Österreich und die Krisen und Kriege am Balkan in den 1990er Jahren mit einem Ausblick auf die Gegenwart

Österreich und die Krisen und Kriege am Balkan in den 1990er Jahren mit einem Ausblick auf die Gegenwart

Kurzzusammenfassung des Vortrags vom 28.04.2008
Botschafter Dr. Gerhard Jandl (
Österreichische Botschaft Belgrad)

Der Referent begann seine Ausführungen mit einem aktuellen Einstieg. Am 17. Februar 2008 erfolgte die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo und vier Tage später eine Großdemonstration in Belgrad mit massiven Ausschreitungen gegen Botschaften und westliche Firmenniederlassungen, mit einem Toten und über 100 Verletzten. Schon am 16. und 17. Februar hatte es Gewaltakte gegen diplomatische Vertretungen gegeben. Und im März dieses Jahres wurde das UNO-Gebäude in Mitrovica gestürmt sowie Zollposten an der grenze zum Kosovo von aufgebrachten Serben in Brand gesteckt. Abermals verlor ein Mensch, diesmal ein ukrainischer Friedenspolizist, sein Leben und wurden Viele verletzt. Diese Umstände verdienten Erwähnung, da im Unterschied dazu bei der Selbständigkeit von Montenegro im Jahre 2006 keine vergleichbaren Probleme mit Protesten und Unruhen auftraten.

Nach diesem Ausflug in die Gegenwart ging Botschafter Jandl auf die historischen Grundlagen der Problematik ein. Am 28. Juni 1389, dem Veitstag (Vidovdan), fand die legendäre Schlacht zwischen Serben und Osmanen auf dem Amselfeld statt, die, wie der Referent betonte und richtigstellte, keine Niederlage der serbischen Armee darstellte. Sowohl der serbische Fürst als auch der türkische Sultan starben in der militärischen Auseinandersetzung. Entgegen der landläufig und medial oft verkürzten Darstellung endete diese Schlacht nicht mit einer Niederlage der Serben, sondern unentschieden. Jandl verwies auf die „Goldenen Bulle“ von 1356 und wie weit entfernt dieses historische Ereignis aus dem 14. Jahrhundert heute für unser Gedächtnis ist. Im Unterschied dazu sei 1389 in der serbischen Realität des 21. Jahrhunderts sehr präsent. Mit diesem Vergleich verdeutlichte Jandl die unterschiedliche Wirkmächtigkeit mittelalterlicher Geschichte in Europa.

