Europagespräche des Instituts für Geschichte, Stiftung Universität Hildesheim

 

20.1.2014 Professorin Tiziana Di Maio: Der italienische Christdemokrat, Außenminister und Ministerpräsident Alcide De Gasperi, Deutschland und Europa (1945-1954)

 

Zur Referentin: Prof. Dr. Tiziana Di Maio schloss ihr Studium  an der Fakultät für Politkwissenschaften der Universität La Sapienza (Rom I) mit einer Arbeit zum Thema „Konrad Adenauer und die CDU und die Wiederbegründung der Demokratie in Deutschland“ ab, und promovierte an der Università degli Studi di Roma Tre (Rom III) mit einer Arbeit über die Beziehungen zwischen Italien und der Bundesrepublik Deutschland in der Zeit von Alcide De Gasperi. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Rechtsfakultät der Libera Università Maria SS. Assunta di Roma (Lumsa), und ist heute Professorin für die Geschichte der Internationalen Beziehungen an der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Lumsa. Sie lehrte an der Libera Università degli Studi Per l'Innovazione e le Organizzazioni (Unint-Luspio), an der FU Berlin und an der La Sapienza, und arbeitet unter anderem mit dem Institut Luigi Sturzo, der Alcide De Gasperi Stiftung und der Konrad Adenauer Stiftung zusammen. Von Tiziana di Maio liegen zahlreiche Veröffentlichungen u.a. zu den deutsch-italienischen Beziehungen vor.

 

Zu Beginn ihres Vortrags weist die Referentin darauf hin, dass sie ihren Vortrag im 60. Todesjahr De Gasperis hält. Sie beginnt mit einigen Anmerkungen zur Person De Gasperis, beschäftigt sich dann mit den Hauptzügen seiner Europaidee, mit seinem Europakonzept und schließlich mit seinen besonderen Beziehungen zu Deutschland und zu Konrad Adenauer.

 

Alcide De Gasperi wurde 1881 bei Trient geboren, das damals zu Österreich-Ungarn gehörte. Er studierte Philosophie und Literatur in Wien, wo er eine wichtige Rolle in der christlichen Studentenbewegung spielte. Als Abgeordneter der christlich-sozialen Partei saß er im österreichischen Reichsrat und war nach dem I. Weltkrieg, nachdem Südtirol an Italien gefallen war, Mitbegründer der Italienischen Volkspartei (Partito Popolare Italiano, PPI). Ab 1921 war er deren Abgeordneter im italienischen Parlament, später Fraktionsführer. Er befürwortete eine Regierungsbeteiligung der Partei und nach 1922 eine Zusammenarbeit mit Mussolini, da er wie andere Popolari an eine verfassungsmäßige Wandlung des Faschismus glaubte. Diese Illusion verschwand schnell und De Gasperi und die Popolari standen in Opposition zu Mussolini. Ab Mai 1927 befand er sich sechzehn Monate lang in Haft und arbeitete ab 1929 in der Bibliothek des Vatikan, von wo aus er die zunächst illegale Democrazia Christiana (DC) gründete.

In den beiden Weltkriegen wurzeln die europäischen Gedanken des „an Italien ausgeliehenen Trentiners“, wie De Gasperi sich selbst nannte. Nach dem Krieg stellte er sich in den Dienst eines politisch geeinten Europas. De Gasperi war sich nach 1945 bewusst, dass eine neue Epoche begann, in der es für Nationalstaaten allein keinen Handlungsspielraum mehr gab. Die Neuorientierung der italienischen Außenpolitik im Sinne der Einleitung des europäischen Integrationsprozesses war sein Verdienst.

Bei der Umsetzung seiner Ideen in konkrete Politik, sind mindestens drei Faktoren anzuführen:

- De Gasperi hat das Ausmaß der Niederlage Italiens und Europas sowie die wirtschaftliche und politische Schwäche der europäischen Staaten nach dem II. Weltkrieg exakt wahrgenommen.

- Er erkannte rechtzeitig das Ende der großen Anti-Hitler-Koalition und den Wettstreit der Großmächte. Aufmerksam beobachtete er die deutsche Lage und das Handeln der Supermächte in Bezug auf Deutschland.

