Europas Volksparteien: Erfahrungen mit Möglichkeiten und Grenzen transnationaler Parteienkooperation

Europas Volksparteien: Erfahrungen mit Möglichkeiten und Grenzen transnationaler Parteienkooperation

Ich möchte mich zunächst einmal herzlich bei Herrn Professor Dr. Michael Gehler für die Einladung nach Hildesheim bedanken, die es mir erlaubt, über einen Aspekt der europäischen Einigung zu sprechen, dessen Relevanz für das Integrationsgeschehen erst allmählich ins Bewusstsein der Öffentlichkeit dringt. Die wissenschaftliche Bemühung um das Phänomen der transnationalen Parteienkooperation auf europäischer Ebene und die Bildung europäischer Parteien sowie ihre Aktivität und Rolle im politischen System der Europäischen Union hat zwar im Laufe der letzten Jahre zugenommen, ist aber im Vergleich mit der Bemühung um das Verständnis von Funktion und Arbeitsweise der Institutionen immer noch stark unterbelichtet.

 

Meine Berechtigung , zu Ihnen über dieses Thema zu sprechen, ergibt sich aus dem Umstand, dass ich von 1983 bis 1994 als Generalsekretär der Europäischen Volkspartei (EVP) und gleichzeitig als Generalsekretär der Europäischen Union Christlicher Demokraten (EUCD) einen Teil der Entwicklung, um die es uns heute Abend geht, miterleben und nach Maßgabe der Möglichkeiten meiner damaligen Mandate mitgestalten durfte. Ich bringe also eine praktische Erfahrung mit, die ich in den Jahren seit meinem Abschied aus dieser faszinierenden Tätigkeit durch Studium und Reflexion zu vertiefen versucht habe. Daraus sind einige Aufsätze zur Entwicklung des transnationalen Parteiensystems in der europäischen Union sowie vor allem auch ein Buch über Entstehung und Entwicklung der Europäischen Volkspartei entstanden.

 

Nun aber zur Sache. Zunächst einige Hinweisen auf den Begriff „Europas Volksparteien“, unter dem wir zweierlei, vielleicht auch dreierlei verstehen können:

 

Erstens die nationalen Parteien, die sich ihrem Selbstverständnis gemäß, Volksparteien nennen – wie zum Beispiel die Österreichische Volkspartei oder die luxemburgische Christlich-Soziale Volkspartei, aber ebenso die Christlich-Demokratische Union Deutschlands oder der spanische Partito Popular. Es sind die Parteien, die sich in der Europäischen Volkspartei zusammen gefunden haben, also im Wesentlichen die Parteien christlich-demokratischer Tradition und Orientierung sowie die Parteien mit einem bürgerlich-konservativen Profil, deren Gemeinsamkeit vor allem darin besteht, dass sie auf der Grundlage eines überkommenen Wertekonsenses prinzipiell alle Klassen und Schichten der Bevölkerung ansprechen.

 

Zweitens sind Volksparteien im allgemeinen Sprachgebrauch auch diejenigen Parteien, die  - unabhängig von ihrer ideologischen Orientierung - in Wahlen einen großen Teil der Bevölkerung erreichen und die potentiell Mehrheiten repräsentieren. Neben einer großen Zahl von Mitgliedsparteien der EVP sind das insbesondere auch viele der in der Sozialistischen Partei Europas (SPE) zusammengeschlossenen Parteien.  

 

Drittens könnten wir deshalb auch unter dem Begriff „Europas Volksparteien“ die beiden großen transnationalen Parteienbünde, die EVP und die SPE, verstehen, die sich von ihren Konkurrenten liberaler, grüner, nationalistischer, ethnischer, regionalistischer oder euroskeptischer Tendenz auch dadurch unterscheiden, dass sie in fast allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union und darüber hinaus durch Mitgliedsparteien mit Volksparteicharakter vertreten sind.

 

Die transnationale Parteien-Kooperation, von der wir sprechen wollen, spielt sich heute im Wesentlichen im Rahmen der Zusammenschlüsse der Parteien ab, die den verschiedenen Parteifamilien angehören. Neben der EVP und der SPE sind das vor allem die Europäische Liberale und Demokratische Reformpartei (ELDR), die Europäischen Grünen und die Europäische Freie Allianz/ Demokratische Partei der Völker Europas sowie neuerdings auch einige andere, kleinere Parteien, auf die ich später kurz zu sprechen komme.

 

Wir können uns, da wir die Volksparteien im Blick haben, auf die EVP und SPE konzentrieren. Beide kennen bei ihren jeweiligen Kooperationsbemühungen weitgehend identische Probleme, haben gleiche Möglichkeiten und stoßen an dieselben Grenzen. Wenn ich mich also im Folgenden vornehmlich auf meine Erfahrungen und Kenntnisse aus der Arbeit in der EVP stütze, gelten meine Aussagen auch – cum grano salis – für die SPE. Die kleineren Gruppierungen haben oft andere, spezifische Probleme, die uns hier nicht interessieren müssen, wenn auch für sie im Allgemeinen zutrifft, was über die beiden führenden Europäischen Parteien gesagt werden kann. 

 

Ich gehe von der These aus, dass sich die Möglichkeiten und die Grenzen transnationaler  Kooperation im Rahmen der Europäischen Parteien oder Parteienbünde nach Maßgabe der Entwicklung des politisch-institutionellen Systems der Europäischen Union bestimmen. Will heißen: die Parteien  folgen in ihren eigenen Kooperations- und Kommunikationsstrukturen der organisatorischen Entwicklung des Systems, in dem sie ihre spezifische Rolle spielen. Das heißt auch, dass sie diese Entwicklung nicht antizipieren.   

