Zwischen der Enttabuisierung kindlicher Sexualität und der Entgrenzung von kindlicher und erwachsener Sexualität. Zur Rekonstruktion des Zusammenhangs von sexueller Liberalisierung, liberalisierter Erziehung, Pädophiliebewegung, Erziehungs- und Sozialwissenschaften der 1960er -1990er Jahre.

 

PROJEKTLAUFZEIT: 1.04.2015 - 02.2018, BA 1678/5-1.

PROJEKTLEITUNG: Prof. Dr. Meike Sophia Baader

MITARBEITER_INNEN: Dr. Jan-Henrik Friedrichs, Melanie Bühnemann (ausgeschieden)

 

ZUSAMMENFASSUNG DES VORHABENS:

Die Debatten im Frühjahr 2013 um den Europa-Abgeordneten Daniel Cohn-Bendit und dessen Äußerungen zur kindlichen Erotik in seinem Buch „Der große Basar“ (1975) zeigen, dass eine wissenschaftliche Aufarbeitung der blinden Flecken der „sexuellen Revolution“ und der Enttabuisierungen von kindlicher und erwachsener Sexualität ansteht. Das Ziel des Forschungsprojekts besteht in der Rekonstruktion des Verhältnisses von sexueller Liberalisierung, liberalisierter Erziehung, Pädophiliebewegung und Erziehungs- und Sozialwissenschaften der 1960er - 1990er Jahre in interdisziplinärer und transnationaler Perspektive. Damit setzt es einen erziehungs- und einen wissenschaftsgeschichtlichen Fokus. Gefragt werden soll nach der Involviertheit der Erziehungswissenschaft in den Diskurs über Pädophilie. Die Analyse folgt dabei einer weiten Perspektive auf die sexuelle Liberalisierung, die die Auseinandersetzung um kindliche Sexualität einbezieht. Dabei geht es zum einen um die Rekonstruktion spezifischer Verdeckungszusammenhänge, die die Pädophiliebewegung hervorbrachte und nutzte. Dies betrifft etwa den engen Zusammenhang zwischen Homosexuellenbefreiungs- und Pädophiliebewegung, aber auch das Segeln unter der Flagge des Kinderschutzes. Zum anderen geht es um die Effekte und die Positionen in der Erziehungswissenschaft, dies betrifft insbesondere die Teildisziplinen der Sozialpädagogik sowie der sich neu herausbildenden Sexualpädagogik. Aber auch über die Erziehungswissenschaft hinausgehend, wird der Anteil der (Sozial-)Wissenschaft an pädophilen Positionen bzw. an den Auseinandersetzungen um diese untersucht. Hierbei werden auch transnationale Einflüsse einbezogen, die den deutschen Diskurs in den siebziger und achtziger Jahren geprägt haben. Das Projekt leistet einen Beitrag zur Geschichte der Sexualität, zur Geschichte der Pädophiliebewegung, zu Kindheits- und Erziehungskonzepten im liberalen und alternativen Milieu in transnationaler Perspektive, zur Erziehungsgeschichte, zur Geschlechtergeschichte, zur Geschichte Neuer sozialer Bewegungen sowie zur Disziplin- und Wissenschaftsgeschichte.

Between Lifting the Taboo on Child Sexuality and Removing the Boundaries Around Child and Adult Sexuality. On the reconstruction of the interplay between sexual liberalisation, liberalised child education, the paedophile movement and the educational and social sciences in the decades from the 1960s to the 1990s.