- Zu nennen sind zudem die Rolle der USA, der Antikommunismus und die Furcht vor der sowjetischen Bedrohung.

In Erinnerung zu rufen sind auch Ereignisse der italienischen Geschichte. Die Idee einer internationalen Gemeinschaft, zwecks Abrüstung und Gleichgewicht, gab es in der DC seit 1943. 1944 wurde De Gasperi italienischer Außenminister. Er hatte dieses Ministerium bewusst gewählt, weil es in der damaligen Lage und angesichts der Situation Italiens die Schlüsselposition in der Regierung war. Es ermöglichte ihm den Kontakt zu den angloamerikanischen Besatzungsmächten – eine Erfahrung die ihm später als Ministerpräsident zugute kam. 1945 trafen sich die Außenminister der vier Siegermächte in London, u.a. um einen Friedensvertrag für Italien zu verhandeln. Zur Diskussion stand das Problem der Gebiete Istrien und Trient. De Gasperi betonte, dass Italien bereit sei, im Namen der europäischen Solidarität Opfer zu bringen, als Beitrag zu einer gerechteren Welt. Doch das Angebot des besiegten Italiens wurde nicht angenommen. Der von der Resistenza geleistete Widerstand reichte nicht aus, um die Bedingungen des Friedensvertrags von 1947 zu mildern, der von der Bevölkerung als Strafdiktat angesehen wurde.

Das Ausmaß der Niederlage wurde De Gasperi auch im August 1946 bei der Pariser Friedenskonferenz klar, zu der er als Ministerpräsident Italiens zugelassen wurde, um den Standpunkt seines Landes vorzutragen. Die Bedingungen des Friedensvertrags lagen bereits fest, und es herrschte eine Atmosphäre allgemeiner Kälte. Lediglich der amerikanische Außenminister James Byrnes begrüßte De Gasperi nach seiner Rede. Aus Paris zurückgekehrt, war De Gasperi überzeugt, dass die Rettung Italiens nur auf dem Weg einer Politik möglich war, die auf den materiellen und geistigen Aufbau Europas ausgerichtet war.

De Gasperi verstand, dass Italien sich im westlichen Einflussbereich befand. Die wirtschaftliche Lage des Landes war dramatisch und in seiner Partei gab es Strömungen, deren Ziel die Neutralität Italiens war, die bis 1948 auch vom Vatikan positiv gesehen wurde. Im Januar 1947 reiste De Gasperi in die USA. Darüber wurde viel geschrieben, u.a. er habe sich Anweisungen geholt. Aber die Reise war ein Zeichen der Weitsichtigkeit De Gasperis. Er wusste, dass Italien die praktische Unterstützung der Amerikaner brauchte. De Gasperi musste sich mühsam ihr Vertrauen erobern und erhielt einen Kredit über 150 Mio US-Dollar. Etwa gleichzeitig erfolgte die Ankündigung des Marshall-Plans und der Einleitung der Containment-Politik sowie die Errichtung der Organisation für Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC).

In den ersten Nachkriegsjahren war Italiens Außenpolitik national ausgerichtet. Im Kalten Krieg wurde De Gasperi klar, dass das nicht länger möglich war. Er erarbeitete eine neue außenpolitische Linie, gestützt auf die Verbindung mit dem Westen und europäisch orientiert. Eine autonome Außenpolitik war in dieser Situation vor allem für einen Staat wie Italien, der noch immer als Feind behandelt wurde und als nicht ganz und gar vertrauenswürdig galt, unmöglich. De Gasperi sah jedoch die Chance für Italien, Gleichberechtigung zu erlangen, überzeugt davon, dass die europäischen Länder gemeinsam die politische und wirtschaftliche Schwäche überwinden und eine Rolle im Wettstreit der Großmächte spielen könnten. Dabei stellte sich De Gasperi eine Mittlerrolle zwischen Ost und West, zwischen Kapitalismus und Kommunismus, vor. Die Integration sollte für die europäischen Staaten auch ein wichtiges Element sein, um eine stärkere Position gegenüber den USA zu erlangen. De Gasperi verteidigte den Zusammenhang zwischen der Europainitiative und der Atlantikbindung, die er nicht nur wirtschaftlich und strategisch definierte, sondern auch moralisch und ideell. Immer wieder kam er auf die Notwendigkeit der Atlantikbindung zurück, so 1948 beim Kongress der Jugenddelegation der Nouvelles Equipes Internationales.

