Europagespräche des Instituts für Geschichte, Stiftung Universität Hildesheim

 

27.05.2013 – Ulrich Lappenküper: Das "couple" Helmut Kohl-François Mitterrand und die europäische Einigung 1982 bis 1995

(Hamburg)



„Dritte Goldene Zeit der deutsch-französischen Beziehungen“ nach Spätaufklärung und Romantik, so rühmte Karl-Heinz Bender vor einigen Jahren die Ära François Mitterrands. Leitet sich der Trierer Romanist bei diesem Urteil vor allem von der engen Zusammenarbeit des französischen Staatspräsidenten mit Bundeskanzler Helmut Kohl in der Europapolitik? Bildet die Chiffre vom „couple“ das europapolitische Wirken der beiden Staatsmänner wirklichkeitsgetreu ab?  Oder müsste es nicht durch ein Spaniens Ministerpräsidenten Felipe González umfassendes „triple“ ersetzt werden? 
Wenn auch ihre Zielsetzungen keineswegs identisch waren und eine gewisse Rivalität stets latent blieb, verliehen Kohl und Mitterrand dem europäischen Integrationsprozess seit 1984 politische Triebkraft. Abgesehen von persönlichen Präferenzen, überpersönlichen Zwangslagen und dem beiderseitigen Wunsch, „das europäische Widerlager der Brücke Nordamerika-Europa“ stärken zu wollen (Helmut Kohl), zeichnete dafür „ein wirkungsmächtiges historisches Deutungsmuster“ verantwortlich (Andreas Wirsching), in deren Zentrum der Mythos von der Selbstrettung Europas nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs stand. 
Dank ihres Engagements bei der Überwindung der Eurosklerose, des Abschlusses der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) 1987 und der Unterzeichnung des Maastrichter Vertrages 1992 zählen beide heute zu recht zu den Vätern Europas. González gehört nur bedingt in diesen Pantheon der großen Europäer. Mit unverkennbarem Gespür für die innergemeinschaftlichen Machtverhältnisse hatte er sich 1983 dem deutsch-französischen „couple“ genähert, um mit dessen Hilfe den lahmenden Verhandlungen über die Aufnahme Spaniens in die EG zum Durchbruch zu verhelfen. Nach dem Beitritt 1986 entwickelte sich aus der bilateralen allmählich eine trilaterale Entente, wobei Madrid jedoch großen Wert darauf legte, nicht als Teil einer „Achse Bonn-Paris“ zu erscheinen.  Einen ersten Riss bekam die „permanente Verbindung“ (González) zwischen dem Bonner Kanzleramt, dem Pariser Elysée- und dem Madrider Moncloa-Palast nach der Unterzeichnung des Maastrichter Vertrags, als González begann, seine Europapolitik einer Kosten-Nutzen-Rechnung zu unterwerfen. Mitterrands Rücktritt 1995 markierte dann nicht nur das Ende der deutsch-französisch-spanischen Allianz, sondern auch eine tiefe Zäsur für das deutsch-französische „couple“. Nur mit größten Mühen gelang es Kohl, die Fortschreibung des Maastrichter Vertrags voranzubringen.

Zum Referenten: Prof. Dr. Ulrich Lappenküper, siehe
http://www.bismarck-stiftung.de/index.php/prof-dr-ulrich-lappenkueper

 

 

