Mehrsprachigkeit: Sprache in jedem Schulfach relevant

Freitag, 07. November 2014 um 13:02 Uhr

Wir sollten auf Schülerinnen und Schüler zugehen, die Deutsch als zweite Sprache erlernen und ihre Potentiale statt nur ihre Schwächen sehen, sagt Shinichi Kameyama. Ein Gespräch mit dem Sprachwissenschaftler über Mehrsprachigkeit im Klassenzimmer.

Sie sprechen an der Universität Hildesheim über Mehrsprachigkeit im Klassenzimmer. Ist die Sprachenvielfalt ein Glücksfall?

Mehrsprachigkeit im Klassenzimmer birgt eine große Chance in sich: Die Schüler bringen von zuhause eine weitere Sprache mit in die Schule. Wenn wir sie dabei unterstützen können, im Laufe ihrer Schulzeit ihre (nichtdeutsche) Familiensprache ebenso wie ihr Deutsch gut weiter auszubauen, wäre unsere Gesellschaft später reicher um Personen, die mit Hilfe ihrer Sprachen Brücken schlagen und Menschen miteinander verbinden könnten. Nur so kann eine Gesellschaft, in der mittlerweile so viele Einwanderer leben, zusammenwachsen und sich positiv weiterentwickeln.

Und welche Herausforderungen bringen die vielen Sprachen und unterschiedlichen Sprachbiografien mit sich?

Die Herausforderung besteht darin, dass wir nicht immer die institutionellen Rahmenbedingungen für die Förderung von Mehrsprachigkeit vorfinden, wie wir sie für unsere Arbeit eigentlich bräuchten. Auch gibt es nach wie vor Institutionsvertreter, die sich darauf zurückziehen, dass an deutschen Schulen Deutsch die alleinige und maßgebliche Sprache ist und dass andere Sprachen dort nichts zu suchen haben. Wir müssen unsere Einstellung diesbezüglich ändern, uns den anderen Sprachen gegenüber öffnen, die an den deutschen Schulen faktisch vorhanden und Teil der Persönlichkeit der potentiell mehrsprachigen Kinder sind. Wir sollten den Mut finden, kleine aber entscheidende Schritte zu machen, ein Stück weit auf die Schüler, die Deutsch als zweite Sprache (DaZ) erlernen, zuzugehen, ihre Potentiale statt nur ihre Schwächen zu sehen und achtsamer mit dem umzugehen, was im Ansatz an Mehrsprachigkeit da ist.

Können Sie ein Beispiel nennen, etwa aus dem Politik-, Kunst-, Deutsch- oder Mathematikunterricht?

Sie meinen ein Beispiel dafür, wie Unterrichtskommunikation gefördert werden kann, wenn man Mehrsprachigkeit im Unterricht zulässt? Ein schönes Beispiel zum Sachunterricht an der Grundschule finden Sie in dem Artikel zur „Arbeitssprache Türkisch“ von Jochen Rehbein (2011, Arbeitssprache Türkisch im mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht der deutschen Schule - ein Plädoyer). Dort geht es um Schülerinnen und Schüler mit Familiensprache Türkisch, die diese, anders als sie es aus der Schule gewohnt sind, in einem Experiment als „Arbeitssprache“ bei der Gruppenarbeit nutzen dürfen. Wenn man Schülerinnen und Schüler auf diese Weise ermöglicht, mit einer natürlich gewachsenen Sprache zu arbeiten, erleichtert man ihnen den natürlichen sprachlich-kommunikativen Zugriff auf den Unterrichtsgegenstand, die Verständigung in der Gruppe darüber, die sprachliche Bearbeitung der Aufgabe, das Verstehen des Gegenstands und damit auch die Entwicklung einer im Sinne Wygotskis (internalisierten) „Denksprache“ – die Grundlage für die mentale Verarbeitung, für ein kognitives Durchdringen des Gegenstandes ist.