 

Die Historiker diskutieren, ob das Europa De Gasperis und der anderen Gründungsväter ein  katholisches Europa war. Bei De Gasperi gab es sicher keine Neigung zur Errichtung einer neuen christlichen Ordnung. Er war bemüht, sich von solchen Unterstellungen freizumachen und verteidigte den laizistischen Staat. Die Zusammenarbeit der christlichen Parteien machte ihre Prinzipiengleichheit deutlich, die zu einer gewissen Ähnlichkeit, wenn nicht Uniformität bei der Lösung gemeinsamer Probleme führte. Er dachte nicht an ein christliches Europa, aber an ein Europa unter Achtung des Hauptwerks des Christentums: Die Verteidigung der Menschenrechte. Die Einigung Europas durfte sich daher nicht auf eine ausschließlich wirtschaftliche Lösung stützen; die Grundlage musste soziale Gerechtigkeit sein. Die Wirtschaft konnte nur der erste Schritt sein, die Politik musste folgen. De Gasperi forderte seine christlich-sozialen Kollegen in Europa auf, den Geist des Evangeliums auf die soziale Realität anzuwenden.

Seine Gedanken sind interessant, wenn sie auf die heutige Situation übertragen werden. Vor 60 Jahren war die europäische Einigung die Antwort auf die tragische Erfahrung von Faschismus und Krieg. Heute ist die politische Einigung das noch nicht erreichte Ziel und die Krise untergräbt nicht nur das wirtschaftliche Fundament, sondern erschüttert auch das Vertrauen in die EU. Mit Weitblick hatte De Gasperi verstanden, dass das Hauptproblem bei der Errichtung der europäischen Föderation im wirtschaftlich-finanziellen Bereich liegen werde. Seiner Meinung nach sollte jeder nach seinen eigenen Mitteln und Möglichkeiten dazu beitragen. Heute, in der Krise, erscheint De Gasperi wie ein Europäer der aus der Zukunft kommt und uns mahnt, den Weg weiter zu gehen.

Das integrierte Europa war für De Gasperi auch eine Garantie für Sicherheit und Frieden. Bei seiner Rede in Brüssel 1948 über die moralischen Grundlagen der Demokratie betonte er, dass Freiheit und soziale Gerechtigkeit nur in einem Klima der Sicherheit erreicht und verteidigt werden können. Er sprach von einem Trio: Freiheit, soziale Gerechtigkeit und Friede. Den Frieden zu bewahren bedeutete auch, Westeuropa vor der Gefahr der sowjetischen Aggression zu bewahren. Es war die Angst vor der sowjetischen Bedrohung, die den europäischen Integrationsprozess beschleunigte.

 

De Gasperi verstand, dass Deutschland noch lange der Protagonist in den internationalen Beziehungen sein würde, wenn auch in einer vorwiegend passiven Rolle. Es war für ihn klar,  dass eine Zukunft Europas ohne Beteiligung Deutschlands am europäischen Integrationsprozess nicht denkbar war. Daher war er nach dem Krieg einer der aktivsten Befürworter der Eingliederung Deutschlands in die im Entstehen begriffene Europäische Gemeinschaft. Er übernahm eine Mittlerrolle zwischen Deutschland und Frankreich, denn der Weg zu Friede und Stabilität in Europa lief für ihn auch und vor allem über die Lösung des deutsch-französischen Problems. In den 50er Jahren festigten sich so die Beziehungen zwischen der DC und CDU-CSU. Zur Zeit De Gasperis herrschte zwischen ihnen ein ausgeprägtes solidarisches Verhältnis des gegenseitigen Verständnisses, das auch entscheidend zur Annäherung zwischen beiden Völkern beitrug.