 

Das war für mich zunächst einmal eine persönliche Erfahrung. Denn als ich im April 1983 zum ersten Mal in das Amt des Generalsekretärs der EVP gewählt wurde, ging ich davon aus, dass es möglich sein würde, diese EVP in relativ kurzer Zeit, mittels entsprechender Initiativen, zu einer Europäischen Partei zu machen, die diesen Namen verdienen würde. Ihre Mitgliedsparteien hatten sich in den verschiedenen Ländern der Gemeinschaft als "Europa-Parteien" ausgezeichnet, und die EVP selbst forderte in ihren Stellungnahmen von den Regierungen, entschlossen auf dem Weg zum europäischen Bundesstaat voranzuschreiten; in den Programmen der EVP und ihrer nationalen wie der regionalen Gliederungen waren die auf dem Weg zur Supranationalität zu ergreifenden Maßnahmen beschrieben; und da die Regierungen offenkundig nicht in der Lage waren, ihre Staaten nach der von den Christlichen Demokraten propagierten föderalen Methode zu einigen, sollte wenigstens die EVP selbst einstweilen, durch eine Antizipation der erstrebten Situation, ihre Mitgliedsparteien nach föderalem Muster zusammenbinden, um auf diese Weise eine Aktionseinheit herzustellen; dadurch wäre, so dachte ich, die EVP umso besser in der Lage, ihren Beitrag zu ihrem großen Ziel zu leisten. Ich musste aber im Laufe der Zeit erkennen, dass diese Vorstellung illusorisch war.    

 

Die These, die ich im Zuge meiner Desillusionierung daraus abgeleitet habe, lässt sich aber auch historisch belegen, indem man sich die verschiedenen Etappen der Integration in Bezug auf die Entwicklung der Parteien-Kooperation seit dem Weltkrieg vergegenwärtigt.

 

Erste Ansätze zu einer mehr oder weniger nachhaltigen Kooperation zwischen den christlich-demokratischen Volksparteien Europas boten die im Rahmen der 1947 - als Teil der sich damals formierenden Europäischen Bewegung - gegründeten „Nouvelles Equipes Internationales“ (etwa: Neue Internationale Mannschaften).

 

Als Ziel der Vereinigung mit dem nichts sagenden und deshalb bezeichnenden Namen wurde in der Satzung festgehalten:„regelmäßigen Kontakt zwischen Gruppen und Persönlichkeiten aus verschiedenen Nationen herzustellen, die sich von den Prinzipien der Christlichen Demokratie leiten lassen; im Lichte dieser Prinzipien werden sie sowohl die jeweilige nationale Situation als auch die internationalen Probleme prüfen, Erfahrungen und Programme einander gegenüber stellen und nach internationaler Übereinstimmung bei der Verwirklichung der Demokratie und des sozialen und politischen Friedens streben.“

 

Ein Führungsorgan, das "Comité directeur", trat dreimal pro Jahr zusammen; ihm gehörte von jeder nationalen Equipe ein Vertreter an; die Beschlussfassung bedurfte einer Zweidrittel-Mehrheit der Anwesenden, jedoch wurde durchweg nach dem Konsensprinzip verfahren. Jährlich wählte dieses Leitungskomitee einen Vorstand, der aus dem Präsidenten, vier Vizepräsidenten und dem Generalsekretär bestand. Das Sekretariat befand sich zunächst in Brüssel, seit 1950 in Paris. Daneben waren zeitweilig tätig eine Kulturkommission,  eine Wirtschafts- und Sozialkommission sowie eine Ost/West-Kommission. Arbeitsgruppen befassten sich mit parlamentarischen Angelegenheiten, Propaganda, Problemen internationaler Politik, Programmfragen. Das alles war ganz unverbindlich. Jedoch konnten in einer Konstellation, in der es noch an jeder Form zwischenstaatlicher Strukturen mangelte, auch die Parteien nur in sehr lockeren, zu nichts verpflichtenden Foren zusammen arbeiten.

 

Neu - im Vergleich zu dem katholischen Netzwerk, das vom Internationalen  Sekretariat Demokratischer Parteien Christlicher Inspiration in der Zeit zwischen den Kriegen organisiert worden war, war an den Nouvelles Equipes Internationales der ökumenische Ansatz, der die Versöhnung und den Wiederaufbau aus den Trümmern der Nationalstaaten ermöglichte; neu war vor allem auch die Zukunftsperspektive, die zur Einigung und Integration Europas, also auf die Überwindung des alten Staatensystems abzielte; und schließlich handelte es sich bei den christlich-demokratischen Parteien der Nachkriegszeit - und hier lag der entscheidende Unterschied zur Situation der Vorläufer aus den zwanziger Jahren - um wirkliche Volksparteien, die aus den Wahlen als die führenden Kräfte ihrer Länder hervorgegangen waren und Verantwortung in den Regierungen übernommen hatten.

  

Die NEI bestanden bis 1965. Im Zuge der seit 1949 mit dem Europarat und seit 1952 mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) betriebenen Harmonisierungs- und Integrationspolitik verdichteten sich die Kontakte und die Zusammenarbeit, jedoch wurde gegen Ende der Fünfzigerjahre deutlich, dass die Schwäche ihrer Konstruktion den neuen Bedürfnissen nicht mehr gewachsen war. Mehr und mehr übernahm die christlich-demokratische Fraktion der EGKS-Versammlung beziehungsweise, seit 1958, des Europäischen Parlaments, die Rolle der treibenden Kraft zugunsten einer immer engeren Zusammenarbeit, die nunmehr auch in Entsprechung der europapolitischen Agenda immer konkreter wurde und sich gleichzeitig, unter Vernachlässigung der Parteien aus den anderen Länder, auf den Raum der Gemeinschaft konzentrierte.

 

Inzwischen war die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG, seit 1958) erfolgreich unterwegs. Das institutionelle System entfaltete sich. Die Mitgliedstaaten bemühten sich, zunächst erfolglos, um den Fortschritt von der Wirtschaftsgemeinschaft zur Politischen Union. Neue Mitgliedschaften über den Kreis der sechs Gründerstaaten hinaus kündigten sich mit dem vorerst scheiternden Aufnahmegesuch Großbritanniens an.

