Europagespräche des Instituts für Geschichte, Stiftung Universität Hildesheim

 

13.05.2013 – Sylvain Schirmann: Der Europäische Roundtable of Industrials (ERT) und der europäische Integrationsprozess

(Straßburg)

 

Sylvain Schirmann, geboren 1955, studierte zunächst Geografie, später auch Geschichte. Er übte das Lehramt an Schulen aus und hatte Professuren in Metz und Luxemburg inne, gegenwärtig eine solche in Straßburg. Zudem ist Schirmann directeur de l'Institut d'études politiques de Strasbourg.

Er ist Experte für Robert Schuman sowie auch die Zeitgeschichte der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich. Schirmann ist einer der führenden Finanz-, Wirtschafts- und Währungshistoriker Europas. Des Weiteren forschte er viel zu Netzwerken und Personen, die im Hintergrund wirkten, um die Organisation Europas und die Ausformung der europäischen Demokratien.

Im folgenden Vortrag geht es um die Frage, welchen Einfluss Industrielle spätestens seit den 1980er Jahren auf die Gestaltung der EU nahmen.

 

 

Die Assoziation für die europäische Währungsunion (AUME/ EUABC, de.euabc.com/word/69) und der Europäische Roundtable of Industrials (ERT, www.ert.eu) wurden 1987 bzw. 1983 gegründet. Ziel war es, die wirtschaftliche Integration zu fördern, ein Prozess, der Ende der 1970er Jahre ins Stocken geraten war. Es gab enge Beziehungen der EWG zur Wirtschaftswelt, diese Tatsache ist bereits auch für die nationale Ebene bestätigt worden.

Schirmann legt dar, dass er zunächst mit einigen allgemeinen Bemerkungen beginnen wird, dann auf die AUME zu sprechen kommt, um schließlich noch einige bündelnde Schlussbemerkungen anzufügen.

 

Bereits in den 1920er Jahren hatte es erste Organisationen von europäischen Unternehmern zur länderübergreifenden Kooperation und Einflussnahme auf den europäischen Integrationsprozess gegeben (z.B. 1925 die europäische Zollunion). Man wollte Grundlagen für einen europäischen Binnenmarkt zu schaffen. Hierbei sind früh zwei Grundlinien erkennbar: 1. sollten schrittweise die Zollschranken fallen und 2. Kartellorganisationen die Märkte kontrollieren.

Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte die Europäische Liga für wirtschaftlichen Zusammenarbeit hier anzuknüpfen. In den späten 1950er Jahren jedoch hatte sich die Situation verändert. Auf der einen Seite suchte die Kommission bei den Industriellen Expertise, auf der anderen Seite hofften die Industriellen, den europäischen Einigungsprozess beeinflussen zu können. Damals wurden die Vertreterorganisationen der Industrie in Europa gegründet, die auch heute noch bestehen. Nationale Industriellenorganisationen verloren jedoch allmählich an Bedeutung, denn sie wurden zunehmend zur Lobby europäischer Verbünde auf nationaler Ebene. Doch die Mitgliedstaaten gaben damals ihre nationale Wirtschaftspolitik noch nicht auf.

Die 1980er Jahren stellen mit der Wiederbelebung und Stärkung der industriellen Interessenvertretungen (AUME)und ERT) einen erneuten Einschnitt dar. In ihren Eigenschaften erinnern sie an die 1920er Jahre. Sie waren geprägt durch ihren gemeinsamen Willen, Druck auf die Europapolitik auszuüben, um die europäische Wirtschaft zu stärken. Die maßgeblichen Teilnehmer stammten sowohl aus dem EWG-Raum als auch aus Nichtmitgliedsländern wie beispielsweise der Schweiz, sowohl von Staats- als auch von Privatfirmen. Die Staats- und Regierungschefs wussten also von Beginn an, was hier verhandelt wurde.

Prägend auf der Gründungsversammlung der ERT im April 1983 wirkten vor allem die beiden Kommissare Étienne Davignon (Belgien) und François-Xavier Ortoli (Frankreich). Beide waren hohe Beamte, Politiker und Geschäftsmänner.

Damals hatte Helmut Kohl die Ratspräsidentschaft inne. Danach sollte Griechenland an die Reihe kommen, dann Frankreich. Die tiefe Krise zwischen den deutsch-französischen Beziehungen vom Beginn der 1980er Jahre war 1983 überwunden. Die Großindustriellen nahmen die Annährung von Mitterrand und Kohl mit Beifall zur Kenntnis und entschieden, dass es Zeit für ein neues Projekt sei.

