Nach der Flucht: Lernen statt warten

mercredi, 20. avril 2016 um 18:11 Uhr

Sozialpraktikum in der Erstaufnahmestelle: Lehramtsstudierende unterstützen Erwachsene und Kinder, die erst seit wenigen Wochen in Deutschland leben, beim Erlernen der deutschen Sprache. Weitere Studierende können mitwirken – ab sofort kann man sich anmelden.

Seit Mitte Oktober 2015 gehen Studentinnen und Studenten jeden Tag in eine Erstaufnahmestelle in Hildesheim. Sie unterstützen Erwachsene und ihre Kinder, die erst seit wenigen Wochen in Deutschland leben, beim Erlernen der deutschen Sprache.

Bisher haben die etwa 150 Menschen, darunter viele Familien, die Zeit in der Erstaufnahmeeinrichtung mit Warten verbracht. „Wir wollen die Zeit nutzen, um miteinander und voneinander zu lernen“, sagt Annette Lützel, die das Sprachlernprojekt an der Universität Hildesheim koordiniert. Katharina Melzner leitet den Sprachunterricht und studiert „Deutsch als Zweitsprache“ in Hildesheim. Für Lehramtsstudierende ist dieser Rahmen hilfreich: sie müssen nicht allein einen Sprachkurs auf die Beine stellen, sie vernetzen sich, tauschen sich über Unterrichtsmaterialien aus und die Arbeit liegt auf vielen Schultern verteilt.

Parallel zum Elternkurs gestalten die Studentinnen und Studenten ein Sprachlernangebot für Kinder und Jugendliche (0 bis 12 Jahre).

Lehramtsstudierende aller Fächer können im Rahmen des Projekts ihr Sozialpraktikum absolvieren oder die Leistungspunkte für das Lehramtsstudium (Master, Optionalbereich) erwerben. Außerdem ist es möglich, auf Antrag das Zertifikat für bilinguales Lehren und Lernen zu erhalten. Studierende können im Sprachlernprojekt mitwirken (alle Infos online). Das Projekt wird vom Niedersächsischen Wissenschaftsministerium und der Lotto-Sport-Stiftung gefördert und 2016 durchgängig fortgeführt.

Der nächste Starttermin für das zehnwöchige Sozialpraktikum in der Erstaufnahmestelle ist Ende Mai 2016, dann wieder im Oktober 2016. Wer in dem Projekt mitwirken möchte, kann Annette Lützel unter 05121.883-90018 oder sprachlernprojekt@uni-hildesheim.de kontaktieren.

Interview: Nachgefragt bei Marie-Therese

Eine der ersten, die seit Oktober im Sprachlernprojekt in der Erstaufnahmestelle mitwirkt, ist Marie-Therese Brammer. Die 22-Jährige studiert Grundschullehramt mit den Fächern Deutsch und Englisch an der Universität Hildesheim.

Wie sieht dein Alltag aus?

Marie-Therese: Gemeinsam mit weiteren Lehramtsstudierenden fahre ich mit dem Bus zur Erstaufnahmestelle. Da die Anbindung in das Gewerbegebiet nicht so gut ist, bilden wir auch oft Fahrgemeinschaften. Das geht, wir kommen irgendwie immer hier an. Der Sprachunterricht findet an jedem Nachmittag statt. Ich bin seit Oktober immer montags und dienstags hier, bis Ende des Jahres. Wir bauen den Speiseraum für das Sprachenlernen um, schieben die Tische zusammen, wir haben hier keinen extra Raum für den Sprachunterricht. Dann kommen auch nach und nach schon die Teilnehmer, manche bringen ihre kleinen Kinder mit.

Wie fängt man an? Ihr arbeitet sehr nah am Alltag. Wer bin ich, wie heiße ich – ihr greift viele Alltagsthemen auf.

Das ist richtig. Die Teilnehmer am Sprachkurs sprechen Arabisch, Serbisch, wenige sprechen Englisch. Wir versuchen mit Bildern, Händen und Füßen die Vokabeln zu vermitteln. Wir gehen zum Beispiel einkaufen und lernen dabei die Begriffe für die Lebensmittel – das Ei, die Milch, eine Tomate, ein Salat. Oder wir sprechen über die Uhrzeiten – was bedeutet „Viertel vor“? Heute ging es um den Familienstammbaum: Mutter, Vater, Kinder – wir haben uns die Stammbäume aufgemalt. Das ist manchmal auch sehr persönlich. Aber das geht, weil wir auch in Kleingruppen arbeiten und uns zu zweit unterhalten. Heute habe ich mit einem Mann aus Syrien gesprochen, er ist mit seiner ganzen Familie hier in Hildesheim und hat aufgezeichnet, wie seine Kinder, seine Eltern heißen. Ich habe erfahren, dass er 13 Geschwister hat. Da musste ich erstmal nachfragen – wirklich? Fünf Brüder und acht Schwestern. Wir verstehen uns gut, man lernt sich kennen, mit Händen und Füßen, er spricht ganz wenig Englisch.