 

PROJECT SUMMARY:

The debates in the spring of 2013 surrounding Daniel Cohn-Bendit, member of the European Parliament, and his statements concerning child eroticism in his book The Great Bazaar (1975), subsequently translated from French into German, show that a scholarly reappraisal of the blind spots of the ‘sexual revolution’ and of lifting the taboo surrounding the relationship between child and adult sexuality is in the making. The goal of the research project is to reconstruct the relationship between sexual liberalisation, liberalised child-rearing, the paedophile movement and the educational and social sciences in the period from the 1960s to the 1990s from an interdisciplinary and transnational perspective. The project thereby focuses on the history of educational science and the history of science. The aim is to examine the question concerning the involvement of educational science in the discourse concerning paedophilia. At the same time, the analysis adopts a broader perspective on sexual liberalisation, which includes the coming-to-terms with child sexuality. In the process, the concern is first to reconstruct the specific masking contexts which gave rise to and exploited the paedophile movement. This involves, for example, the close connection between the homosexual liberation movement and the paedophile movement but also the sailing under the flag of child protection which took place. Second, the aim is to examine the effects and the viewpoints of educational science. This concerns in particular the subdisciplines of social pedagogy as well as the newly emerging subdiscipline of sex education. But also proceeding via an examination of educational science, the level of involvement of (social) science in paedophile positions or rather in the arguments concerning the latter will also be studied. In accomplishing this, transnational influences will also be brought into play, influences which marked German discourse on the topic especially in the 1970s and 1980s. This project contributes to the study of the history of sexuality; the history of the paedophile movement; to understanding childhood and educational concepts as used in the liberal and alternative environment from a transnational perspective; to the history of education; to gender history; to the history of new social movements as well as to the history of disciplines and the history of science.

 

ZIELE UND METHODEN DES PROJEKTES:

Das zunächst für zwei Jahre bewilligte Projekt hat am 01.04.2015 seine Arbeit aufgenommen. Ein zentraler Fokus liegt dabei auf der Involviertheit der Wissenschaften in den Diskurs über Pädopilie- bzw. Pädosexualität und in die Entgrenzung von erwachsener und kindlicher Sexualität. Ausgangspunkt für diese Frage nach der Involviertheit der Wissenschaften war unter anderem ein Heft der erziehungswissenschaftlichen Zeitschrift „betrifft erziehung“ aus dem Jahre 1973, dessen Schwerpunkt dem Thema „Pädophilie“ gewidmet war (Baader 2012). Die Ende 1967 gegründete Zeitschrift „betrifft erziehung“, zu Beginn der 1970er Jahre das pädagogische Magazin in der BRD mit der höchsten Auflage, das zahlreiche Autoren aus dem Umfeld des Max-Planck-Institutes für Bildungsforschung aufwies (Ostkämper 2008; Kalb 2011), trug den Untertitel „Forum für Bildungspolitik und Erziehungswissenschaft“ und kann als Zeitschrift einer jüngeren Generation von kritischen Bildungsforscher_innen, Bildungsreformer_innen und Vertreter_innen von „Bildungsinitiativen“ verstanden werden. So erhielten die Zeitschrift und sein Chefredakteur 1971 einen Preis für „Bildungsinitiativen“. Damit ist sie an der Schnittstelle von Bildungsforschung, Bildungsreform und pädagogischen Aufbrüchen um 1970 anzusiedeln (Baader 2012). Die Analyse des genannten Themenheftes zu „Pädophilie“ zeigt, dass es sich bei der Thematik um eine transnationale wissenschaftliche Debatte handelte, die sich nicht ausschließlich einer Pädophiliebewegung im engeren Sinne zuordnen ließ und auch nicht nur in den Publikationsorganen der „Deutschen Studien- und Arbeitsgemeinschaft Pädophilie“ sowie im Umfeld der Partei DIE GRÜNEN oder im Kinderschutzbund geführt wurde.

Neben dem wissenschaftsgeschichtlichen und dem transnationalen Fokus liegen weitere Akzente unseres Projektes auf dem Genderaspekt und der Frage nach der Thematisierung von Kindheit und Jugend, von Jugendkulturen sowie der generationalen Ordnung und des Generationenverhältnisses (Baader 2012; Baader 2015). 