 

Die Notwendigkeit, mit der Entwicklung der zwischenstaatlichen Beziehungen  Schritt zu halten, um im Rahmen der wachsenden europäischen Strukturen eine Rolle spielen zu können, wurde 1965 als Nachfolge-Organisation der NEI die Europäische Union Christlicher Demokraten (EUCD) gegründet. Sie war, wie auch die NEI, paneuropäisch gedacht, beschränkte sich also nicht auf Mitgliedsparteien aus den Gemeinschaftsländern. Ihre  Satzung nannte als Aufgaben: die Vertiefung der christlich-demokratischen Leitmaximen und die Förderung politischer Studien; die Pflege des Gedankenguts des christlichen Humanismus, der Demokratie und der sozialen Gerechtigkeit; die Bekanntmachung der Ideen und der Leistungen der christlich-demokratischen Politik. Ziel der Bemühungen der EUCD sollte es sein, "eine ständige und enge Zusammenarbeit zwischen den europäischen christlich-demokratischen Parteien zu entwickeln, die zu einer gemeinsamen Politik für die Schaffung eines föderierten Europas führt".

 

Der Kongress, der die Grundlinien der Politik bestimmte, sollte alle drei Jahre zusammentreten. Zwischen 1965 und 1978 fanden vier Kongresse der EUCD statt, zweimal in Italien und zweimal in Deutschland. Das deutet an, welches Gewicht inzwischen, neben der Democrazia Cristiana, die deutschen Unionsparteien, insbesondere die CDU in der internationalen und europäischen Zusammenarbeit der Christlichen Demokraten gewonnen hatten. Auch in der Besetzung der Führungsämter kam die dominierende Rolle der Italiener und Deutschen zum Ausdruck.

 

Im Rahmen der vom Kongress vorgegebenen Orientierungen diskutierte und entschied das Politische Büro, das mindestens zweimal pro Jahr, in der Regel jedoch drei- bis viermal tagte, alle praktischen und politischen Fragen; ihm oblag auch die Wahl des Präsidenten, der Vizepräsidenten und des Generalsekretärs. Dem Politischen Büro gehörten an: der Präsident und die vier Vizepräsidenten, der Generalsekretär, der Präsident der Europäischen Union Junger Christlicher Demokraten (EUJCD), die Präsidenten und je zwei weitere Vertreter der christlich-demokratischen Fraktionen des Europäischen Parlaments und des Europarats, die früheren EUCD-Präsidenten, die den Mitgliedsparteien angehörenden Präsidenten der europäischen Organe sowie fünf Delegierte je Mitgliedspartei oder (im Falle des Vorhandenseins mehrerer Mitgliedsparteien in einem Land) je Equipe, unabhängig von der Stärke oder der politischen Bedeutung der betreffenden Gruppierungen.

 

Die Fusion der Institutionen der drei Europäischen Gemeinschaften (EGKS, EWG und EAG) im Jahre 1967, die Vollendung der Zollunion (1968), der Beitritt Großbritanniens, Irlands und Dänemarks (1973), die Einführung des Europäischen Rates der Staats- und Regierungschefs (1974) und insbesondere der gleichzeitige Beschluss, in absehbarer Zeit, nämlich 1978  das Europäische Parlament direkt von der Bevölkerung wählen zu lassen, sowie andere wichtige politische und institutionelle Fortschritte führten schließlich zur Gründung von Föderationen, die der Zusammenarbeit  der Parteien aus den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft noch rechtzeitig vor der ersten Europa-Wahl (1979) ein festes Gerüst geben sollte: 1974 entstand  der Bund der Sozialdemokratischen Parteien und 1976 wurden sowohl die Europäische Volkspartei als Föderation der christlich-demokratischen Parteien sowie die Föderation der Liberalen und Demokratischen Parteien gegründet.

 

Das hatte erhebliche Konsequenzen. Die Parteienkooperation wurde systematischer, regelmäßiger und verbindlicher. Sie orientierte sich inhaltlich  mehr und mehr an der Tagesordnung der Gemeinschaftspolitik und folgte dem von den Institutionen (Parlament, Rat und Kommission) vorgegebenen Rhythmus der Integration. Allerdings vergaßen die Europäischen Parteien dabei nicht ihre Ambitionen, die Zukunft der Gemeinschaft programmatisch voraus zu denken. 

 

Die EUCD bestand fort, verlor aber gegenüber der EVP erheblich an Bedeutung. Einige der Mitgliedsparteien der EUCD aus den Ländern, die nicht (oder noch nicht) der Europäischen Gemeinschaft angehörten, fühlten sich durch diese Entwicklung von der politischen Mitwirkung weitgehend ausgeschlossen. Das führte, auf Initiative der ÖVP  zur Gründung der Europäischen Demokratischen Union (EDU) als eines Zusammenschlusses gleich gesinnter Parteien des Mitte/Rechts-Spektrums.

 

Bis zu ihrer Auflösung, die im Jahre 2000 nach der Integration der meisten ihrer Mitgliedsparteien in die EVP erfolgte, diente die EDU vor allem als Plattform für die Zusammenarbeit und Verständigung mit den konservativen Parteien. Im Jahr zuvor war schon die EUCD mit der EVP fusioniert worden.

 

Eine weitere entscheidende Zäsur auf dem Wege zur politischen Integration der Europäischen Gemeinschaft und damit auch zur demokratischen Ausgestaltung ihres politischen Systems stellte der Maastrichter Vertrag (1992) dar, der den Europäischen Parteien (oder Parteien auf europäischer Ebene) einen eigenen Artikel widmete, der ihre Existenz und Rolle anerkennt, wodurch sie auch in formaler Hinsicht Faktoren dieses politischen Systems wurden. Damit wurde der Erkenntnis, dass für den Fortgang der Einigung Europas und für ein funktionierendes transnationales politisches Gemeinwesen die Entwicklung von europäischen Parteienstrukturen von Bedeutung ist, ein verfassungsrechtlicher Ausdruck gegeben.