Bis 1913 war der Kosovo unter türkischer Herrschaft, wenngleich sich seine ethnographische Zusammensetzung im Laufe der Jahrhunderte änderte. Während der Balkankriege 1912/13 verdoppelte Serbien sein Staatsgebiet, erhielt den Großteil des Kosovo, und ging gestärkt aus der Auseinandersetzung mit dem Osmanischen Reich und Bulgarien hervor. Bereits Jahre zuvor war es unter der Dynastie der Karadjordjević zur Verschlechterung der Beziehungen zu Österreich-Ungarn gekommen, wie der „Schweinekrieg“ sowie ein beispielhaft zitierter Artikel aus der „Politika“ vom 2. November 1906 nahelegen. Nach dem Ersten Weltkrieg entsteht 1918 der „SHS-Staat“, der „Staat der Serben, Kroaten und Slowenen“. Über ein Fünftel des Territoriums der österreichisch-ungarischen Monarchie – nämlich Krain, Dalmatien und die Untersteiermark (aus der österreichischen Reichshälfte) sowie Kroatien-Slawonien, die Batschka und der westliche Banat (aus der ungarischen Reichshälfte) und schließlich Bosnien-Herzegowina (ein Kondominium beider Reichshälften) – wurde Teil des dieses Staates. 58% der Fläche des später so benannten „Jugoslawien“ bestand aus seinerzeitigen österreichisch-ungarischen Gebieten. Auch der Kosovo befand sich in diesem Jugoslawien, wurde aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg, unter Titos Herrschaft, der Teilrepublik Serbien zugeschlagen; davor war er nicht Teil serbischer Gebietseinheiten gewesen. 1974 erhielt das Territorium den Status einer Autonomen Provinz innerhalb Serbiens, wie auch die Wojwodina. Der Status einer Autonomen Provinz war dem einer Teilrepublik sehr ähnlich. Unter Slobodan Milošević verstärkte sich ab 1989 der Druck. Der Kosovo wurde zur Aufgabe der Autonomie gezwungen. Bereits drei Jahre zuvor war ein Memorandum der serbischen Akademie der Wissenschaften verfasst worden, welches dieser Politik offenbar zugrundelag. Nach dem einsetzenden Zerfall Jugoslawiens 1989-91/92 und der Abspaltung Kroatiens und Sloweniens vereinbarten Serbien und Montenegro am 12. Februar 1992 im Abkommen von Titograd (Podgorica) den Zusammenschluss zu einem neuen jugoslawischen Staat (am 1. März 1992 durch ein Referendum in Montenegro bestätigt). Die Verfassung dieser „Bundesrepublik Jugoslawien“ vom 27. April 1992 sah den Anschluss weiterer Republiken vor, zu dem es aber nicht kam. Nach dem opferreichen Krieg in Kroatien (insbesondere in der Krajina und Slawonien vom Juli bis Dezember 1991, im Januar 1992 sowie im August 1995) folgte der militärische Konflikt um Bosnien und die Herzegowina vom April 1992 bis Oktober 1995, laut Botschafter Jandl der blutigste Krieg im ehemaligen Jugoslawien mit rund 200.000 Toten und dem Tiefpunkt des Massakers von Srebrenica 1995 (als serbische Einheiten die UNO-Schutzzone überrannten und tausende wehrlose Zivilisten exekutierten) sowie der Bombardierung des Marktplatzes von Sarajewo. Vor diesem Hintergrund schien die US-Intervention mit entsprechendem NATO-Bombardement unvermeidlich. Letztere führte zu einem Einlenken der serbischen Seite und in weiterer Folge zu Friedensgesprächen über Bosnien und die anderen offenen Punkte, zunächst die Frage Mazedonien. Ein „Überbleibsel“ des Zerfalls Jugoslawiens waren nämlich auch einige Probleme im Zusammenhang mit der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien (auf Englisch: Former Yugoslav Republic of Macedonia, abgekürzt FYROM). Doch konnten diese durch ein Abkommen mit Griechenland vom 15. September 1995 gelöst werden – mit Ausnahme des (bis heute nicht gelösten) Namensstreits. Griechenland lehnt nämlich aufgrund der Existenz seiner gleichnamigen Region im eigenen Staatsverband die Bezeichnung „Republik Mazedonien“ ab und hat in der Folge noch Anfang 2008 deswegen den NATO-Beitritt Mazedoniens verhindert.

Am 3. Oktober 1995 wurde im Dorf Erdut ein Abkommen über Ostslawonien geschlossen. Diese direkt an Serbien angrenzende und hauptsächlich von Serben besiedelte kroatische Region stand noch immer unter serbischer militärischer Kontrolle. Mit dem Erdut-Abkommen wurde nun zunächst eine UN-Übergangsverwaltung (UNTAES) eingesetzt, und die anschließende Reintegration in den kroatischen Staatsverband vereinbart, welche 1998 erfolgte.

Aus Bosnien und der Herzegowina waren die Truppen der jugoslawischen Volksarmee zwar seit 1992 offiziell abgezogen, Belgrad ließ aber den bosnisch-serbischen Streitkräften Hilfe zukommen. Aufgrund dieser materiellen, finanziellen und vor allem militärischen Unterstützung verhängten die Europäischen Gemeinschaften und die Vereinten Nationen ab 1993 verschiedene Sanktionen gegen Belgrad. Ein Handels- und Erdölembargo setzte ein. Der Flugverkehr mit Belgrad wurde unterbunden und jugoslawische Vermögen im Ausland eingefroren. Die Wahlen erbrachten jedoch regelmäßig Siege der regierenden Sozialisten unter Milošević, der zur zentralen Figur aufstieg und mehrmals zum Präsidenten der „Bundesrepublik Jugoslawien“ bzw. der Republik Serbien gewählt wurde.

