Die Türkei, die Europäische Union und die NATO

Es gilt das gesprochene Wort!

Der renommierte Politikwissenschafter Prof. Dr. Hüseyin Bağci von der Middle Eastern Technical University (METU) in Ankara ist zur Zeit Visiting Professor für Internationale Beziehungen der Humboldt-Universität zu Berlin. Der heute zu den gefragtesten Türkeiexperten zählende Bağci studierte und promovierte in Deutschland mit Stipendien der Konrad-Adenauer-Stiftung zu einem türkeipolitischen Thema und ist daher sowohl mit der türkischen als auch der deutschen Zeitgeschichte bestens vertraut. In den Medien ist er sehr präsent. Seine Schwerpunktthemen liegen im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik.

Bağci beginnt seine Ausführungen mit der Bemerkung, dass er durch die zahlreichen Termine, die er in Deutschland wahrnimmt, viel im Zug reist. Hierbei bekommt er immer wieder Gespräche mit oder findet interessante Konversationspartner Die deutsche Sicht der Dinge ist für seine Arbeit eine wichtige und große Bereicherung. Im Folgenden gebe er seine persönliche Sicht der Dinge wider, denn er sei weder Politiker noch Diplomat, sondern Wissenschaftler.
Sich seinem Thema „Die Türkei, die Europäische Union und die NATO“ zuwendend weist Bağci darauf hin, dass die Türkei in den letzten 20 Jahren zunehmend in den Focus der deutschen und europäischen Medien geraten sei. Das liegt auch daran, dass die türkische Wirtschaft während dieses Zeitraums bedeutend gewachsen ist. Wäre die Türkei Mitglied der EU, wäre sie deren siebtgrößte Wirtschaftsmacht. (Weltweit steht sie auf dem beachtlichen 16. Platz.) Die türkische Wirtschaft wachse weiter an, so Bağci, und bald schon werde man sie nicht mehr ignorieren können.
In der Türkei könne man zudem seit längerer Zeit einen Paradigmenwechsel sowohl in der Innen- als auch in der Außenpolitik beobachten. „Die Türken machen gern Reformen“, so Bağci, und das gelte auch für die jetzige türkische Gesellschaft. Der Redner verweist auf die Vielzahl von türkischen Reformvorhaben der vergangenen 25 Jahre und begründet dieses Faktum mit dem Willen der türkischen Regierungen, aus ihrem Staat – zwar keine Weltmacht – aber doch zumindest einen global player werden zu lassen. Seit 1945 ist die Türkei beispielsweise Mitglied der Vereinten Nationen und gestaltet hier wie auch in zahlreichen weiteren supranationalen Organisationen die Welt in bestimmtem Maße mit.

Bağci widmet sich nun dem Verhältnis der Türkei zu den drei für sie wichtigsten ausländischen Machtzentren: Washington, Brüssel und Moskau. Für die USA sei, versichert Bağci, die Türkei bereits jetzt ein global player. Auf seinem ersten Türkeibesuch im Frühjahr 2009 habe Barack Obama sinngemäß verlauten lassen: „Wir haben dies und das gemacht. – Ihr könnt das auch!“ Während er in Ankara vor allem über Demokratie und Menschenrechte sprach, zentrierten sich seine Ausführungen in Kairo, das er wenig später aufsuchte, auf eine Aussöhnung mit der islamischen Welt. Er brachte damit indirekt zum Ausdruck, dass die Türkei für ihn im Gegensatz zu Ägypten kein „arabisches“ Land ist, sondern ein westliches, ein verlässlicher Partner, auf den man nicht verzichten möchte. Ministerpräsident Erdoğan hat in den letzten acht Jahren 18 Mal den US-Präsidenten getroffen, unterstreicht Bağci. Die USA haben auch deshalb ein Interesse an der Türkei, weil diese sich innerhalb der arabischen Welt durch politische Stabilität und Verlässlichkeit auszeichnet. Bağci zeigt sich davon überzeugt, dass die heutige NATO die Türkei brauche. Ihr Generalsekretär könne durchaus bald auch ein Türke sein.
Was Moskau betreffe, so erwarte man in diesem Jahr fünf Millionen Russen in der Türkei, nachdem die Visa-Pflicht in beide Richtungen entfallen ist. Russland wird zunehmend wichtig für die Türkei, meint Bağci. Die neuen guten Beziehungen seien bislang einzigartig, sie erstrecken sich lediglich nicht auf eine militärische Zusammenarbeit, da die Türkei hier durch die NATO natürlich gebunden ist. Durch die neuen russisch-türkische Kooperationen werden sich entscheidende geopolitische Veränderungen in diesem Raum ergeben.