Wichtiger offizieller Beweis für die Unterstützung, die Italien Deutschland zukommen ließ, war der Besuch Adenauers in Rom 1951. Es war Adenauers erster offizieller Besuch im Ausland. Die Angst vor Demonstrationen erwies sich als unbegründet. Doch für De Gasperi war der Besuch schwierig, denn eine zu freundliche Haltung Deutschland gegenüber hätte ihn zur Zielscheibe der sozialkommunistischen Opposition gemacht.

1945-54, als De Gasperi die italienische Außenpolitik leitete, hat er einen entscheidenden Beitrag zur europäischen Einigung geleistet und sich gleichzeitig einen besonderen Platz in der Geschichte der Bundesrepublik erworben. Wie sehr sich die deutsche Führungsschicht und auch die Bevölkerung dessen bewusst waren, konnte man feststellen, als sein politischer Niedergang begann. Dieses Bewusstsein drückte sich in konkreter Dankbarkeit aus: 1952 erhielt De Gasperi den Aachener Karlspreis für seine Verdienste um Europa, 1954 das Großkreuz des Bundesverdienstordens für besondere Verdienste für die Bundesrepublik Deutschland. Das war ein wichtiges Zeichen der Unterstützung, als die Ära De Gasperi sich schon ihrem Ende zuneigte, in Italien wie in Europa, wo die Europäische Verteidigungsgemeinschaft auf Hindernisse stieß. De Gasperi genoss trotz seines politischen Niedergangs Adenauers volles Vertrauen. Als Adenauer 1954 das zweite Mal Rom besuchte, ging er auch zu De Gasperi. Die Nachricht über dessen plötzlichen Tod im August 1954 kam fast gleichzeitig mit der Nachricht der Nichtratifizierung des EVG-Vertrags durch das französische Parlament. De Gasperi wollte einer politischen EU zum Leben verhelfen und war damit gescheitert.

 

Die pro-europäische Entscheidung Italiens war das Ergebnis einer ideellen Überlegung, entsprechend dem traditionellen Denkmuster der Gründerväter, und wurde bestärkt durch die realpolitische Notwendigkeit. Für Italien war die europäische Integration die Möglichkeit zur Erlangung der größtmöglichen Autonomie und wie für Deutschland ein Weg zur Erlangung der vollständigen Souveränität und Gleichberechtigung. Für Frankreich war sie der Weg zum Frieden. Nach dem II. Weltkrieg hatte also in der Außenpolitik, besonders in der Europapolitik De Gasperis, das ideelle Motiv dasselbe Gewicht wie das sachliche. In den ersten Studien zu De Gasperis Europapolitik stand dagegen seine Person im Mittelpunkt: Der Katholik, der Trientiner, des Habsburger Bürger, die Freundschaft und Werte-Gemeinschaft mit Adenauer und Schuman. In den drei Staatsmännern erkannte man die Gründungsväter des vereinten Europas. Aus ihren analogen Lebensläufen, ihrem politischen und  religiösen Werdegang, wurden die Eckpfeiler des europäischen Hauses abgeleitet. Ihr Handeln für den Integrationsprozess wurde mit der Romantik und der Mythologie einer Freundschaft und  Gesinnungsgleichheit umgeben. Die Erforschung der praktischen Gegebenheiten, an denen sie sich ausrichten mussten, trat in den Hintergrund. Den ideellen und den praktischen, realpolitischen Motiven ist aber derselbe Wert beizumessen. Dies ist als Beitrag zur ausgewogenen Bewertung ihrer Politik zu verstehen, die damit nichts an weitsichtigen und großartigen Zügen einbüßt. Auch wird die These, dass sie die Gründungsväter Europas sind, weder geleugnet noch geschmälert, aber es wird der romantische Schleier gelüftet.

 

Diskussion

 

Diskussionsbeitrag: De Gasperi war bemüht nicht den Eindruck aufkommen zu lassen, er wolle eine „schwarze Internationale“. Er hielt Distanz zum Vatikan.

