Weshalb fallorientiert Lehren und Lernen?

Frauke Gerstenberg

Bei einer Lehre, die fallorientiert gestaltet wird, geht es um Lehr- und Lernformen im Kontext von Kasuistik. Kasuistik kommt von Kasus, dem Fall. Hieran anschließend kann Kasuistik als die Arbeit mit Fällen bezeichnet werden. Das Verstehen von und die Beschäftigung mit Fällen gehört zum Kerngeschäft pädagogischen Handelns. Dabei kann unterschiedliches zum Fall (gemacht) werden: eine Situation, wie z.B. ein Lernprozess, ein Kind, seine Familie, die Kollegin, eine Interaktion, die Qualität eines Angebotes, der Gruppenraum, aber auch das eigene Fallverstehen im Teamgespräch. In der fallorientierten Lehre können sehr unterschiedliche Fälle zum Einsatz kommen. In der „Fallzentrale“  sind dies in der Regel Fälle, die im Kontext von qualitativer kindheitspädagogischer Forschung erhoben und für die fallorientierte Lehre didaktisch aufbereitet wurden.

In der fallorientierten Lehre geht man davon aus, dass es im Rahmen der Qualifizierung für die (kindheits-)pädagogische Praxis von Bedeutung ist, Kompetenzen des Fallverstehens zu vermitteln. Diese Fähigkeiten können unterstützt werden, indem (dokumentierte) Fälle als Anlass genommen werden, um für ein vieldeutiges Verstehen zu sensibilisieren und dabei gelernt wird, wie unterschiedlich Fälle verstanden werden können. Ziel ist, dass sich Lernende eine fragende Haltung aneignen, die sie von den eigenen Vorurteilen abbringt:

Wie wird etwas überhaupt zu einem Fall? Was bildet der Fall ab und für was steht er? Wie kann der Fall auf andere Weise betrachtet werden? Wie werden Fälle verstanden und welche Handlungsoptionen zeigen sie auf? Welche Wertmaßstäbe lege ich bzw. legen andere vor welchem Hintergrund an den Fall an? Könnten weitere Wertmaßstäbe für den Fall gelten? An welche Erfahrungen knüpft dieser Fall an? Und welche neuen Erkenntnisse gewinne ich, wenn ich diesen Fall betrachte?

Indem an Fälle unterschiedliche Fragen herangetragen werden, kann fallorientierte Lehre Lernende dabei unterstützen, das im Fall Dargestellte in der Betrachtung, im Nachdenken und im Sprechen bspw. einerseits durch die Anwendung methodischer Schritte analytisch zu ,zerlegen‘, andererseits davon befreien, sie bestimmten festgelegten konzeptuellen oder normativen Ordnungsvorstellungen zuführen zu müssen. Anliegen ist somit auch, im Prozess des fallorientierten Lernens vielgestaltige Auslegungen des Falles zuzulassen und damit die Besonderheit eines jeden Falles herauszukristallisieren sowie darüber verschiedene Varianten der kasuistischen Lehre vom Fall kennen- und auslegen zu lernen. D.h. es geht ebenso darum, einordnen zu können, wofür Fallverstehen in welcher Funktion Sinn macht: z.B. kann erprobt werden, dass das Lernen am Fall von Nutzen sein kann, das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem oder von Subsumtion und Rekonstruktion besser zu verstehen. Oder es kann in Erfahrung gebracht werden, dass fallorientierte Lehre – unter dem Vorteil der Handlungsentlastung – dazu beitragen kann, ein Verständnis für Antinomien und Paradoxien professionellen Handelns zu entwickeln.

Während jede pädagogische Praxis unter der Dialektik von Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung zu deuten ist, ermöglicht somit die Arbeit am Fall Lehrenden und Lernenden über ein ,echtes Handlungsproblem‘ zu sprechen, ohne selbst in der entsprechenden Situation stehen zu müssen oder ad hoc zu überlegen, wie reagiere ich auf dieses Problem. Zugleich kann genau dieser Umstand ebenso zum Thema der fallorientierten Lehre werden: Wie würden wir in dieser Situation reagieren und welche alternativen Handlungsoptionen gäbe es?

Fallorientierte Lehre zielt somit auf erfahrungsbezogenes und komparatives Verstehen; darauf, die eigenen Wertmaßstäbe am Fall zu erproben und in den Diskurs zu bringen; auf die Gewahrwerdung von Komplexität und Perspektivität in Auseinandersetzung mit Handlungssituationen und auf eine Kultivierung von kritischer Reflexivität anhand der Beschäftigung mit pädagogischem Handeln, das in Falldarstellungen exemplarisch eingebettet ist und auf diese Weise immer auch auf die Konstruiertheit von Welt aufmerksam macht.