Erste Recherchen haben ergeben, dass die bisher in der Forschung vertretene Position, feministische Gruppen seien grundsätzlich resistent gegenüber pädosexuellen Positionen gewesen (Walter/Klecha/Hensel 2015), nicht haltbar ist, gab es doch auch feministische Gruppierungen, die sich für eine Aufhebung des Schutzalters stark machten. Dabei waren es insbesondere Mädchengruppen - welche sich auf die Heimgeschichte einzelner Mitglieder beriefen und/oder in Verbindung zur sogenannten  Heimkampagne bzw. Heimerziehungsbewegung (Kappeler 2011) standen - die diese Forderungen vertraten und in die feministische Szene hineintrugen. Dies bestätigt uns in der Annahme, dass in der Forschung zur Pädophilie eine eigene erziehungs- und pädagogikgeschichtliche Spur zu verfolgen ist. Darüber hinaus können wir zeigen, dass nicht alle Gruppen der Schwulenbewegung eine gewisse Affinität (Feddersen 2012) gegenüber der Abschaffung des Schutzalters aufwiesen. Gängige Zuordnungen zu einer Schwulenbewegung, die affin gegenüber dem Thema Pädosexualität war und einer feministischen Bewegung, die durchgängig kritisch war, müssen also dezentriert werden. 

Die Verbindung zur Heimkampagne bzw. Heimerziehungsbewegung stellt einen weiteren Fokus dar, den wir in unserem Projekt verfolgen wollen. Dabei untersuchen wir Jugendgruppen und ihre Kulturen in ihrer Thematisierung von Pädosexualität sowie ihren Kontakten und Netzwerken. 

Insgesamt verfolgen wir einen diskursgeschichtlichen Zugang, der weniger einzelne Personen und ihre jeweiligen Positionen ins Zentrum rückt, sondern nach diskursiven Formationen und Kontexten fragt, in denen bestimmte Diskurspositionen eingenommen wurden. Darüber hinaus interessiert uns in wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive auch die Frage nach der Generationenzugehörigkeit. Offensichtlich ist aufgrund unserer bisherigen Recherchen zudem, dass die Thematik stark über Bilder diskursiviert wurde und Methoden der Bild- und Fotoanalyse erfordert. Zudem verlangt die Fragestellung einen sensiblen Umgang mit forschungsethischen Fragen.   

Im Vorfeld des Projektes wurde im Oktober 2014 eine internationale Tagung an der Universität Hildesheim mit dem Thema „Zwischen notwendiger Enttabuisierung und problematischer Entgrenzung. Sexuelle Revolution, Kindererziehung und Sexualaufklärung im historischen Kontext der 1970er und 1980er Jahre“ durchgeführt, auf der die Historikerin Dagmar Herzog aus den USA die Key Note hielt.  Die Beiträge werden im Frühjahr 2016 als Publikation unter dem Titel “Zwischen Enttabuisierung und Entgrenzung. Sexuelle Revolution, Kindheit und Sexualität im historischen Kontext der 1970er und 1980er Jahre“ von Meike Sophia Baader, Christian Jansen, Julia König und Christin Sager herausgegeben im Böhlau Verlag erscheinen.

Im Rahmen des Projektes wird an einer Dissertation zu „Geschlecht und weibliche Pädosexualität“ (Melanie Bühnemann) gearbeitet. In den Arbeitszusammenhang einbezogen ist auch Marcus Felix, der im Rahmen des Graduiertenkollegs „Gender und Bildung“ an der Universität Hildesheim an einer Dissertation zur „Sexualpädagogik im Kreuzfeuer“ arbeitet.  

Mitte 2016 ist ein Workshop zum Thema geplant. Nähere Informationen sowie das Programm werden demnächst hier veröffentlicht.

Einige Vorarbeiten, etwa zu Zeitschriftenanalysen, erfolgten auch im Kontext des ebenfalls von der DFG geförderten Projektes zur bundesrepublikanischen Kinderladenbewegung.

