dissens um gesellschaftliche Zukünfte als konstruktive Selbstverunsicherung der eigenen Disziplin sichtbar zu machen und zu nutzen.
3. Politische Bildung für Transformation
Im Kontext Transformation wird Politische Bildung durch unterschiedliche Akteur:innen angerufen und für ganz unterschiedliche Anliegen in Anspruch genommen. Das geschieht im Kontext ökologischer Kriste bspw. im Gutachten des WBGU aus dem Jahr 2011 – hier wird transformativer Bildung die Funktion zugeschrieben, Wissen weiterzugeben, um „dem Handeln Einzelner die notwendige Richtung zu geben.”
Prominent finden sich solche Tendenzen auch im Ansatz einer „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ – das macht das „für“ schon sichtbar – oder in den Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen. Hier widmet sich nicht nur ein eigenes SDG der Forderung nach „guter Bildung“, vielmehr wird Bildung als Querschnittsaufgabe gedacht, um für die anderen SDGs zu werben und sie zu erreichen.
Politische Bildung wird hier in den Dienst gesellschaftlicher Veränderung gestellt und läuft zugleich Gefahr, auf die Funktion der Wissensvermittlung reduziert zu werden. Werden fertige Antworten vorgegeben, als eindeutig, unumgänglich und vermeintlich politisch neutral bezeichnet, wird politische Bildung als Legitimationsbeschafferin instrumentalisiert – und letztlich auch entpolitisiert.
4. Politische Bildung als Transformation
Eine dritte Perspektive verweist auf das Ziel, lernende Subjekte darin zu fördern, Möglichkeiten von Partizipation kennenzulernen, wahrzunehmen und sich aktiv in gesellschaftliche Transformationsprozessen einzubringen. Politische Bildung als Transformation umfasst dabei auch die kritische Reflexion und kontroverse Diskussion von individuellen und gesellschaftlichen Leitbildern, Normen und Werten. Was bedeutet Transformation in spezifischen kulturellen Kontexten, wie sieht eine globale und gerechte Gesellschaft in den planetaren Grenzen aus, welches Ziel verfolgen darin Bildungsakteur:innen und was zeichnet die Qualität der spezifischen Lernerfahrung aus?
Wenn Lernenden als mündige Subjekte ernstgenommen und kritisches Denken kultiviert werden soll, muss damit eine grundsätzlich offenen Zielrichtung von Transformation einhergehen und politische Bildung als demokratische Suchbewegung verstanden werden.
Eine Besonderheit der diesjährigen NaWu-Tagung ist die interdisziplinäre Zielgruppe, die mit dem Thema erreicht werden könnte: Nachwuchswissenschaftler:innen aus Universitäten konnten in Kontakt mit Lehrer:innen aus der Schule und Bildungsverwaltung kommen; bewegungsnahe Bildungsorganisationen und zivilgesellschaftliche Akteure haben ihre Perspektiven auf non-formale Lernarrangements und Kooperationen einbringen können. Unserem Eindruck nach hat insbesondere diese Heterogenität der Teilnehmer:innen zu einem lebendigen und kollegialem Austausch beigetragen.
Tatsächlich war uns als Organisationsteam der Austausch und die Debatten fast etwas zu harmonisch, haben die Tagung unserem Eindruck nach viele in einem Zustand der Selbstzufriedenheit und Selbstvergewisserung verlassen. Inhaltlicher Streit und argumentativer Dissens wurde kaum ausgetragen, kontroverse Positionen wurden allenfalls unterschwellig sichtbar. Uns beschleicht das Gefühl, dass unsere Disziplin – die Politikdidaktik und die Profession politische Bildung, und hier sogar der „Nachwuchs“) den Konflikt scheut, lieber nichts sagt als unbequem zu erscheinen und den vermeintlich progressiven Konsens zu stören. Das muss sich ändern, hier müssen wir dranbleiben, denn Dissens gehört eigentlich zum konstitutiven Kern einer sich als politisch verstehenden Disziplin!
Deshalb freuen wir uns sehr auf kommende Tagungen in Präsenz – in denen die Zwischentöne wieder besser zu hören sind, kollegiale Kritik mit weniger Missverständnis-Potenzial geäußert werden und auf denen wir uns deutlicher positionieren können. Zum Beispiel auch abends bei einer Limo oder einem Bier. Prost!