Die gegenseitigen Interessen Frankreichs und der Bundesrepublik Deutschland waren vielfältig, leitet Ulrich Lappenküper seinen Vortrag ein. Für Mitterrand waren vor allem Kohls Festhalten am NATO-Doppelbeschluss und eine gemeinsame Sicherheitspolitik wichtig. Kohl wiederum war erfreut, dass der Präsident ihm stolz erzählte, dass er einst Staatssekretär im Kabinett von Adenauers Partner Robert Schumans gewesen zu sein. Kohl wertete dies als „Geist von unserem Geist“. Den richtigen Kitt der Beziehungen jedoch lieferten die damaligen (1982/83) innenpolitischen Schwierigkeiten der beiden Partner. Frankreich sah sich währungspolitischer Turbulenzen ausgesetzt, und die Bundesrepublik war in der Debatte um die Nachrüstung gespalten. Nachdem sich Mitterrand und Kohl gegenseitig mehrmals gegenseitig gestützt hatten, beschloss Mitterrand, sich fortan aktiv an der Bekämpfung der ‚Eurosklerose’ zu beteiligen und die notwendige Therapie mit dem deutschen Partner abzustimmen. Sowohl Mitterrand als auch Kohl ließen sich dabei weniger von persönlichen Empfindungen, denn von realpolitischen Erwägungen leiten. Kohl hielt die Europapolitik für das Herz der bundesdeutschen Politik. Doch 1983 waren seine Erfolge auf diesem Gebiet bescheiden. 1984 kamen Kohl und Mitterrand überein, die alte Sechsergemeinschaft als „neues Kraftfeld“ wiederzubeleben, um so neue Impulse für Europa zu erhalten. Von den neueren Mitgliedstaaten erhofften sie sich in dieser Beziehung keine Hilfen. Kohl wartete sogar mit der Idee eines deutsch-französischen Zweibundes auf, wie Adenauer und de Gaulle es einst angedacht hatten.

Vor diesem Hintergrund, so Lappenküper, gelang ein wichtiger Fortschritt: 1984 wurde der Haushaltsstreit beigelegt, wurde der baldige Beitritt Spaniens und Portugals festgelegt und die Einrichtung eines Ad-hoc-Ausschusses zur Stuttgarter Deklaration beschlossen.

Zur Bekräftigung des neuen „couple franco-allemand“ reichten sich Kohl und Mitterrand am Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs über den Gräbern von Verdun demonstrativ die Hand.

Doch es gab auch Dissens. Die Bundesbürger teilten nicht die einmütige französische Zustimmung zur Nutzung der Atomkraft, die Franzosen nicht den in der Bundesrepublik weit verbreiteten Pazifismus. In der Sicherheitspolitik, genauer gesagt in der Atomfrage, wichen die Meinungen daher auch in der Politik voneinander ab. Mitterrand sperrte sich energisch gegen ein deutsches Mitspracherecht hinsichtlich der force de frappe. Kohl hingegen verlangte, sämtliche Technologien in das Gemeinschaftsprogramm einzubinden. Zudem machte sich Mitterrand Sorgen über die deutsch-deutsche Annäherung. Er fürchtete einen neutralen deutschen Einheitsstaat, noch bevor von einer Wiedervereinigung die Rede war.

Kohl regte eine forcierte Einigung der EU an, die in einigen Bereichen auch durchgesetzt wurde. 1986 rang sich Mitterrand zur Zusage durch, französische Waffeneinsätze auf deutschem Boden mit der Bundesrepublik im Zweifelsfall abstimmen zu wollen. Kohl sprach sich schließlich für die Aufstellung gemeinschaftlicher deutsch-französischer Divisionen aus. Die Franzosen argwöhnten, dass die deutsche Seite eine Art Kontrollrecht zu installieren beabsichtigte. Statt dies nun in Bausch und Bogen abzulehnen, schlug die französische Seite einen gemeinschaftlichen Wirtschaftsrat vor, um so Einfluss auf die D-Mark nehmen zu können, die Mitterrand als die deutsche „Atomwaffe“ ansah.

Anfang 1988 gossen Frankreich und die Bundesrepublik ihre Pläne durch eine Wirtschafts-, Währungs- und Finanzrates sowie eine deutsch-französischen Brigade in eine vertragliche Form.

Kohl willigte in einem weiteren Schritt darin ein, Wege zu einer gemeinschaftlichen Währung auf EU-Ebene prüfen zu lassen. Doch wenn er Mitterrand damit dazu bewegen hoffte, ihm in der Nuklearfrage entgegenzukommen, sollte er sich getäuscht haben. Gleichwohl erkannte Mitterrand an, dass Kohl an seinem Europakurs unbeirrt festhielt.

