Transnationalismus am Beispiel Hildesheims – Eine Kulturgeschichte des Alltags in Europa

Transnationalismus am Beispiel Hildesheims – Eine Kulturgeschichte des Alltags in Europa

Andrew Stuart Bergerson

Transnationalismus am Beispiel Hildesheims –

Eine Kulturgeschichte des Alltags in Europa“

Vortrag in den „Europagesprächen“ des IfG der Universität Hildesheim, 25.5.2009

Abstract

Georg Brzezinski, Alt-Hildesheimer, erzählte mir folgende Geschichte. „Ein amerikanischer Diplomat sagte zu seiner Tochter, die zu Besuch in Deutschland war: 'Um Deutschland wirklich gesehen zu haben, muss man folgende drei Orte besichtigen: das Heidelberger Schloss, das Goethe-Haus in Weimar und den Marktplatz von Hildesheim. Das ist typisch Deutsch.'“

Moderne Hildesheimer lernten, sich mit der historischen Architektur und ihrer Lebenswelt zu identifizieren. Sie bauten eine unveräußerliche Beziehung zu einer einzigartigen und historisch authentischen Vergangenheit auf. Aber welcher topographische Maßstab sollte diese lokale Geschichte bestimmen? Das ist nicht nur eine kulturelle, sondern auch eine politische Frage, die heute eng mit der europäischen Integration verbunden ist.

Dieser Vortrag legt das Augenmerk auf drei paradigmatische Übergangsmomente, in denen Hildesheimer auf die bestehende politische Gemeinschaft mit Eigensinn und Selbstbewusstsein reagierten und ihre lokale Lebenswelt in eine neue Welt integrierten. Einerseits zeigen sie, dass Integration und Abgrenzung schon längst vor Ort, unter Menschen transnational stattfanden. Andererseits weisen sie auf eine europäische Alltagskultur der Historizität hin. Wenn Historizität als Basis einer neuen politischen Gemeinschaft für ein Europa wirken soll, die demokratischer und menschlicher ist, stelle ich mir eine historische Alltagskultur für Europa vor, die historische Verantwortung in den Vordergrund stellt.

Der Vortrag in Kürze

Die Herausforderung, partikulare Identitäten auf eine übergeordnete Ebene zu transferieren und gleichsam aufzuheben, ist kein neues politisches Forschungsfeld in Europa. Die Integration der Lebenswelten in neuen Nationalstaaten oder Imperien war eine der größten politischen Taten des 19. Jahrhunderts. Geschichte als moderne Wissenschaft war in diesem Prozess von nation building unverrückbar eingebunden, aber gewöhnliche Menschen waren auch an Transnationalismus vor Ort beteiligt. Es war transnational, denn Integration und Ausgrenzung fanden durch Austausch und Begegnung statt. Um ihre Lebenswelt mit den vielen verschiedenen politischen Gemeinschaften des 20. Jahrhunderts in Einklang zu bringen oder gegen solche „Gleichschaltungen“ mit Eigensinn anzukämpfen, haben Menschen vor Ort unter sich ausgehandelt, wer wo abstammte und hingehörte. Heute fühlen sich viele Europäer von der Europäischen Union entfremdet, so als ob der historische Aufbau der EU nur in Brüssel stattfinden und ihre Politik der europäischen Bevölkerung aufoktroyiert werden würde. Die Bürgerinnen und Bürger Europas erleben die historischen Ereignisse (EU-)Europas nicht als Subjekte sondern als Objekte. Die Erfahrung der Historizität oder der Normalität wollen wir allerdings nicht als alltägliche Grundvoraussetzung der europäischen Politik hinnehmen. Eine kritische Alltagsgeschichte von Europa könnte zeigen, wie Europäer Akzeptanz und Distanz in Bezug auf neue politische Gemeinschaften unter sich aushandelten.

Auf der Basis archivalischer, bibliographischer, und lebensgeschichtlicher Quellen am Beispiel von Hildesheim skizziert dieser Vortrag die Geschichte einer Alltagskultur von und für Europa. Im ausgehenden 19. Jahrhundert verwandelten Hildesheimer ihr altes Hildesheim in „Alt-Hildesheim“, dessen Örtlichkeit sich auf der Authentizität der Geschichtlichkeit begründete. Geschichte leben und erleben hieß damals, ausgesuchte Bestandteile der lokalen Topographie mit idealisierten und moralisierenden Erzählungen von Deutschland zu verbinden und somit das neue zweite Deutsche Kaiserreich feierlich zu untermauern. Diese Alltagskultur der Historizität implizierte aber nicht nur Integration, sondern auch Ausgrenzung. Als Massenkultur des Alltags überwand Geschichtlichkeit die Klüfte zwischen den sozialen Schichten und politischen Lagern, die das alltägliche Leben in Hildesheim wie in Deutschland bestimmten. In ihrer Vorstellung diente ein Ausleben der Geschichte den lokalen Honoratioren auch als Mittel dazu, sich von den Massen abzuheben. Historizität hob das typische Gefühl kultureller Überlegenheit hervor, dem der Begriff Niveau schön Ausdruck verleiht.