Als Nächstes fragt Bağci nach den wechselseitigen Sichtweisen der Türkei und Europa aufeinander. Aus deutscher Sicht sei das neue Buch von Ruprecht Polenz (CDU!) „Besser für beide: Die Türkei gehört in die EU“ vom Mai 2010 bemerkenswert. Obwohl Polenz sich – wie der Titel bereits andeutet – dafür einsetzt, dass die Türkei in die EU aufgenommen wird, glaubt er doch, dass selbst dann, wenn die Türkei alle hierzu notwendigen Auflagen erfüllen sollte, sich nach wie vor die Frage stellt, ob die EU dann noch über hinreichend Aufnahmekapazitäten verfügen wird. Politisch-gesellschaftliche Faktoren also seien die bestimmenden.
Aus Sicht der Türkei ist die EU zwar ein wichtiger Faktor, aber nur einer von mehreren. Bağci drückt es so aus: „Die Türkei kann auch ohne die EU überleben, – aber sie kann besser mit bzw. in ihr agieren.“ Er weist jedoch auch darauf hin, dass nicht alle Türken den EU-Beitritt befürworten. Die EU ist vorbildhaft für die Türkei, da sie die erfolgreichste Institutionsbildung der Geschichte darstellt. Die Sorge, bei einem Beitritt der Türkei könne die EU dieselbe nicht absorbieren, sei im wirtschaftlichem und demografischen Bereich vielleicht nachvollziehbar, hinsichtlich der Fläche sei es jedoch stark einzuschränken, da die Türkei nur 1,06% des EU-Gebiets ausmachen würde.
Bağci ist der Ansicht, dass die Türkei nicht so bald in die EU aufgenommen werden wird, obwohl sie schon sehr lange auf diese Möglichkeit wartet. Beitrittskandidaten-Status besitzt sie seit 1999, seit 1996 besteht schon eine Zollunion mit der EU. Seitdem durchlaufe die Türkei immer wieder Reformschübe und werde auch immer demokratischer. Nationen, so der Politologe, planen auf lange Sicht: Wer sich einmal verlobe, der müsse in Zukunft eigentlich „ja“ sagen. Eine „privilegierte Partnerschaft“ könne hier nicht das Ziel sein. Vielleicht sei eine „norwegische Lösung“ denkbar, d.h. dass man es zumindest anders nennt.

Schließlich wendet sich Bağci dem Verhältnis von Türkei und NATO zu. Noch nie hat es ein so großes (freiwilliges) Militärbündnis wie die NATO gegeben. Doch gerade die kleinen Staaten streben nicht unbedingt nach einer Mitgliedschaft. Die Türkei wird nach Bağcis Auffassung sicherlich dem Bündnis treu blieben, dem sie seit 1952 angehört. Ohnehin öffnet sich die NATO weiter und nimmt zusehends globale Züge an. (Australien und Neuseeland sollen vielleicht auch aufgenommen werden.) Die Türkei entfernt sich nicht vom Westen, sondern vergrößert ebenfalls stets ihren Radius und erschließt sich dadurch neue Möglichkeiten, die Bağci an dieser Stelle jedoch nicht präzisieren will, um ihnen kein unnötiges Gewicht zu verleihen. Denn trotz aller Schwierigkeiten ist nach wie vor seiner Ansicht nach das Hineinwachsen der Türkei nach Europa die mit Abstand wünschenswerteste der denkbaren Alternativen. Er schließt seine Ausführungen mit dem Wunsch: „Die türkisch-europäischen Beziehungen sollten auf Liebe beruhen – nicht auf Hass.“


Wie zu erwarten schloss sich bei diesem politisch aktuellen Thema dem Vortrag eine rege Diskussion an. Die erste Frage aus dem Publikum zielte auf die Beziehungen der Türkei zum Iran. – Bağci erläutert, dass beide genannte Staaten zur Zeit gut zusammenarbeiteten, was in der Türkei partiell auch kritisiert werde. Der Türkei sei jedenfalls klar, dass es mit Israel keinen Krieg geben dürfe. Sie wisse allerdings auch, dass sie den Iran nicht daran würde hindern können, Atomwaffen zu erlangen. Bislang sei es jedoch ein win-win-Verhältnis. 
Eine weitere Frage hakte nochmals bei den türkischen Alternativen zur EU und zur NATO nach: Wäre es für die Türkei denkbar, stattdessen ihre Position als Regionalmacht im Nahen Osten (wieder) auszubauen? – Bağci betonte hierauf nochmals, dass es eigentlich keine vernünftige Alternative zur EU gebe. Die Türkei sei keine „globale Macht“, aber schon jetzt eine „regionale Softpower“: Es gebe gute türkische Filme, die in der Region auch konsumiert würden, und viele Menschen aus dem Nahen Osten kämen nach Istanbul, um dort zu heiraten.
Nach der „Minderheit der Aleviten“ gefragt, stellte Bağci richtig, dass diese schwerlich als Minderheit anzusehen sind. Sie seien völlig integriert. Dasselbe gelte übrigens für die Kurden, denn von 500 Abgeordneten des türkischen Parlaments seien über 200 Kurden. Was allerdings die zuvor genannten Aleviten betreffe: Sie hätten Einfluss in vielen Bereichen der Gesellschaft, so Bağci. Drei Männer seien es vor allem, die praktisch alle Alevitengruppen kontrollieren und in deren Namen mit dem Staat „verhandeln“. In der Türkei gehören Aleviten allen Gesellschaftsschichten an. Ihre Einstellung zum türkischen Staat ist auch meist positiv. Sie hatten damals Kemal Atatürk in der breiten Masse unterstützt.
Schließlich kam die Zypern-Frage auf. – Bağci wies darauf hin, dass 2004 der Kofi-Annan-Plan zur Überwindung der Teilung der Insel letztendlich an der Abstimmung der griechischen Bevölkerung gescheitert ist, nicht an der Haltung des türkischen Nordzypern. (Die griechischen Zyprioten lehnten den Plan mit 76% ab. Dagegen hatten ihm die türkischen Zyprioten mit 65% zugestimmt.) An jenem 1. Mai hatte Bağci insgesamt acht Fernsehinterviews zur Abstimmung gegeben. Er meint, die Politiker hätten vor der Eskalation des Konflikts gravierende Fehler gemacht. Sicherlich wäre ein weiteres friedliches Zusammenleben der beiden Bevölkerungsteile möglich gewesen.

 

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