Ein rapider Vertrauensverlust gegenüber Kohl im Zuge der sich anbahnenden Wiedervereinigung (die Kohl bis dahin nie so nannte), veranlasste Mitterrand, dieselbe nach Möglichkeit zu verzögern, obwohl er nach außen hin stets versicherte, dass er das Selbstbestimmungsrecht der Völker achte und es daher vor allem Sache der Deutschen wäre, wie sie ihre Zukunft gestalten wollten. Versuche Kohls, in Vieraugengesprächen Vertrauen zurückzugewinnen, waren nur begrenzt von Erfolg gekrönt. Erst als Mitterrand einsah, dass Gorbatschow sich der Wiedervereinigung nicht widersetzen würde und dass die DDR-Bevölkerung sie unbedingt wünschte, lenkte er ein.

Das Kräfteverhältnis zwischen Deutschland und Frankreich änderte sich nun. Dass Kohl auf die Aufstockung der Abgeordnetenzahlen des wiedervereinigten Deutschlands verzichtete  und die D-Mark preisgab wertete Mitterrand als einzigartigen Beweis europäischer Gesinnung – noch dazu, weil Kohl zugab, gegen deutsche Interessen gehandelt zu haben.

Der erfolgreiche Abschluss des Vertrags von Maastricht war nicht nur, aber vor allem das Verdienst Mitterrands und Kohls. Danach allerdings schien das „couple“ aus dem Tritt zu geraten. Mitterrand war z.B. skeptisch gegenüber einer EU-Norderweiterung, Kohl hingegen legte im Gegensatz zur französischen Seite größten Wert darauf, die gemeinsame Sicherheitspolitik in die NATO einzubinden.

Die Wahlen zur französischen Nationalversammlung 1993 versetzten dem „couple“ einen schweren Schlag. In den Augen Kohls drohte nun ein Schwenk hin zu einer ‚englischen’ Version Europas. 1994 demonstrierten Mitterrand und Kohl gleichwohl nochmals Eintracht Seite an. Seite nahmen sie am 14. Juli, dem französischen Nationalfeiertag, die Parade ab. Nachdem Mitterrand sechs Monate später sein Placet zur EU-Osterweiterung gegeben hatte, gab es im Grunde nur noch einen größeren Dissens zwischen Frankreich und Deutschland: die Nuklearfrage. Bis zu seinem Rücktritt im Mai 1995 sollte sich Mitterrand in dieser Hinsicht nicht mehr bewegen. Dennoch kann sich, so Lappenküper, die Bilanz des „couple“ Mitterrand-Kohl sehen lassen. Trotz einiger Meinungsverschiedenheiten verband beide ein europapolitischer Grundkonsens. Beide sahen die erfolgreiche Einbindung Deutschlands als Frage über Krieg und Frieden in Europa.

 

 

Dem kompakten und nuancierten Vortrag schloss sich eine rege Diskussion mit dem Publikum an. Auf die Frage, wie er die deutsch-französischen Beziehungen 2013 einschätzen würde, antwortet der Vortragende, dass sie trotz starker gemeinsamer Interessen stets auch großen Herausforderungen ausgesetzt seien. Wichtig sei, dass die Politiker sich ihrer Verantwortung und der historischen Tatsache bewusst seien, dass sich in Europa nichts bewege, wenn Deutschland und Frankreich nicht an einem Strang zögen.

Kohl, erläutert Lappenküper, verstand es, Vertrauen bei Mitterrand zu gewinnen, indem er 1982/83 die französische Währung mit massiven Summen gestützt und den NATO-Doppelbeschluss auch gegen starken innenpolitischen Widerstand durchgesetzt habe. Mitterrand kam so zu der Meinung, dass man sich auf Kohl verlassen könne, wenn es darauf ankomme.

Sein Verhältnis zu Deutschland sei gleichwohl von Ambivalenzen, auch Widersprüchen markiert, obwohl Mitterrand sich nach außen immer als Freund Deutschlands dargestellt habe. Mitterrand war 1940 in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten, 1941 geflohen, hatte sich dann – entgegen seiner Darstellung – zunächst dem Vichy-Regime angeschlossen und erst 1943 der Résistance. Er galt als unnahbar und undurchsichtig, sprach kein Deutsch und hatte in den ersten Nachkriegsjahrzehnten nur wenige Kontakte nach Deutschland. Wie Kohl sah er den Nachbarn wohl in erster Linie als Schachfigur der Macht.

 

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