In der Folge stellt Schirmann mittels online-Unterstützung einige Dokumente, die auf der oben zitierten Homepage der ERT veröffentlicht sind, vor, die seine Ausführungen belegen und konkretisieren. Aus den Gründungsdokumenten geht hervor, dass im Juni 1983 seitens der ERT dem Europäischen Rat Vorschläge zur Liberalisierung des Handels und zur Vereinigung der europäischen Industrie unterbreitet. Des Weiteren wird in den Quellen auf zahlreiche damals bestehende Infrastrukturprobleme hingewiesen, die es im Rahmen der EU-Politik zu beheben gelte. Heute sind einige dieser Projekte bereits umgesetzt, so z.B. der Ärmelkanaltunnel oder die Brücke von Dänemark nach Schweden, während die Alpen nach wie vor ein verkehrstechnisches Hindernis darstellen. Auch der französische TGV (Paris-Lyon in zwei Stunden) ist ein Produkt dieser Empfehlungen.

1985 erläuterte der neue Präsident der Europäischen Kommission, Jacques Delors, sein Programm. Man erfuhr, dass sein Ziel die Schaffung eines europäischen Binnenmarkts sei – allerdings mit einer sozialen Dimension und durch einen neuen europäischen Vertrag gerahmt.

Nun wurde auch die Assoziation für die europäische Währungsunion geschaffen, und zwar dies aus den Reihen der sechs Gründungsmitglieder der EWG. Unter den Gründern finden sich auch Politiker wie Helmut Schmidt. Zu den Teilzielen gehörte u.a. die Schaffung einer Europäischen Zentralbank. Die Zusammenarbeit mit der ERT war eng.

Welche Ziele setzte man sich in den 1990er Jahren, besonders nach dem Vertrag von Maastricht, fragt Schirmann. Es ging zum Beispiel um Kompetitivität (= Wettbewerbsfähigkeit), eine Verbesserung der Telekommunikation in Europa sowie um eine Privatisierung des öffentlichen Sektors und den Abbau staatlicher Reglementierungen in den Bereichen Energie, Transport und Kommunikation. Arbeitslosigkeit und Sozialpolitik waren genauso Themen wie den Abbau der Grenzkontrollen. Auch der Bildungssektor sollte reformiert und europaweit angeglichen werden.

Sobald die Währungsunion umgesetzt war, löste sich die Assoziation auf; alle Dokumente liegen heute in Paris.

 

Das ERT-Projekt war für viele Industrielle nicht nur der Binnenmarkt in Europa, sondern sie dachten noch weiter. Der europäische Binnenmarkt jedoch sei einerseits durch die Schaffung eines institutionellen Rahmens und andererseits durch die Schaffung eines echten industriellen Großmarkts zu erreichen, so die Meinung der beteiligten ERT-Mitglieder. Hier stellte sich auch die Frage, wie sich die Einigung Europas zur Globalisierung verhält.

Die Einflussnahme war nicht einseitig, denn auch die Kommission nahm Einfluss auf die ERT, die andersherum mehr bewegen konnte als nur Lobbyarbeit zu leisten. Das Fernziel einer noch weiter gehenden Industrialisierung kann durch den freien Markt erreicht werden und ist gegenwärtig noch in Gang. Die Frage sei, so Schirmann, ob dieser Prozess durch wirtschaftlichen nationalen oder durch einen europäischen Patriotismus gefährdet werden könne. Es ist jedenfalls festzustellen, dass sich aufgrund dieser Fragen das Verhältnis zwischen ERT und Kommission merklich abgekühlt hat.

 

Dem detailreichen Vortrag, der eine bislang kaum beachtete aber folgenreiche Triebkraft hinter der Einführung des Euro darstellte, folgte eine Diskussion mit den zahlreichen Zuhörern. Auf die Frage, wie weit die Wünsche und Vorstellungen der Industriellen eigentlich gingen, antwortet Schirmann, dass dies nur individuell zu beantworten sei. Viele lehnten z.B. eine politische Union ab, andere nicht. Das, was er in seinem vorherigen Vortrag schilderte, sei der kleinste gemeinsame Nenner gewesen. Auf die Frage, wer heute ähnliche Visionen verfolgt, entgegnet der Redner, dass für viele Industrielle die Visionen sich nicht mehr nur auf Europa beziehen, sondern verstärkt auch transatlantisch denken, um sich gegen China zu behaupten.

Auf die Frage, wie der ERT zur Finanzkrise steht, meint der Redner, dass der Euro für den Roundtable nicht zur Debatte steht. Es gebe keine wünschenswerte Alternative.

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