Antwort: Das hat er sehr oft bewiesen. 1952 war er Ministerpräsident, als es Kommunalwahlen in Rom gab. Der Vatikan förderte eine nach rechts ausgerichtete Liste und wollte auch Luigi Sturzo benutzen, der Priester war und nicht nein sagen konnte. De Gasperi hat dagegen gearbeitet, die Operazione Sturzo wurde nicht realisiert, und De Gasperi stand im „Schwarzen Buch“ von Pius XII. Ein Jahr später bat De Gasperi  den Papst um eine Privataudienz, nachdem seine Tochter Nonne geworden war, und der Papst lehnte ab. De Gasperi antwortete: Als Katholik akzeptiere ich das Nein, nicht als Ministerpräsident. Er war ein guter Katholik, aber die Trennung von Staat und Kirche sollte klar sein.

 

Diskussionsbeitrag: Adenauer wurde in Rom positiv empfangen. Nach dem Krieg spielte in Italien die Kommunistische Partei eine starke Rolle und war an der Regierung beteiligt. Wie ist es De Gasperi gelungen, sie auszuschalten?

Antwort: Es ist ihm nicht gelungen. Gelungen war, dass es keine Demonstrationen gegen Adenauer gab. Italien war gespalten in kommunistisch und nicht-kommunistisch. Die Zeitungen der DC hatten nur 1943/44 antideutsche Artikel veröffentlicht, dann nicht mehr. Auch in den Berichten über die Nürnberger Prozesse gab es keine Bewertung des deutschen Volks. Es gab noch antideutsche Ressentiments, aber in der Zeit De Gasperis auch ein Engagement für ein neues Deutschland. Es waren sehr engagierte Leute dabei, die in den christdemokratischen Zeitungen viel z.B. auch über Adenauer publiziert haben. Die Journalistin Lina Morino stellte ihn als echten Demokraten vor. So wurde eine positive öffentliche Meinung gebildet und die deutsch-italienische Freundschaft gestartet.

 

Diskussionsbeitrag: Man muss sich die Last, die auf den deutsch-italienischen Beziehungen lag, vorstellen: 1944 in Rom in der Via Rasella ein Partisanenanschlag auf eine Polizei-SS-Einheit mit vielen Toten, dann der Gegenschlag in den Ardeatinischen Höhlen, italienische Kriegsgefangene in Deutschland, die - auch in Hildesheim - noch in den letzten Kriegstagen hingerichtet wurden. Um so erstaunlicher ist es, dass es Adenauer und De Gasperi gelang eine Verständigung einzuleiten. Welches Deutschlandbild hatte De Gasperi? War das westdeutsche, katholische, rheinische Deutschland für ihn angenehmer als das preußische Großdeutschland? Waren die Teilung, die Weststaatsgründung und die Westbindung für ihn die Voraussetzung für das Verständnis?

Antwort: Ja, Adenauer war die Garantie für das demokratische Deutschland. Ein preußisches Deutschland, ein Großdeutschland war für alle ein Problem. De Gasperi hatte in seiner Weitsicht verstanden, dass ein in Europa eingebundenes Deutschland  kein Problem mehr wäre. Er wusste von seinen Botschaftern, was Adenauers Deutschland für ein Land war und was die Amerikaner mit Deutschland tun wollten. Am 4. April 1949 wurde die Nato gegründet, vier Tage später haben die drei Westmächte das Washingtoner Abkommen (Dreimächtekommuniqué über Deutschland zum Abschluss der Außenministerkonferenz in Washington) beschlossen, das festlegte, was der neue Staat Deutschland tun durfte. Er war kein souveräner Staat.

 

Diskussionsbeitrag: De Gasperi und Adenauer hatten ein schweres Erbe, den Faschismus, und repräsentierten Verlierer-Staaten, die um Anerkennung kämpften. Haben sie auch deshalb kooperiert? Sie schufen sich über ihre bilateralen Beziehungen wechselseitige Anerkennung und kommen so in den Club der Westmächte.

Antwort: Es gab schon ein geheimes Treffen der Christdemokraten in Genf 1945. Hier wurden die Nouvelles Equipes Internationales (NEI) gegründet, eine erste Organisation, die die Vergangenheit überwinden wollte. Aus den Ruinen Europas sollte etwas Neues entstehen, und es war klar, das Neue konnte nicht aus dem Hass entstehen.