Wegen anhaltender Kriegsverbrechen, Menschenrechtsverletzungen und Vertreibungen (im seinerzeitigen Jargon hieß dies verhüllend „ethnische Säuberungen“, wovon letztendlich über drei Millionen Menschen betroffen waren), hatte die UNO am 25. Mai 1993 die Schaffung eines Kriegsverbrechertribunals beschlossen, welches ausgehend von den Genfer Konventionen in Den Haag errichtet wurde. 1994 lenkte Milošević dann ein, normalisierte die Beziehungen zu Kroatien, wie er auch ein vergleichbares Abkommen mit Rumänien abschloss, um der internationalen Ächtung zu entgehen. Als die bosnischen Serben den internationalen Friedensplan im Rahmen der Genfer Konferenzen von 1994 ablehnten, distanzierte sich Belgrad von ihnen und schloss noch im gleichen Jahr die Grenzen zu Bosnien und der Herzegowina. Unter US-amerikanischer Vermittlung (Richard Holbrooke) wurden auf dem Luftwaffenstützpunkt von Dayton/Ohio („in the middle of nowhere“) in dreiwöchigen Verhandlungen am 21. November 1995 zwischen Izetbegovic, Milošević und Tudjman ein Abkommen zustandegebracht, das am 14. Dezember 1995 im Elysée-Palast in Paris unterzeichnet werden konnte. Milošević hatte letztlich dem Druck der internationalen Staatengemeinschaft nachgegeben. Er legte keine großserbischen Attitüden mehr an den Tag, konzedierte den Verbleib der bosnischen Serben in dem zwar in seinen internationalen Grenzen bestehen bleibenden, aber intern komplex zu gliedernden Staat Bosnien-Herzegowina und schien der Umsetzung der komplizierten Abmachung zuzustimmen.

Durch seine Forderung auf alleinige völkerrechtliche Sukzession des ehemaligen Jugoslawiens unter Ausschluss der anderen vier Nachfolgestaaten (Kroatien, Slowenien, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien) bzw. auf Anerkennung als Fortsetzer-Staat des alten Jugoslawien, sowie die großserbische Expansionsabsicht in Kroatien und in Bosnien-Herzegowina zum vorgeblichen Schutz der serbischen Bewohner dieser Gebiete blieb übrigens die diplomatische Anerkennung der „Bundesrepublik Jugoslawien“ (der ehemaligen Teilrepubliken Serbien und Montenegro) bis 1996 aus. Erst 1996, also geraume Zeit nach dem Dayton-Abkommen, erkannten die EU-Staaten die „Bundesrepublik Jugoslawien“ (Serbien und Montenegro) an, und zwar als „einen der Nachfolgestaaten der früheren SFR Jugoslawien“. Dr. Jandl verglich die zum Teil inkonsistenten und in sich widersprüchlichen Argumente einiger internationaler Akteure in der Anerkennungsfrage, insbesondere in den Vereinten Nationen, mit einem „Eiertanz“. Für Österreich waren in der Frage der Staatenfortsetzung bzw. -nachfolge die möglichen Auswirkungen auf den Staatsvertrag von 1955 relevant, denn die SFR Jugoslawien war hinsichtlich des Schutzes der kroatischen und der slowenischen Minderheit in Österreich Vertragspartner des Staatsvertrages. Verständlicherweise konnte Österreich nicht zulassen, daß sich das Milošević-Jugoslawien als Fortsetzer-Staat der SFR Jugoslawien ein Mitsprachrecht arrogiert hätte, wie Österreich seine Minderheiten zu behandeln habe.

