SOLDISK: Solidaritätsdiskurse in Krisen
Analyse und Erklärung von Solidaritätsvorstellungen in Migrationkontexten
Das Verbundprojekt
Welche Vorstellungen haben politische Entscheidungsträger, aber auch die sozialen Akteure von Solidarität? Lassen sich in der Kommunikation über Migration und Flucht auf politischer, sozialer und individueller Ebene Muster erkennen, die entweder auf Solidarisierung oder Entsolidarisierung hinweisen? Werden Solidaritätsdiskurse vielfältiger? Wie belastbar ist das Solidargefüge und wie könnte eine Kommunikationsstrategie aussehen, die Entsolidarisierungseffekte verringert? Wie korrelieren Solidaritätsdiskurse auf politischer Ebene mit Diskursen auf individueller oder sozialer Ebene?
Diesen und ähnlichen Fragen geht der interdisziplinäre Forschungsverbund der Universität Hildesheim nach. In vier Teilprojekten kooperieren Wissenschaftler*innen des Instituts für Sozialwissenschaften aus den Fächern Politikwissenschaft und Soziologie und des Instituts für Informationswissenschaft und Sprachtechnologie und verfolgen dabei einen Mehrebenenansatz: Die Mikroebene (Leitung: Prof. Kneuer) befasst sich mit Online- und Offline-Kommunikation von BürgerInnen; die Mesoeben (Leitung: Prof. Corsten) mit der Kommunikation gesellschaftlich organisierter Akteure und die Makro-Ebene (Leitung: Prof. Schammann) mit der Kommunikation politischer Entscheidungsträger*innen. Die diskursanalytische Untersuchung auf den drei Ebenen wird mit Hilfe von Instrumenten der Corpuslinguistik umgesetzt (Leitung: Prof. Heid).
Das Forschungsprojekt erstreckt sich über drei Jahre und wird vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur und der VolkswagenStiftung gefördert.
Teilprojekt 3: Die Makro-Ebene
Ziel des Teilprojektes 3 ist es, die Solidaritätsvorstellungen im Kontext von Migration in Deutschland auf der Makro-Ebene, d.h. im Rahmen der politischen Verhandlung gesellschaftlicher Solidarität, zu ermitteln, gegebenenfalls voneinander abzugrenzen und ihre Entwicklung über die vergangenen viereinhalb Jahrzehnte nachzuzeichnen. Das Teilprojekt analysiert dazu die Kommunikation über Solidarität von im engeren Sinne politischen Akteur*innen. Dazu gehören insbesondere Redebeiträge im Plenum des Bundestags und Bundesrats sowie, in einem zweiten Schritt auch der Landesparlamente, von Mitgliedern der Bundesregierung und der Landesregierungen, aber auch von politischen Parteien. Politisch aktive zivilgesellschaftliche Organisationen oder Aktivist*innen werden für Einzelaspekte ebenfalls untersucht sofern nicht auf Daten der Teilprojekte 1 und 2 zurückgegriffen werden kann.
Die Analyse auf der Makro-Ebene berücksichtigt den Zeitraum zwischen November 1973 – dem Moment des Anwerbestopps ausländischer Arbeitnehmer*innen – und Dezember 2019. Über den Untersuchungszeitraum hinweg sind wir insbesondere daran interessiert, ob und warum die Prominenz bestimmter Definitionen über die Jahre hinweg variiert, d.h. ob konkrete Ereignisse mit spezifischen Solidaritätsverständnissen einhergehen. In den Analysezeitraum fallen diverse Migrationsphänomene sowie politische und rechtliche Reaktionen, die von Öffentlichkeit und Politik intensiv diskutiert wurden, einschließlich der Debatten um den Familiennachzug (sowohl in den 1970ern und 80ern wie heute), das Zuwanderungsgesetz (heute Aufenthaltsgesetz) von 2004, den Wegfall der Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit nach der EU-Osterweiterung und die erhöhte Fluchtmigration von Drittstaaten (ab Mitte der 1980er, 2015/2016), um nur einige wenige zu nennen. Ob einige dieser Debatten mit einer intensivierten Kommunikation über Solidarität einhergehen, wird anhand einer Diskursanalyse mit Hilfe von Instrumenten der Korpuslinguistik umgesetzt. Das Teilprojekt unterteilt sich in drei Bausteine:
- Untersuchung der zwischen 1973 und 2019 im Plenum des Bundestags und Bundesrats ausgetragenen Verhandlungen über politisch hergestellte Solidarität im Kontext von Migration zwischen Bundestagsabgeordneten, Mitgliedern der Bundesregierung und der sechzehn Landesregierungen. Die Grundgesamtheit der Analyse bilden die insgesamt abgehaltenen rund 3500 Plenardebatten.
- Vertiefte Analyse ausgewählter, im ersten Schritt durch eine erhöhte Konzentration von Bezugnahmen auf Solidaritätskonzepte identifizierte Debattenstränge, die zu spezifischen policies führen (bspw. Gesetzesvorhaben, aber auch eher symbolisches Regierungshandeln). Hierzu werden zusätzliche Daten erhoben, wie beispielsweise kleine und große Anfragen im Parlament, Plenardebatten in den Länderparlamenten, Parteiprogramme oder NGO-Positionspapiere. Auf diese Weise wird nicht nur ein schärferes Bild des Solidaritätsverständnisses unterschiedlicher Sprecher*innengruppen im konkreten Sachzusammenhang ermöglicht, sondern auch Erkenntnisse über die Möglichkeiten einzelner Akteure, Zugang zu den Debatten zu gewinnen. Gleichzeitig wird eine Rückkopplung mit der Meso- und Mikro-Ebene vorgenommen. In welcher Form finden sich die identifizierten, auf politischer Ebene geführten Solidaritätsdiskurse auf sozialer und individueller Ebene wieder?
- Qualitative Untersuchung der „praktischen” Aspekte politischer Solidarität: Analysiert wird, in welchem Verhältnis die im zweiten Schritt untersuchten policies zur Implementation stehen. Von Interesse ist hierbei vor allem der Abgleich der zum Ausdruck gebrachten Solidaritätsvorstellungen. Zu diesem Zweck führen wir qualitative Einzelinterviews mit Verantwortungsträger*innen in der Verwaltung auf Ebene des Bundes, der Länder, und der Kommunen.