 

Diskussionsbeitrag: 1946 gab es das berühmte Gruber-De Gasperi-Abkommen (Autonomie für Südtirol im Zentralstaat Italien), mit dem die Südtiroler nicht glücklich waren und das auch nicht funktioniert hat. Es führte zu einer Radikalisierung mit Bombenanschlägen in den 60ern bis in die 80er Jahre. Erst in den 50ern macht De Gasperi wirklich europäische Politik. War er durch und durch Europäer? Ein Europäer der ersten Stunde? Oder wird er erst später einer? Das Südtirol-Abkommen war eine nationale, keine europäische Lösung.

Antwort: De Gasperi war Ministerpräsident Italiens und musste die Interessen Italiens vertreten. Er meinte, der Brenner ist die Tür Italiens. Nach dem I. Weltkrieg hat Italien Südtirol bekommen; das war wichtig, um diese Grenze zu schließen, ebenso nach dem II. Weltkrieg, im Kalten Krieg.

 

Diskussionsbeitrag: Churchill sagte, Südtirol sei eindeutig ein Teil Österreichs, geografisch, ethnisch, ökonomisch und historisch, man solle ihm das Recht auf Selbstbestimmung geben. De Gasperi lehnte eine Volksabstimmung ab. Er war als ehemaliger österreichischer Reichsratsabgeordneter und nun Ministerpräsident Italiens  in einem echten Dilemma. Im Trentino gab es eine Autonomiebewegung, bis hin zum Sezessionismus.

Antwort: Eine Volksabstimmung wäre die erste europäische Geste der Zeit gewesen, aber das hätte damals niemand in einem Teil des eigenen Landes gemacht, auch nicht in den 60er und den 70er Jahren.

Diskussionsbeitrag: Es war die einzige Regelung einer Minderheitenfrage in Europa nach dem Krieg und man muss De Gasperi zugute halten, dass er immerhin ein Stück nationalen Interesses aufgegeben hat, um den Südtirolern eine Autonomie zu geben, die allerdings keine war. Es war eine Schein-Autonomie. Südtirol kostete Italien eine Menge und die Grenze hat heute keine strategische Bedeutung mehr. Die „Europaregion Tirol“ ist aber heute eine der prosperierendsten Regionen Europas.

 

Diskussionsbeitrag: Hatte die damals beginnende deutsche Reisefreude Richtung Italien eine politische Bedeutung?

Antwort: Ja, es war wichtig für Italien. Es gab zwei Ströme in zwei Richtungen: Die Deutschen fuhren nach Italien in Urlaub und die Italiener zur Arbeit nach Deutschland. Es gab Verträge zwischen beiden Ländern über Gastarbeiter und Tourismus. Das ist auch in der Gegenwart noch wichtig.

 

Diskussionsbeitrag: Für die 70er Jahre gibt es Hinweise, dass beide Seiten bemüht waren, in den Sommermonaten die Diskussion über die  deutschen Kriegsverbrechen in Italien niedrig zu halten, um den Tourismus nicht zu gefährden. Die Affäre Kappler (Befreiung des SS-Mannes Herbert Kappler, der nach dem Krieg zu lebenslanger Haft verurteilt worden war, durch seine Frau aus einem römischen Gefängnis) hat in den 70er Jahren die Beziehungen belastet und sich auch auf den Tourismus ausgewirkt. Spielte der Tourismus auch schon in den Zeiten von Adenauer und De Gasperi eine Rolle?

Antwort: Es war bereits spürbar. Man hat schon früh, Ende der 40er Jahre, an einen Studentenaustausch gedacht und auch damit angefangen, wenn er auch nicht so gut lief wie der deutsch-französische. Aber man hatte verstanden, dass man die Probleme besser überwinden kann, wenn man sich kennt. Und Italiener, die gleich nach Krieg 1945 in Deutschland waren, haben zusammen mit Deutschen, die Italien kannten, Deutsch-Italienische Gesellschaften gegründet.