Ungeklärt blieb im Paket der Abschlüsse vom Herbst 1995 jedoch die Frage des Kosovo. Trotz der belastenden Kriegsfolgen und des anhaltend autoritären Regimes errang Milošević in einem von seiner Frau Mira Marković geleiteten „Linksblock“ eine Zweidrittel-Mehrheit bei den Wahlen, wobei die Albaner im Kosovo die Urnengänge boykottierten. Seit der Aufhebung des Autonomiestatus für den Kosovo und die Wojwodina forcierte Milošević die Bemühungen, den Kosovo serbisch zu machen.

Nach dieser tour de force ging Dr. Jandl auf die Rolle Österreichs ein. Dessen Part war ein aktiver, zumal in den südosteuropäischen Raum mannigfaltige historische Verbindungen bestanden. Hinzu kam das außergewöhnliche Engagement des österreichischen Außenministers Alois Mock (1987-1995), der mehrmals Initiativen ergriff und mit dem deutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher gut kooperierte. Dies wurde vor allem im Rahmen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE) deutlich, als die erste Stufe des KSZE-Mechanismus (Wahrung der Menschenrechte) von Österreich gemeinsam mit anderen Staaten aktiviert wurde. Jugoslawien reagierte mit dem Vorwurf der „unzulässigen Einmischung“. In der Aktivierung des zweiten KSZE-Mechanismus, der Forderung nach einer internationalen Untersuchung der Ereignisse in Ex-Jugoslawien, war Österreich allein auf weiter Flur. Der Ausbruch des Jugoslawien-Konflikts fiel in die Zeit der österreichischen Rolle als nichtständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat 1991/92. Der Jugoslawienkonflikt rangierte damals, was die Intensität des österreichischen Engagements betrifft, vor dem Irakkrieg, dem zweiten Golfkrieg. Österreichs Lobbying im UN-Sicherheitsrat zugunsten eines Aktivwerdens der internationalen Gemeinschaft in Kroatien und Bosnien-Herzegowina erfolgte damals gemeinsam mit Ungarn, welches auch nichtständiges Mitglied war. Dies weckte Reminiszenzen, zumal gedankliche Anspielungen hinsichtlich einer Kombination Budapest-Wien-Berlin-Zagreb aufkamen, während Drittwelt-Staaten Sympathien für Jugoslawien hegten, welches UN-Gründungsmitglied und Vorreiter der Blockfreien-Bewegung war. Österreich stellte sich hingegen auf den Standpunkt, dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker universal gelten müsse.

Dr. Jandl bedauerte die langewährende Passivität und Unentschlossenheit der Staaten, und daß es – trotz der Bemühungen Österreichs und anderer Akteure – erst 1995 zu einem Eingreifen der Staatengemeinschaft gekommen war.

Nach den Friedensschlüssen wurde ab Anfang 1996 von der EU eine Strategie für den Balkanraum zwecks Wiederaufbau und Annäherung an die EU entwickelt, die zunächst „Regional Approach“ hieß und schließlich den Namen „Stabilisierungs- und Assoziierungsprozeß“ (SAP) erhielt. Der SAP (bzw. seine Vorläufer unter anderer Bezeichnung) konzentrierte sich auf Länder mit Nicht-Assoziationsstatus auf dem „Westbalkan“ (ein Begriff, den Botschafter Jandl ausdrücklich neutral und wertfrei verwendet wissen wollte – wohlwissend um die Einwände und Vorbehalte der Historiker, die mit diesem Begriff wenig bis nichts anfangen können). Nach Ausscheiden des Begriffes „Eastern Adriatic Region“, der sich nur auf die Länder mit Küste bezogen hätte, und im Unterschied zum „Ostbalkan“ mit Rumänien und Bulgarien und zum „Südbalkan“ mit Griechenland blieb für Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Serbien, Montenegro, Albanien und Mazedonien nur die Bezeichnung „Westbalkan“ übrig, wie Jandl den rein geographisch-verhandlungstechnisch motivierten Terminus begründete.