 

In diesem Parteien-Artikel heißt es: »Politische Parteien auf europäischer Ebene sind wichtig als Faktoren der Integration in der Union. Sie tragen dazu bei, ein europäisches Bewusstsein herauszubilden und den politischen Willen der Bürger der Union zum Ausdruck zu bringen«.

             

Das hatte zur folge, dass die bestehen Parteien-Föderationen sich als Europäische Parteien neu definierten und ihre Satzungen sowie die daraus sich ergebende Erweiterung, Verdichtung und Verbindlichkeit ihrer Kommunikations- und Integrationsarbeit weiter entwickelten: der Bund der Sozialdemokratischen Parteien in der Europäischen Gemeinschaft konstituierte sich im Herbst 1992 auf der Grundlage eines neuen Statuts als Sozialdemokratische Partei Europas; die Europäische Volkspartei, die ihren Anspruch, eine Europäische Partei werden zu wollen, schon 1976 bei ihrer Gründung durch die Wahl ihres Namens angemeldet hatte, hat sich im November 1990 eine neue Satzung gegeben, die diesen Anspruch deutlich unterstreicht; die Föderation der Europäischen Liberalen und Demokraten wurde im Dezember 1993 zur Europäischen Liberalen und Demokratischen Reform-Partei (ELDR).

 

Und es entstanden neue transnationale Parteien: die Europäische Föderation Grüner Parteien formierte sich im Sommer 1993 als paneuropäischer Verband, in dessen Rahmen auch ein Zusammenschluss auf Unionsebene möglich sein sollte; die Europäische Freie Allianz/Demokratische Partei der Völker Europas, die in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre als Bündnis der Parteien mit ethnischer oder regionalistischer Motivation entstand.

 

Gleichzeitig entwickelten sich neue Zugehörigkeiten: die konservativen Parteien Spaniens und der skandinavischen Länder fühlten sich mehr und mehr von der christlich-demokratisch inspirierten EVP angezogen und schlossen sich dieser an, gefolgt von der ehemals liberalen Partei Portugals, die sich allerdings Sozialdemokratische Partei nennt, und von den französischen Liberalen und Gaullisten; die italienischen Eurokommunisten fanden ihren Weg zur sozialdemokratisch oder sozialistisch orientierten SPE; Reformer und Radikale suchten Anschluss bei der liberal-demokratischen ELDR.

 

Die Europäischen Parteien erhielten, um die Mitte der Neunzigerjahre, im Zuge des Beitritts Österreichs, Finnlands und Schwedens zur EU auch Zuzug durch die gleich gesinnten Parteien dieser Länder; ein entsprechender Vorgang wiederholte sich zehn Jahre später nach der Erweiterung der EU durch die Staaten Mittelosteuropas.

 

Aber was sind eigentlich diese »Politischen Parteien auf europäischer Ebene« oder, wie wir sie allgemein nennen, »Europäische Parteien«? Eine Definition muss sich auf die Beobachtung der politischen Subjekte stützen, die im Laufe der Neunzigerjahre unter diesem Etikett in Erscheinung getreten sind, deren Entstehung aber, wie wir gesehen haben,  bis in die Siebzigerjahre und darüber hinaus zurückreicht?

 

Es handelt sich um föderative Vereinigungen von nationalen oder regionalen Parteien aus mehreren Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die in ihren Orientierungen und Zielsetzungen übereinstimmen und sich zu einer ständigen Zusammenarbeit auf der Grundlage einer vereinbarten Satzung sowie eines von den zuständigen Organen verabschiedeten Programms zur Verwirklichung einer gemeinsamen Politik verpflichten; ihr Aktionsfeld ist das politische System der Union; im Europäischen Parlament schließen sich ihre Abgeordneten in gemeinsamen Fraktionen zusammen.

             

Als Europäische Parteien lassen sich, im Sinne dieser Definition, neben den auf Unionsebene organisierten Verbände der klassischen politischen Familien der Sozialdemokraten, der Christlichen Demokraten und der Liberaldemokraten auch die Europäischen Grünen qualifizieren. Sie sind transnational sowohl nach ihrer Struktur und Wirkungsweise wie nach ihrem Anspruch und Aktionsbereich; ihr Selbstverständnis, aber auch ihr Handeln weist sie als wichtige Akteure im politischen System der Union aus, für dessen Gestaltung und Entwicklung sie Verantwortung übernehmen. Andere politische Kräfte, die im Europäischen Parlament vertreten sind, waren zunächst nicht in der Lage, sich entsprechend zu organisieren, da sie entweder auf ihre nationale Situation fixiert waren, oder es aus ideologisch-politischen Gründen ablehnten, sich übernational einbinden zu lassen.

 

Um dem Parteien-Artikel des Maastrichter Vertrages Leben einzuhauchen und um den Erwartungen, die er geweckt hatte, gerecht zu werden, sind in den folgenden Jahren auf verschiedenen Ebenen vielfältige Bemühungen unternommen worden. Im Europäischen Parlament hat es Beratungen und Berichte gegeben, die sich mit der Frage eines europäischen Parteien-Statuts sowie insbesondere auch mit der Frage der Finanzierung  der Europäischen Parteien befassten. Die Europäische Kommission hat Vorschläge dazu ausgearbeitet und der Europäische Rat hat sich damit befasst. Natürlich blieben auch die Verantwortlichen der Europäischen Parteien selbst am Ball, um ein für ihre Bedürfnisse zufrieden stellendes Ergebnis zu erreichen.