 

PUBLIZIERTE ARBEITEN ZUM THEMENKOMPLEX:

Werner Thole; Meike Sophia Baader; Werner Helsper; Manfred Kappeler; Marianne Leuzinger-Bohleber; Sabine Reh; Uwe Sielert; Christiane Thompson (Hg.) (2012): Sexualisierte Gewalt, Macht und Pädagogik.  Opladen/Toronto.  

Baader, Meike Sophia (2012): Blinde Flecken in der Debatte über sexualisierte Gewalt. Pädagogischer Eros in geschlechter-, generationen- und kindheitshistorischer Perspektive. In: Werner Thole; Meike Sophia Baader; Werner Helsper; Manfred Kappeler; Marianne Leuzinger-Bohleber; Sabine Reh; Uwe Sielert; Christiane Thompson (Hg.). Sexualisiert Gewalt, Macht und Pädagogik. Opladen/Toronto, S. 80-95.

Baader, Meike Sophia (2015): Pedo-sexuality: An especially German history. In: Child, special issue of WSQ (Women Studies Quarterly), 43(1/2), 315-322.

Baader, Meike Sophia (2016): History and gender matters. Erziehung – Gewalt – Sexualität in der Moderne in geschlechtergeschichtlicher Perspektive. In: Erziehung, Gewalt, Sexualität. Zum Verhältnis von Geschlecht und Gewalt in Erziehung und Bildung. / Hrsg.: Claudia Mahs; Barbara Rendtorff; Thomas Viola Rieske. Opladen, S. 13-37.  

Baader, Meike Sophia (2017): Pädosexualität. Kindheit und Geschlecht im wissenschaftlichen Diskurs. In: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung. 14. Jg., H. 1, S. 3-19.

Baader, Meike Sophia/Jansen, Christian/König, Julia/Sager, Christin (Hg.)(2017): Tabubruch und Entgrenzung. Kindheit und Sexualität nach 1968. Köln/Weimar/Wien    http://www.boehlau-verlag.com/978-3-412-50793-0.html

Baader, Meike Sophia (2017): Zwischen Politisierung, Pädosexualität und Befreiung aus dem „Getto der Kindheit“. Diskurse über die Entgrenzung von kindlicher und erwachsener Sexualität in den 1970er Jahren. In: Baader, Meike Sophia/Jansen, Christian/König, Julia/Sager, Christin (Hg.)(2017): Tabubruch und Entgrenzung. Kindheit und Sexualität nach 1968. Köln/Weimar/Wien, S. 55-84


Friedrichs, Jan-Henrik (2017): Die Indianerkommune Nürnberg. Kinderrechte – Antipädagogik – Pädophilie”, in: Baader, Meike Sophia/Jansen, Christian/König, Julia/Sager, Christin (Hg.)(2017): Tabubruch und Entgrenzung. Kindheit und Sexualität nach 1968. Köln/Weimar/Wien, S. 251-282

Sager, Christin (2017): „ENTSETZLICH, was die Kinder heute schon alles wissen dürfen.“ Kindliche Sexualität, Sexualerziehung und sexualisierte Gewalt um 1968. In: Baader, Meike Sophia/Jansen, Christian/König, Julia/Sager, Christin (Hg.)(2017): Tabubruch und Entgrenzung. Kindheit und Sexualität nach 1968. Köln/Weimar/Wien, S. 218-231

Universität Hildesheim

Fachbereich 1: Erziehungs- und Sozialwissenschaften

Institut für Erziehungswissenschaft/ Abteilung Allgemeine Erziehungswissenschaft

Universitätsplatz 1
31141 Hildesheim

Team

Projektleiterin:

Prof. Dr. Meike Baader
E-Mail: baader(at)uni-hildesheim.de
Tel.: +49 (0) 5121-883-10102
Fax: +49 (0) 5121-883-10103

Mitarbeiter:

Dr. Jan-Henrik Friedrichs
E-Mail: friedri(at)uni-hildesheim.de
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