Wichtig war für Österreich, daß es durchsetzen konnte, daß der SAP zwar einen einheitlichen Politikansatz für den Westbalkan liefert, die einzelnen Staaten aber dennoch nicht „über einen Kamm geschoren“, sondern je nach ihrer individuellen Situation beurteilt werden. Im Jahre 1997 wurde im Rahmen des SAP der Begriff der „Konditionalität“ mit Stufen der Anpassung eingeführt, d. h. von Reformfortschritten abhängig gemacht, also mit konkreten Bedingungen für die Balkan-Länder verbunden. Die erste Stufe umfaßte „autonome Handelsmaßnahmen“, einseitig gewährte Zollpräferenzen an die betreffenden Länder. Bei weiteren Reformerfolgen wurde zusätzliche Unterstützung aus verschiedenen EU-Programmen gewährt (PHARE, CARDS und IPA / Instrument of Pre-Accession). Kooperationsabkommen sollten die vorletzte Stufe vor den – weiterreichenden –  Assoziierungsabkommen bilden. Diese Mehrstufigkeit in den Abkommen wurde schließlich durch einen einzigen Abkommenstyp, dem „Stabilisierungs- und Assoziationsabkommen“ (SAA) ersetzt.

Anhand des Beispiels Bosnien-Herzegowina illustrierte Dr. Jandl, daß in der konkreten Arbeit der EU nicht nur die drei Stufen (autonome Handelsmaßnahmen; PHARE/CARDS/IPA; Stabilisierungs- und Assoziationsabkommen) zur Anwendung kamen, sondern eine Vielzahl von Zwischenstufen, die den Prozeß undurchsichtig und für die Empfängerländer verwirrend machten. So wurde für Bosnien zwischen den Stufen „CARDS“ und „SAA“ 1999 eine Consultative Task Force eingesetzt, die eine Road Map mit 18 zu erfüllenden Bedingungen erarbeitete, worauf dann eine Machbarkeitsstudie für ein SAA erstellt wurde, welche wiederum einem Katalog weiterer Erfordernisse erstellte, diesmal 16 Punkte. Erst 2008 konnte die letzte dieser Bedingungen (nämlich eine Polizeireform) umgesetzt werden, sodaß eine Unterzeichnung des SAA im Sommer 2008 erfolgen dürfte. Botschafter Jandl machte damit auf die Mühseligkeiten der Diplomatie aufmerksam, die bei der Umsetzung der Maßnahmen viele Schwierigkeiten zu beseitigen und großen Aufklärungsbedarf zu bewältigen hatte.

Im Oktober 2000 folgte im Zuge von Massendemonstrationen in Belgrad der Sturz von Milošević. Sein Nachfolger hieß Vojislav Koštunica. Die von Koštunica beantragte Aufnahme der Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien und Montenegro) als neuentstandener Staat in die Vereinten Nationen brachte nun endgültig völkerrechtliche Klarheit, dass diese Republik nicht der Fortsetzerstaat des alten Jugoslawien war.

Die kleine Teilrepublik Montenegro hatte sich unter ihrem Präsidenten Milo Djukanović bereits während der Milošević-Herrschaft von Belgrad abzusetzen versucht, und war darin von der EU nach Kräften unterstützt worden, in der Hoffnung, daß Djukanović ein politisches Gegengewicht zu Milošević bilden sollte. Als nicht unproblematisch bezeichnete es Botschafter Jandl, dass der Präsident Montenegros dann nach dem Sturz von Milošević von der EU fallen gelassen wurde. Doch trotz der Widerstände aus Brüssel setzte Montenegro auch nach 2000 seine Bemühungen um Unabhängigkeit fort. 2002 konnten die unabhängigkeitskritischen Kräfte in der EU zwar noch die Selbständigkeit verhindern und die Umgestaltung der bisherigen Bundesrepublik Jugoslawien in die „Staatenunion Serbien-Montenegro“, einen nur mehr sehr lockeren Bundesstaat, durchsetzen. Doch diese Union, von beiden Teilrepubliken nicht wirklich gewollt, funktionierte nicht, wie sich etwa an der Verfassungskrise vom März 2005 zeigte, als plötzlich kein verfassungsmäßiges Unionsparlament mehr existierte.