Zum Beispiel boten die historischen Wahrzeichen Hildesheims Heinrich Weber – dem Kind eines Handwerkmeisters – einen Schauplatz seiner Selbstdarstellung als Mitglied des Bildungsbürgertums sowie die Gelegenheit, die Beziehung zwischen seiner Lebenswelt und dem kriegführenden Kaiserreich für sich zu bestimmen. Zwischen 1916 und 1918, bei einem Rundgang an der Stadtmauer des historischen Hildesheims, mit seiner todkranken Mutter, während eines totalen Krieges, verkörperte Heinrich für sich die „deutsche Volksgemeinschaft“, in der tragische Einzelschicksale versprachen, historische Siege zu werden. Gleichzeitig änderte er die räumliche Orientierung seiner historischen Stadt. Durch die Erfindung einer ortsgebundenen Historizität brach er die assoziativen Verbindungen zwischen seiner Lebenswelt und einem Kaiserreich, welches so offensichtlich sein historisches Versprechen nicht gehalten hatte, allmählich ab. Die Normalität „Alt-Hildesheims“ wurde in den dreißiger Jahren noch stark erlebt.

Sarah Meyers Mutter versuchte ihrer Tochter zu lehren, Geschichte in der Kunst und Architektur Alt-Hildesheims nachzuempfinden. Bei dem so genannten „Kaiserhaus“ in Hildesheim hatte allerdings Sarah, wie viele Jugendliche zwischen den Kriegen, auf die Medaillion-Reliefs der römischen Kaiser Nero, Caligula und vielleicht auch Diokletian gespuckt. Die Jugend lernte Alt-Hildesheim auch mit Eigensinn und Emanzipation zu sehen. Hildesheimer haben diese weit verbreitete Verhaltensweise mit verschiedensten Deutungen aufgeladen, diese waren aber so vielfältig und die Handlungsweise so gewöhnlich, dass Hildesheimer sie benutzen konnten, um verschiedene politische Gemeinschaften hinter der Normalität eines historischen Stadtbildes ins Leben zu rufen.

Während einer Fremdenführung 1937 durch die historische Stadt erhob Gerhard Mock immer noch deutlich Anspruch auf das Niveau des deutschen Bildungsbürgertums. Er wollte die Architektur Alt-Hildesheims gebrauchen, um eine gewisse Normalität des Alltags im „Dritten Reich“ aufrechtzuerhalten. Stattdessen musste er seinen Gästen und sich nicht nur zugestehen, dass er Jude sei, sondern auch Deutschland verlassen müsse. Die historische Baukunst diente dem Hildesheimer hier nicht nur als Hintergrund lebensgeschichtlicher und politischer Veränderungen sondern auch als Mittel zur (Selbst-)Identifikation und zum Weiterleben.

Diese Beispiele sind paradigmatische Ausdruck dessen, wie ein lokaler und partikularer Raum an einen größeren (Zufluchts-)Raum angeschlossen werden konnte, um ihn willentlich hinter sich zu lassen. Sie verweisen auf eine europäische Alltagskultur der Historizität, die benutzt wurde, um Politik zu treiben, Identitäten zu begründen, Ausgrenzungen abzuschwächen, zurückzunehmen oder zu entschuldigen und Integration zu fördern. Sie zeigen, dass moderne, politische Gemeinschaften grundsätzlich vor Ort, transnational, und unter Menschen ausgehandelt und entschieden wurden. Quer durch Europa bewegten sich die Menschen mit der Vorstellung, die Grenzen der politischen Gemeinschaft unter Nachbarn neu zu bestimmen und zu gestalten. In den heutigen postmodernen Zeiten finden die Entscheidungen für oder gegen Europa nicht nur bei den Wahlen zum Europäischen Parlament statt und werden auch nicht in Brüssel allein getroffen. Man entscheidet sich für Europa und seine Grundsätze in transnationalen Begegnungen zwischen Menschen vor Ort. Weiter ist diese Historizität eine europäische Massenkultur, aber um sie als alltäglichen Konsens für eine europäische Identität zu gebrauchen, muss man behutsam vorgehen und vorsichtig sein: eine auf Historizität gegründete Integration Europas könnte leicht zu neuen Ausgrenzungen führen. Europäische Kultur wäre besser als Begegnung und Austausch unter Menschen in der „Jetztzeit“ zu verstehen als ein Gegenstand vergangener Zeiten, der verteidigt und bewahrt werden muss. Statt Geschichte zu missbrauchen und Anspruch „auf Niveau“ zu erheben, stelle ich mir eine historische Alltagskultur für Europa vor, die historische Verantwortung in den Vordergrund stellt und die kreative Nutzung von Geschichte für das Heute betont, um den Menschen beizustehen und zu helfen. Eine kritische Alltagsgeschichte kann helfen, transnationale Gemeinschaften aufzubauen, die demokratischer und menschlicher sind.

 

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