Neben dem Sprachkurs – klassisch am Tisch mit einer improvisierten Tafel, Zetteln und einem Stift – lernt ihr die Sprache auch in der Freizeit. Ihr erkundet die Stadt Hildesheim, ihr geht einkaufen, ihr wollte zusammen kochen.

Einmal in der Woche gibt es ein Freizeitangebot. Wer in der Erstaufnahmestelle ankommt, hat bisher noch wenig von Deutschland kennen gelernt. Wir sind der erste Kontakt. Wir gehen raus, lernen Vokabeln im Alltag und wenden sie an.

Man kann die Sprache auch mit technischen Mitteln lernen: Es gibt Apps zum Sprachenlernen, Übersetzungsprogramme. Ihr könntet auch einen Tag in die Erstaufnahmestelle kommen, jedem ein Smartphone in die Hand drücken, erklären, wie der Online-Sprachkurs funktioniert und dann seid ihr wieder weg und lasst die Menschen hier allein. Das ist aber nicht der Ansatz dieses Sprachlernprojekts. Ihr verbringt Zeit miteinander, wollt zusammenkommen. Man lacht zusammen, man ist traurig, wenn man erfährt, dass Familienangehörige nicht mehr leben. Was lernst du dabei?

Man verfolgt das sonst nur im Fernsehen, dass Menschen nach Deutschland fliehen. Hier in den Räumen der Erstaufnahmestelle, beim Sprachenlernen passiert viel Menschliches. Ich finde es sehr spannend zu erleben, wie es funktioniert, sich auszutauschen. Auch wenn man keine gemeinsame Sprache spricht, klappt die Verständigung. Es bringt uns allen viel, wir sind angehende Lehrerinnen und Lehrer. Wenn ich später im Klassenzimmer unterrichte, werde ich auch Kinder unterstützen, die noch kein Wort Deutsch sprechen.

Ist die Frage, wie lernt man als Erwachsener die deutsche Sprache als zweite Sprache für dich frisch und ungewohnt oder hast du dich damit schon im Studium beschäftigt?

Im Bachelor-Studium habe ich einige Seminare im Bereich „Deutsch als Zweitsprache“ besucht. Man lernt, wie es sein müsste – aber dann fehlt die praktische Erfahrung. In den Schulpraktika habe ich mit Kindern und Jugendlichen gelernt, die in einer Phase ihres Lebens sind, in der sie sowieso zur Schule gehen und lernen. Deshalb finde ich es sehr interessant, dass ich in dem Sprachlernprojekt nun mit Erwachsenen arbeiten kann und erfahre, wie das abläuft. Die Arbeit in der Erstaufnahmestelle kann ich mir für mein Studium anrechnen lassen, zum Beispiel als Praxisteil für das „Bilinguale Zertifikat“.

Du bist jetzt im Masterstudium und startest bald in den Beruf. Freust du dich auf die Herausforderung? Fühlst du dich überfordert oder suchst du nach Wegen, wie man mit Vielfalt umgehen kann?

Mein Ziel ist, in Niedersachsen zu unterrichten. Ich freue mich da wirklich drauf. Die Vielfalt an Schulen wird immer sichtbarer, ich interessiere mich sehr für den Bereich Deutsch als Zweitsprache. Wir können an der Universität in Hildesheim das Masterstudium um ein Jahr verlängern und uns im DAZ-Bereich spezialisieren.

Die Fragen stellte Isa Lange.

Die Interview-Serie über das Sprachenlernen wird fortgeführt. Nächstes Mal: Nachgefragt bei Erwachsenen: Wie erleben sie das Erlernen der deutschen Sprache?

Medienkontakt: Pressestelle der Uni Hildesheim (Isa Lange, presse@uni-hildesheim.de, 05121.883-90100)


Viertel vor 7, Viertel nach 3: Deutschlernen in der Erstaufnahmestelle im Industriegebiet im Norden der Stadt Hildesheim. Hesham lebt erst seit einigen Wochen in Hildesheim, Marie-Therese studiert hier Lehramt. „Wir gehen raus, lernen Vokabeln im Alltag und wenden sie an", sagt Marie-Therese, Lehramtsstudentin an der Universität Hildesheim. Fotos: Isa Lange/Uni Hildesheim (November 2015)

Viertel vor 7, Viertel nach 3: Deutschlernen in der Erstaufnahmestelle im Industriegebiet im Norden der Stadt Hildesheim. Hesham lebt erst seit einigen Wochen in Hildesheim, Marie-Therese studiert hier Lehramt. „Wir gehen raus, lernen Vokabeln im Alltag und wenden sie an", sagt Marie-Therese, Lehramtsstudentin an der Universität Hildesheim. Fotos: Isa Lange/Uni Hildesheim (November 2015)