 

Die Fortschritte, die sich daraus im Hinblick auf die rechtlichen Grundlagen und die Stellung der Europäischen Parteien im Laufe der folgenden Jahre ergaben, müssen im Zusammenhang mit den allgemeinen, neuen Bestimmungen der Verträge von Maastricht (1992), Amsterdam (1996) und Nizza (2000) gesehen werden, die für die demokratische Entwicklung des europäischen Einigungsprozesses relevant sind. Zum Beispiel wurde durch die Verpflichtung der Union auf die Demokratie, die Menschen- und Freiheitsrechte und die Respektierung rechtsstaatlicher Prinzipien der Weg von der Staaten-Union zur Bürger-Union ein gutes Stück weitergegangen. Auch die Bestimmungen über die Freizügigkeit, das Asylrecht und die Immigration gehen in diese Richtung; in Verbindung mit dem Konzept der Schaffung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts im Rahmen der Union bildeten sie weitere wichtige Elemente der Verwirklichung einer Unionsbürgerschaft, die ihrerseits als neues Institut in die Verträge aufgenommen wurde.

 

Entsprechendes kann man auch von den Bestimmungen sagen, die auf mehr parlamentarische Mitsprache abzielen, sowie von der Vereinfachung der Entscheidungsverfahren, die mehr Transparenz versprechen, und schließlich auch von der Präzisierung der Regeln für die Zuweisung der Aufgaben und der Verantwortung an die verschiedenen Ebenen innerhalb der Union, die die Berücksichtigung des Prinzips der Subsidiarität garantieren. Alle diese Elemente sind später vom Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents (2002 – 2004) aufgenommen, systematisiert und konsolidiert worden; sie finden sich heute wieder in dem am 1. Dezember vorigen Jahres in Kraft getretenen Lissabon-Vertrag.                

 

Es verstand sich fast von selbst, dass in den zurückliegenden Jahren, in denen die Diskussion über die zukünftige Verfassung der Europäischen Union die politische Debatte bestimmte, auch die Frage nach der Rolle und dem Status der Europäischen Parteien noch einmal an Lebendigkeit und Tiefe gewann. Eine erste Antwort gab die Verabschiedung einer „Verordnung über die Regelung für die politischen Parteien auf europäischer Ebene“, das so genannte Parteienstatut, das im Februar 2004 in Kraft trat, und das unter anderem auch die Voraussetzungen für die Anerkennung als Europäische Partei festlegte. Danach muss eine Europäische Partei in mindestens einem Viertel der Mitgliedstaaten über gewählte Abgeordnete im Europäischen Parlament oder in den nationalen Parlamenten verfügen sowie an der Europawahl teilgenommen oder die Absicht haben, daran teilzunehmen. Es wurde 2007 durch weitere Verordnungen geändert und ergänzt, insbesondere durch eingehende Bestimmungen über die Finanzierung der Parteien und über die finanzielle Förderung von politischen Stiftungen auf europäischer Ebene enthalten.

 

Die Verabschiedung des Parteienstatuts mit ihrer niedrigen Hürde für die Anerkennung als Europäische Partei hatte, in Verbindung mit der Aussicht auf eine Finanzierung aus dem Haushalt der Gemeinschaft zur unmittelbaren Folge die Gründung einiger neuer transnationaler Parteien, die im Europäischen Parlament durchweg mit relativ kleinen Gruppen von Abgeordneten vertreten sind und auch in nur wenigen Mitgliedstaaten über Mitgliedsparteien verfügen: es handelt sich um die Demokratische Partei, die Allianz für ein Europa der Nationen, die Partei der Europäischen Linken, die EU-Demokraten und die Allianz der Unabhängigen Demokraten in Europa.

             

Wie wir also festgestellt haben, folgen die politischen Parteien beim Aufbau ihrer Strukturen der Zusammenarbeit auf europäischer Ebene, und beim Einsatz ihrer Mittel der Verfassungsentwicklung. Damit halten sich ihre Bemühungen beim Aufbau der eigenen gemeinschaftlichen, transnationalen Strukturen und bei der Herausbildung der eigenen Aktionsfähigkeit auf europäischer Ebene im Rahmen dessen, was ihnen der Fortschritt des Einigungsprozesses und seine Institutionalisierung nach und nach ermöglicht oder abverlangt.

 

Dennoch wird man im Rückblick auf den Prozess der Europäisierung, dem die politischen Parteien aus den Mitgliedstaaten der Europäischen Union während der letzten Jahrzehnte unterworfen waren, sagen können, dass über den Rhythmus und das Ergebnis ihrer eigenen Entwicklung auch die einzelnen Parteien oder Parteiformationen selbst mitentscheiden: nämlich einerseits durch das Maß an Einverständnis oder Ablehnung mit dem stattfindenden Prozess, woraus sich das Maß ihrer Fähigkeit ergibt, mitgestaltend in diesen Prozess einzugreifen; zweitens durch die Rolle ihrer Fraktionen im Europäischen Parlament, in der sich der gemeinsame politische Wille stärker oder auch schwächer artikulieren kann; und nicht zuletzt durch ihre Programmatik und die damit verbundene Fähigkeit zur Stiftung eines übernationalen Konsenses unter Einbeziehung der nationalen gesellschaftlichen Kräfte.

 

Die allmähliche Herausbildung einer europapolitischen Kultur, zu dem auch besondere die Volksparteien Europas durch ihre Kooperations- und Integrationsbemühungen beigetragen haben, und eines entsprechenden Bewusstseins hat sich zugunsten einer Europäisierung des Parteiensystems ausgewirkt. Die in den Europäischen Parteien institutionalisierte transnationale Zusammenarbeit hat auch die Einstellung und das Verhalten der Führungsgruppen der nationalen Parteien beeinflusst. Nach und nach ist ihnen auch die Vorstellung zur Selbstverständlichkeit geworden, dass die politischen Parteien der Mitgliedstaaten auf der Ebene der Union präsent sein müssen, um hier ihre Interessen zu wahren, Einfluss zu nehmen und mitgestaltend tätig werden zu können.