Montenegro begann im Frühjahr 2006 mit den Vorbereitungen zu einem Unabhängigkeitsreferendum. Einige Stimmen aus der EU rieten unüberhörbar davon ab und konnten erst überzeugt werden, als – auf Grund einer Empfehlung des Europarates – festgelegt wurde, daß für die Unabhängigkeit eine Mehrheit von über 55% erzielt werden müsse. Beim Referendum am 21. Mai 2006 sprachen sich dann 55,5% für die Loslösung von der Staatenunion aus, womit die genannte Marke überschritten war, und die kleine Republik am 3. Juni 2006 ihre Unabhängigkeit erklärte. Jandl berichtete über die große Herausforderung, die sich damit für die damalige EU-Präsidentschaft Österreich stelle, waren doch Teile der EU sowie das offizielle Serbien vehement gegen die Selbständigkeit Montenegros, während ein anderer Teil der EU (wie Österreich selbst) die Unabhängigkeitsbestrebungen für legitim erachtet. Erstmals seit 1914 hat Österreich nun wieder eine Botschaft in der montenegrinischen Hauptstadt.

Durch die Auflösung der Staatenunion wurde nicht nur Montenegro, sondern auch Serbien selbst im Juni 2006 ein eigenständiger Staat. Sohin begann man in Serbien mit der Ausarbeitung einer neuen Verfassung, die Ende Oktober 2006 in einem Referendum bestätigt wurde und am Mitrovdan, dem Tag des Hl. Demetrius, in Kraft trat. Während einige Kapitel des neuen Grundgesetzes als zeitgemäß und als im Einklang mit den europäischen Standards gewertet wurden, übte der Europarat Kritik an anderen Bestimmungen, etwa an der als nationalistisch eingestuften Definition Serbiens als „Staat der Serben und der anderen, die hier wohnen“ oder an dem Versuch, in zahlreichen Einzelbestimmungen die unabänderbare Zugehörigkeit des Kosovo zu Serbien festzuschreiben. Dies mußte in den gerade laufenden Verhandlungen über den Status des Kosovo als Provokation verstanden werden.