 

Diskussionsbeitrag: De Gasperi sah Deutschland als gleichberechtigt an und leistete damit einen Beitrag zur Integration Deutschlands in die westliche europäische Staatengemeinschaft. Er dachte laizistisch, losgelöst von einer zu starken Anbindung an den Vatikan und hatte auch persönliche Probleme mit dem Papst. Das passt nicht zur sozialistischen Darstellung De Gasperis als „vatikaninform“. Gibt es Hinweise darauf, von wem er die Europaidee bekommen hat? Gab es Vordenker? Luigi Sturzo oder Luigi Einaudi, der italienische Staatspräsident, der als früher europäischer Föderalist gilt? Oder Politikberater?

Antwort: De Gasperi nahm alle Beratungen an. Die Europa-Idee war schon in den 20er und 30er Jahren wichtig, blieb aber in einem Elitenkreis. Dann kam der Faschismus. Nach 1945 konnte man den Ideen eine Form geben, vor dem Hintergrund der internationalen Beziehungen und des Kalten Kriegs. Als Stalin 1953 starb, wurde der Integrationsprozess, der 1950 sehr schnell angefangen hatte, gestoppt; man hatte das Gefühl, der Kalte Krieg sei vorbei. 1955 wurde der Prozess wiederaufgenommen. Aber was De Gasperi mit Art. 38 EVG gewollt hatte, wurde nicht mehr vorgeschlagen. Wäre die EVG mit Art. 38 (ein allgemeiner Rat  für Europa, eine Verfassung) angenommen worden, hätte es schon in den 50er Jahren eine politische Vereinigung Europas gegeben.

 

Diskussionsbeitrag: Art. 38 beinhaltete im Entwurf eine politische Gemeinschaft, De Gasperis Vorhaben ging weiter als Maastricht 1993. Der Integrationsprozess ließ nach dem Tod Stalins nach. Wie wichtig war der Kalte Krieg für De Gasperi und die westeuropäische Integration?

Antwort: Er war die Voraussetzung, der Motor für die Integration.

 

Diskussionsbeitrag: Wie sind De Gasperi und sein Europagedanke in Italien angenommen worden?

Antwort:  Er starb 1954, und bald gab es Studien über ihn. Dann wurde er vergessen, nur in der Wissenschaft nicht. Als Gründungsvater Europas wurde er immer genannt, aber in der Öffentlichkeit war er kaum bekannt. Dafür gibt es verschiedene Gründe. So befinden sich z.B. die Privatakten im Besitz der Familie, und Historiker können sie nicht einsehen. In den letzten Jahren nimmt ihn auch die Öffentlichkeit vermehrt wahr. Zum 50. Todestag zeigte die RAI einen Film über ihn. In den letzten 10 Jahren gab es viele Studien über De Gasperi, davor nur wenige, vor allem im Vergleich zu Adenauer über den es schon in den 90er Jahren viele Studien gab. Seine Reden, Schriften usw. wurden veröffentlicht und das Adenauer-Haus eingerichtet. Er ist in Deutschland sehr bekannt, und ich habe im Adenauer-Haus und bei Adenauers Grab Leute getroffen, die ihn ehren wollten. Das ist in Italien mit De Gasperi nicht so.

 

Diskussionsbeitrag: Die Konrad Adenauer Stiftung ist sehr einflussreich und weltweit aktiv mit Stipendien, Forschungsförderung usw. Die DC, die als Partei hinter De Gasperi stehen würde, existiert nicht mehr.

Antwort: Schon als die DC noch existierte gab es wenig Erinnerungen an De Gasperi. Adenauer ist 1967 gestorben, De Gasperi 13 Jahre vor ihm und wir haben immer noch weniger Studien über ihn.

 

Diskussionsbeitrag: Wir sprechen von der Ära Adenauer, denn er hat diese Ära geprägt. Kann man von der Ära De Gasperi sprechen?

Antwort: Eine Ära ist länger als fünf bis sieben Jahre. In einer größeren Bedeutung kann man das aber schon tun. Wir haben keinen Politiker wie De Gasperi mehr gehabt.

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