 

Dies geschieht, wie wir festgestellt haben, durch den Zusammenschluss von ehemals ausschließlich im nationalen Rahmen organisierten Parteien und ihrem Tätigwerden als Europäische Parteien. Sie geben sich dabei eine Organstruktur, die nach dem Vorbild der meisten ihrer Mitgliedsparteien funktioniert: Ein Delegiertenkongress entscheidet über das politische Programm, ein Vorstand befasst sich mit aktuellen Fragen und den laufenden Geschäften, ein Vorsitzender (gestützt auf ein Präsidium) spricht für die Partei und stellt sie nach außen dar, ein Generalsekretär (gestützt auf eine Geschäftsstelle) ist verantwortlich für die interne Kommunikation und sichert die technisch-organisatorischen Voraussetzungen für die Arbeit der Gremien sowie die Umsetzung ihrer Ergebnisse.

 

In Anlehnung an ähnliche Strukturen in einigen Mitgliedsparteien sind die Europäischen Parteien dazu übergegangen, transnationale Kooperationsverbände für bestimmte Kategorien von Mitgliedern zu gründen. So sind unter anderem europäische Vereinigungen von sozialdemokratischen beziehungsweise christlich-demokratischen Jugendlichen, Frauen und Arbeitnehmern entstanden. Sie sollen die Europäischen Parteien auf eine breitere gesellschaftliche Grundlage stellen und in der jeweiligen Mitgliedschaft verankern, indem sie zugleich dazu beitragen, die vereinbarte Programmatik in die verschiedenen Milieus der nationalen Parteien zu vermitteln. Im Rahmen der EVP gibt es neben den bereits genannten zum Beispiel auch Vereinigungen von Studenten, von kleinen und mittleren Unternehmern und von Kommunalpolitikern.

             

Die großen transnationalen Europäischen Parteien verfügen nicht nur im Europäischen Parlament über Fraktionen. Sowohl im Ausschuss der Regionen wie in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates bestehen Fraktionen, die sich darum bemühen, im Rahmen ihrer Versammlungen die Anliegen der jeweiligen Parteien zur Geltung zu bringen.

             

Darüber hinaus führen die beiden führenden Europäischen Parteien regelmäßig die Parteiführer der Mitgliedsparteien und die ihnen angehörenden Regierungschefs oder Außenminister zusammen, um ihnen zur Beratung der Tagesordnung des Europäischen Rates und sonstiger Fragen Gelegenheit zu geben, die eine Diskussion und Beschlussfassung auf höchster Ebene erforderlich machen. Diese Treffen, die in der EVP auf Anregung von Helmut Kohl seit Anfang der Achtzigerjahre zu einer ständigen Einrichtung geworden sind, haben im Laufe der Neunzigerjahre zunehmend an Wichtigkeit gewonnen und belegen damit den Bedeutungszuwachs der Europäischen Parteien, die mehr und mehr in der Lage sind, die Aktionseinheit ihrer Mitglieder zu organisieren.

 

Dabei können und wollen die Europäischen Parteien können und wollen nicht Parteien nach einem bestimmten nationalen Vorbild sein, denn sie sind nicht auf allen Ebenen (Staat, Region, Gemeinde) nach einem einheitlichen Schema organisiert. Sie respektieren die bestehenden, gewachsenen und bewährten Strukturen ihrer Mitgliedsparteien, auf denen sie aufbauen und auf die sie sich stützen. Es handelt sich also um föderative Parteien, welche die Aktionseinheit ihrer Mitglieder auf europäischer Ebene organisieren und politisch zum Tragen bringen wollen.

 

Zustand und Entwicklung einer Europäischen Partei sind wesentlich abhängig von der Fähigkeit ihrer nationalen (oder regionalen) Mitgliedsparteien, einen gemeinsamen Willen zu artikulieren, und von ihrer Bereitschaft zu kooperieren und gemeinsam zu handeln. Dabei sind verschiedene Hürden zu überwinden.

 

Eine der schwierigsten Hürden besteht zweifellos in den Verschiedenheiten der Programmatik, die in den einzelnen nationalen Parteien gepflegt wird. Sie ergibt sich aus den jeweiligen, von Land zu Land verschiedenen Traditionen sowie den unterschiedlichen politischen und sozialen Problemlagen. Das Programm ist auch Ausdruck der Identität. Gemindert wird das sich daraus ergebende Verständigungsproblem durch die grundsätzliche, auch ideologische Übereinstimmung der im transnationalen Verband kooperierenden gleich gesinnten Parteien. Die EVP hat, wohl noch mehr als die SPE, immer sehr großen Wert auf die programmatische Arbeit gelegt, um die Differenzen in den Sichtweisen und Vorstellungen zu überwinden. Aus der Erkenntnis, dass Programmarbeit im Wesentlichen auch Integrationsarbeit ist, entstanden von Kongress zu Kongress jeweils durch Arbeitsgruppen und Kommissionen intensiv vorbereitete und ausführlich diskutierte Grundsatzprogramme, Aktionsprogramme und Wahlprogramme. Das hat im Laufe der Jahrzehnte zu einer soliden gegenseitigen Verständigung in den auf europäischer Ebene operierenden Gremien geführt.

 

Die Schwerkraft der nationalen, im Wesentlichen kulturell bedingten Unterschiede, sowie natürlich auch der Wahrnehmung des Eigeninteresses verlangt gerade auf diesem Gebiet eine ständige Bemühung, zumal in diesem Zusammenhang auch das Sprachproblem eine wichtige Rolle spielt.

 

Eine Europäische Partei kann nicht mehr sein als das, was ihre Mitgliedsparteien gemeinschaftlich aus ihr machen, und das entspricht nicht unbedingt dem, was einzelne Mitgliedsparteien daraus machen wollen. Die Vorstellungen über das, was eine Europäische Partei sein und leisten soll, gehen in den Mitgliedsparteien auseinander. Man orientiert sich normalerweise an dem, was in der eigenen, nationalen Partei und im eigenen Land an Leitbildern und an europäischem oder transnationalem Bewusstsein vorhanden ist.