Im Kosovo war es, nach dem NATO-Bombardement auf Serbien von März bis Juni 1999, zum Rückzug der serbischen Streitkräfte und per Sicherheitsratsresolution 1244 zur Einsetzung der UNO-Interimsverwaltung UNMIK sowie zur Entsendung der internationalen Schutztruppe KFOR gekommen. Über den Status der formell weiterhin zur Bundesrepublik Jugoslawien gehörenden Provinz wurde noch nicht gesprochen, denn es galt der Grundsatz „standards before status“. Gewisse „Standards“ wie Bewegungs- und Rückkehrfreiheit, Marktwirtschaft etc. sollten erfüllt sein, bevor man die Statusfrage angehen wollte. Die Umsetzung der Standards blieb aber unbefriedigend, so dass die Statusfrage immer mehr in den Vordergrund rückte. Nachdem ein UNO-Sonderberichterstatter festgestellt hatte, daß die ungelöste Statusfrage die Verwirklichung der Standards behinderte, setzte UNO-Generalsekretär Annan im Oktober 2005 den ehemaligen finnischen Staatspräsidenten Martti Ahtisaari und dem vormaligen Generalsekretär des österreichischen Außenministeriums Albert Rohan als Beauftragte zur Suche nach einer Statuslösung ein. Ahtisaari und Rohan versuchten auf dem Vermittlungswege, alle Kompromißmöglichkeiten auszuschöpfen: 15 Verhandlungsrunden in Wien, 20 Missionen in den Kosovo und nach Belgrad, eine „Elefantenrunde“ (mit Präsidenten und Premierministern) und zahllose Einzelgespräche führten zu keinem Ausgleich. Belgrad war nicht bereit, seinen Anspruch auf den Kosovo aufzugeben. Prischtina war nicht bereit, von der Idee der Unabhängigkeit abzurücken. Wegen des Meinungsunterschiedes in der grundsätzlichen Frage blieben auch die anderen Punkte wie die Dezentralisierung der Gemeinden, die Volksgruppenrechte und der Umgang mit dem religiös-kulturellen Erbe (serbische Klöster auf albanischem Gebiet, albanische Moscheen auf serbischem Territorium) ungeklärt. Serbien war nicht bereit, durchaus greifbare Einigungen in diesen Teilbereichen zu unterzeichnen, ohne zuerst ein Nein zur Unabhängigkeit festzuschreiben. Die Kosovo-Albaner waren hier flexibler. Nach den serbischen Parlamentswahlen vom Jänner 2007 präsentierte dann Ahtisaari im Februar 2007 seinen Vorschlag einer „international überwachten Unabhängigkeit“ für den Kosovo, weil keine Kompromißlösung möglich war. Das vom neuen UNO-Generalsekretär Ban Ki-Moon unterstützte Ahtisaari-Paket befaßt sich neben Vorgaben für eine „europäische“ Verfassung und für die internationale Präsenz im Kosovo über weite Strecken mit den Rechten der serbischen Volksgruppe und der anderen Minderheiten. Österreichs Außenministerin Ursula Plassnik versuchte auch, den serbischen Premier Koštunica davon zu überzeugen –vergeblich. Russland erkannte die westliche Uneinigkeit und leistete Widerstand gegen den Sicherheitsrats-Resolutionsentwurf, der das Ahtisaari-Paket indorsiert hätte. Der Westen schwächte diesen dann wiederholt ab, doch unterblieb wegen der Möglichkeit eines russischen Vetos die Abstimmung. Die USA übten Kritik an der mangelnden Entschlossenheit der Europäer. Unter dem deutschen Diplomaten Wolfgang Ischinger wurden in der zweiten Jahreshälfte 2007 nochmals neue Vermittlungsversuche und Verhandlungen gestartet, um auszuloten, ob vielleicht nicht doch Kompromißmöglichkeiten bestünden – im Dezember 2007 lautete der ernüchternde Befund „wieder kein Ergebnis“. Damit blieb keine Alternative zur einseitigen Erklärung der Unabhängigkeit, eine Option, die auch die USA forcierten. Am 17. Februar 2008 rief das Provinzparlament des Kosovo die Unabhängigkeit gemäß dem Ahtisaari-Plan aus und gelobte, diesen in Kooperation mit der Staatengemeinschaft umfassend umzusetzen. Österreich bewegte sich im Laufe des Februars durch eine Reihe von behutsamen Einzelschritten auf die diplomatische Anerkennung des Kosovo als unabhängigen und souveränen Staat zu, die schließlich am 28. Februar 2008 eintrat. Die seit 1998 bestehende Außenstelle der österreichischen Botschaft Belgrad in Prischtina wurde mit Wirkung vom 21. März 2008 in eine Botschaft umgewandelt.

Botschafter Jandl fasste am Ende fünf Punkte zusammen: Der Kosovo ist kein Präzedenzfall; seine Situation mit keinem anderen Regionalkonflikt vergleichbar; eine Kompromißlösung war nicht mehr erzielbar; der Status quo ebenfalls nicht mehr aufrechterhaltbar; und das Ahtisaari-Paket war der einzige Weg zu einer akzeptablen Lösung. Wegen des Widerstandes aus Belgrad war der einseitige Schritt zur Unabhängigkeit unvermeidlich.

Im Anschluss an den dichten, kompakten und schwungvollen Vortrag ergab sich noch eine anregende Diskussion über Fragen der Flüchtlingssituation, das Verhältnis Serbien-Deutschland, den „Kosovo-Krieg“ mit seinen von manchen angezweifelten „humanitären Interventionen“ 1999, Fragen zu möglichen Verletzung des Völkerrechts und der Donaukonvention von 1948, bis hin zu einer Philatelisten-Anfrage, was die offizielle serbische Bezeichnung „Kosovo und Metochien“ bedeute (Metochien, zu deutsch in etwa „Klosterpfründe-Gebiet“, gilt als Teilgebiet des Kosovo). Der sehr gut besuchte Vortrag war ein Gewinn für alle Teilnehmer der Veranstaltung.

 

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