 

Auch unter einer Partei versteht man hier und dort Verschiedenes. Die interne Organisation der Mitgliedsparteien spiegelt einerseits ihre jeweilige Geschichte, andererseits aber auch die Verfassung des Staates wider, in dem sie tätig ist. Zum Beispiel ist es für die Einstellung der Vertreter einer Mitgliedspartei gegenüber ihrer Europäischen Partei relevant, ob sie zu Hause über eine föderale Tradition und Kultur verfügen. Für die Rolle des Vorsitzenden der Partei gibt es ein breites Spektrum von hier und dort praktizierten Möglichkeiten: Er kann Geschäftsführer, Moderator, Animateur, Präsident oder Parteichef sein. Und auch die Rolle des Generalsekretärs wird unterschiedlich verstanden: In einigen Parteien ist er ein Funktionär, ein Administrator oder Organisator, während er in anderen eine politische Führungsaufgabe wahrnimmt.

 

Aus diesen Gründen können die »real existierenden« Europäischen Parteien nicht dem Idealbild entsprechen, das man sich hier und dort von ihnen macht. Sie entwickeln sich in einem offenen Kräftefeld unter der Einwirkung sehr unterschiedlicher Impulse. Es ist deshalb abwegig, in ihnen die Ebenbilder der nationalen Parteien zu suchen. Zwar geht von allen diesen Vorbildern etwas in die Europäischen Parteien ein, jedoch muss das, was sie charakterisiert, etwas anderes sein.

             

Dennoch bleibt in den Mitgliedsparteien die Erwartung, dass die Europäischen Parteien nach den jeweils eigenen, aus der nationalen Erfahrung übernommenen Vorstellungen gestaltet werden müssen, mehr oder weniger stark lebendig. Dementsprechend besteht auch vielfach die Neigung, ihre Selbstdarstellung und Leistung nach den heimischen Kriterien zu beurteilen.

 

Damit einher geht die Tendenz bei den Mitgliedern, die Europäischen Parteien im Sinne der jeweils aktuellen nationalen Parteiinteressen zu instrumentalisieren, oder ihren Wert an dem zu messen, was sie an unmittelbarem Nutzen in bestimmten Situationen versprechen. Das sind Reflexe, die vielleicht typisch sind für eine Phase des Übergangs in ein neues politisches System, in dem die neuen Verhaltensweisen noch nicht eingeübt sind und vorerst nur die alten Erfahrungen zur Verfügung stehen. Aber diese Reflexe sind vielleicht auch der föderativen Organisationsstruktur geschuldet, in der die einzelnen Komponenten auf ihre Autonomie bedacht bleiben und daran interessiert sind, von ihrer Zugehörigkeit zu ihrem Dachverband zu profitieren. (Wir kennen dieses Phänomen auch in der Bundesrepublik, wo sich die Landesverbände der Parteien oft genug im Verhältnis zu ihrem Bundesverband entsprechend verhalten.)

 

Eines der Hauptprobleme, vor denen die Europäischen Parteien stehen, und zwar sowohl bei ihren Bemühungen, sich durchzusetzen und ihre Rolle zu spielen, wie auch bei der Entwicklung ihrer Organisationen, liegt in den objektiven, strukturell bedingten Schwierigkeiten der Kommunikation zwischen europäischer und nationaler Ebene.

             

Die Zahl der Politiker und Funktionäre, die auf der europäischen Ebene tätig werden, ist – allerdings bei steigender Tendenz - immer noch relativ gering. Die nationalen Parteizentralen sind mit Personal, Instrumenten und finanziellen Mitteln um ein Vielfaches besser ausgestattet als die Sekretariate der Europäischen Parteien, deren immer noch ungenügende Ausstattung eine regelmässige und umfassende Informations- und Kommunikationsarbeit in den verschiedenen Sprachen gegenüber den Mitgliedsparteien und erst recht gegenüber einer breiteren Öffentlichkeit unmöglich macht.

 

Die Vorgänge auf der politischen Bühne der Europäischen Union sind außerordentlich komplex. Um zu verstehen, um Einsicht zu gewinnen, um urteilen zu können braucht man Kenntnisse und Erfahrungen, die normalerweise ein im nationalen Rahmen engagierter Politiker nicht erwirbt. Hinzu kommt, dass diejenigen Politiker und Funktionäre, die auf der europäischen Ebene tätig sind, notwendigerweise andere Prioritäten entwickeln als diejenigen, die ihren Verantwortungsbereich im nationalen oder regionalen Rahmen haben – und umgekehrt. Aus europäischem Verantwortungsbewusstsein, das die Situationen in mehreren Ländern berücksichtigen muss, werden von den Europapolitikern oft Positionen eingenommen, die sie in einen scheinbaren oder tatsächlichen Gegensatz zu dem bringen, was von den Parteifreunden im eigenen Lande vertreten wird. Auch die für eine sachgerechte und erfolgreiche europapolitische Arbeit notwendige Kompromissbereitschaft stößt zuhause oft auf Unverständnis. Und nur ganz allmählich wird es aufgrund der zunehmenden Verschränkung von nationaler und europäischer Politik auch für nationale Parlamentarier und Parteipolitiker zur Selbstverständlichkeit, die europäische Dimension der Probleme, mit denen sie befasst sind, bei ihren Bemühungen und Entscheidungen mitzubedenken.

             

In den Gremien der Europäischen Parteien wiederum fühlt man sich von den Mitgliedsparteien oft im Stich gelassen. Das geringe Echo in den nationalen Medien führt dazu, dass die Relevanz des Beitrages der »Europäer« im nationalen Kontext oft nicht erkannt, also auch nicht anerkannt wird. Das fördert bei manchen Nationalpolitikern eine Neigung, das Engagement in der eigenen Europäischen Partei und deren Aktivitäten in gewisser Weise für Luxus zu halten und die transnationalen Parteistrukturen nicht ernst zu nehmen.

 

Der Verlauf der Kampagnen zu den sich im Fünfjahres-Rhythmus wiederholenden Europa-Wahlen bestätigt diesen Befund. Die nationalen oder regionalen Parteiführungen in den Mitgliedstaaten können in der Regel der Versuchung nicht widerstehen, diese Gelegenheiten im Sinne ihrer aktuellen, lokalen Bedürfnisse zu instrumentalisieren; dadurch bleibt wenig Raum für eine Selbstdarstellung der Europäischen Parteien, die entsprechend wenig Möglichkeiten haben, sich als Akteure bemerkbar zu machen und die sich deshalb auch nicht profilieren können. Die wahlkämpfenden Mitgliedsparteien der einzelnen Parteiföderationen verfügen zwar über gemeinsam erarbeitete und beschlossene Programme, die mehr oder weniger loyal vertreten werden, aber selbst anlässlich der Europa-Wahlen wird die Europapolitik nur in geringem Maße thematisiert.

 

Eine besondere Rolle spielen bei den Bemühungen um Kooperation und Kommunikation zwischen den nationalen Parteien im Rahmen ihrer europäischen Verbände die Fraktionen des Europäischen Parlaments. Das ist nicht zuletzt historisch bedingt. In den Fraktionen versammelten sich frühzeitig die Persönlichkeiten, die über die notwendigen Kenntnisse der europäischen Zusammenhänge verfügten; sie waren es, die ihre Parteiführungen zu Hause von der Bedeutung einer engeren Zusammenarbeit mit den Partnern in den Nachbarländern überzeugten; die Initiative zur Gründung der europäischen Parteiformationen ist von ihnen ausgegangen.

             

Die Europäischen Parteien waren also zunächst einmal Kinder der Fraktionen des Europäischen Parlamentes. Diese Elternschaft hat ihnen von Anfang an einen starken Einfluss auf das Leben ihrer Parteien gesichert. Als Mitbegründer sind sie auch – neben den Mitgliedsparteien – konstitutive Mitglieder der Europäischen Parteien, was nicht zuletzt in der starken Stellung zum Ausdruck kommt, die ihnen die Satzungen einräumen: Vor allem ihre Vertretungs- und Mitwirkungsrechte sind großzügig bemessen.

 

Ich habe Ihnen, so hoffe ich, vermitteln können, wie es mit den Möglichkeiten und den Grenzen der transnationalen Kooperation von Europas Volksparteien bestellt ist, und wieweit die entsprechenden Bemühungen gediehen sind. Lassen Sie mich zum Schluss noch einige Bemerkungen über die Perspektiven machen.

 

Im Zuge der Europäisierung des politischen Lebens, insbesondere auch des politischen Lebens innerhalb der nationalen und selbst der regionalen Ordnungen, hat die Tendenz der Unterbewertung des Potenzials, über das die Europäischen Parteien verfügen, erheblich abgenommen. Mehr und mehr werden in Bezug auf schwer wiegende, die Innen- und Gesellschaftspolitik der Mitgliedstaaten belastende Probleme Erwartungen an europäische Lösungen gerichtet. Damit wandelt sich die Einschätzung von Rolle und Bedeutung der Institutionen der Union. Im Bewusstsein, dass hinreichende Antworten auf die Herausforderungen durch die Globalisierung, sowie zum Beispiel auf die Konsequenzen des Klimawandels, auf das organisierte Verbrechen, auf den Drogenhandel und auf die Probleme der internationalen Finanzpolitik nur gemeinschaftlich, das heißt im Rahmen des politischen Systems und mit Hilfe des Instrumentariums der Europäischen Union gegeben werden können, nimmt in der politischen Klasse, vor allem auch in den nationalen Parlamenten und den nationalen Parteien, und schließlich selbst in der Öffentlichkeit der Mitgliedstaaten, die Einsicht um Sinn und Bedeutung der Europäischen Parteien zu.

 

Die Europäisierung des Parteiensystems wird dabei voraussichtlich im Rhythmus der Verfassungsentwicklung der Union fortschreiten. Die beiden großen Lager, das sozialdemokratisch orientierte und das christlich-demokratisch oder bürgerlich-konservativ orientierte, werden dominant bleiben und auf die ihnen jeweils nahe stehenden Kräfte eine gewisse Anziehungskraft ausüben. Die gemäßigten Kräfte, die von links her zur Mitte tendieren, werden mehr und mehr in der SPE zusammengefasst, und die gemäßigten Kräfte, die von rechts her zur Mitte tendieren, in der EVP.

 

Das entspricht den Notwendigkeiten der Europapolitik, die eines breiten supranationalen Konsenses bedarf. Nur  transnationale Parteien oder Fraktionen, die über eine entsprechend breite gesellschaftliche und kulturelle Verankerung verfügen, können einen solchen Konsens organisieren. Außerdem liegt die Zusammenfassung der Kräfte auch im Interesse der nationalen Parteien, deren Wähler sich in den von EVP und SPE abgedeckten Meinungs- oder Interessenbereichen befinden. Denn wenn sie auf europäischer Ebene etwas bewirken wollen, müssen sie einer multinationalen, möglichst supranationalen, breit aufgestellten Fraktion angehören, die Veränderungen durchsetzen kann.

             

Im Laufe der letzten beiden Jahrzehnte waren erhebliche Veränderungen des politischen Systems der Europäischen Union zu verzeichnen, die zu einer stärkeren Demokratisierung und Transnationalisierung der politischen Debatte geführt haben. Die Stellung des Europäischen Parlaments ist dadurch gefestigt und ausgebaut worden. Dadurch ist auch die Rolle der Europäischen Parteien gewachsen, denn diese Debatte und die damit verbundene Auseinandersetzung muss auf die Strukturen zurückgreifen können, die von den Volksparteien Europas zur Verfügung gestellt werden.

 

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