In jedem Schulfach erfolgt die Wissensaneignung mit Hilfe von Sprache. Und am besten lernt man mit Hilfe einer Sprache, die natürlich gewachsen ist und die durch die Nutzung schrittweise weiter ausgebaut werden kann. Die Interaktion der Schülerinnen und Schüler, die im Rahmen des Artikels vorgestellt wird, erscheint sehr einfach und belanglos, aber eine solche einfache situationsgebundene Interaktion ist ein guter Einstieg in einen neuen Gegenstandsbereich im Unterricht. Später, wenn der Gegenstand verstanden ist und die sprachlichen Ausdrucksmittel dazu erarbeitet sind, können die Anforderungen, kann die Auseinandersetzung schrittweise sprachlich anspruchsvoller werden. Man muss den Schülerinnen und Schülern den notwendigen Raum zum ungezwungenen „Probehandeln" (Rehbein) mittels einer natürlichen Arbeitssprache geben. Dafür ist das Zulassen von Mehrsprachigkeit im Klassenzimmer der richtige Ansatz.

Wenn Kinder mehrere Sprachen sprechen und die deutsche Sprache als zweite Sprache erlernen – wie stellen sich Lehrerinnen und Lehrer darauf ein? Beobachten Sie an manchen Schulen Überforderung oder dass die Auseinandersetzung mit Mehrsprachigkeit zu wenig aufgegriffen wird?

Der Anteil von DaZ-Schülerinnen und Schülern wächst zunehmend an allen deutschen Schulen. Lehrerinnen und Lehrer sehen vor allem die Defizite, haben den Eindruck, dass sie etwas tun müssten, damit ihr Deutsch besser wird, damit sie den sprachlichen Anforderungen der Schule gewachsen sind. Jedoch sehen sich die Lehrerinnen und Lehrer aufgrund fehlender Ausbildung häufig nicht in der Lage, sich im Regelunterricht damit in einer geeigneten Weise auseinanderzusetzen (siehe Becker-Mrotzek u.a. „Sprachförderung in deutschen Schulen – die Sicht der Lehrerinnen und Lehrer").

Wie kann diese Entwicklung professionell begleitet werden?

Die Auseinandersetzung mit Mehrsprachigkeit steckt noch in den Kinderschuhen. Wir müssen da noch jede Menge kleine Schritte tun, damit die Familiensprachen der DaZ-Kinder wie ihr Deutsch gefördert werden. Das können die Schulen oder gar einzelne Lehrerinnen und Lehrer nicht im Alleingang leisten. Hier ist eine Vernetzung und Zusammenarbeit der Schulen mit kommunalen Institutionen, mit Vertretern der Sprachcommunities verschiedener Migrantengruppen und vor allem mit den Eltern der DaZ-Kinder erforderlich. Es gibt viele Initiativen einer solchen Vernetzung auf kommunaler Ebene, etwa in Nordrhein-Westfalen. Eine Vernetzung erleichtert ein koordiniertes Vorgehen bei der frühkindlichen und bei der darauf aufbauenden schulischen Sprachförderung, dazu gehört etwa die Wortschatzarbeit und Texthabitualisierung, eine koordinierte zweisprachige Alphabetisierung und bildungssprachliche Förderung, die übrigens nicht nur für DaZ-Schülerinnen und Schüler, sondern für alle sinnvoll ist.

In der Schule wird die Rolle der Sprache für den Unterricht, die Dynamik der Sprachentwicklung im Schulalter und werden die sprachlichen Anforderungen im Unterricht immer noch völlig unterschätzt und im Fachunterricht, also in anderen Fächern als Deutsch, nicht angemessen berücksichtigt. Sprachfördermaßnahmen für Deutsch als Zweitsprache außerhalb des Regelunterrichts alleine reichen da bei weitem nicht aus. Sie sind zu weit weg von den Gegenständen, die im Regelunterricht behandelt werden. Wichtig wäre ein sprachbewusster, diskursiv-entwickelnder Regelunterricht, in dem sprachliches und fachliches Lernen gleichermaßen gefördert wird. Wie ein solcher „sprachsensibler", „sprachbildender" oder „sprach-und fachintegrierter" Unterricht aussehen könnte, dazu wurde in letzter Zeit sehr viel geschrieben. Was wir als professionelle Begleitung brauchen, ist mehr empirische Unterrichtsforschung anhand authentischer Aufnahmen aus dem echten Schulunterricht dazu, mehr Analysen zu Best-Practice-Beispielen. Je genauer wir nachvollziehen können, wie guter sprachfördernder Regelunterricht funktioniert, desto besser. Um die Lehrerinnen und Lehrer in ihrer Unterrichtspraxis konkret unterstützen zu können, brauchen wir auch sprachlich gut reflektiertes Unterrichtsmaterial in allen Fächern. Daran müsste künftig weiter gearbeitet werden.

Werden denn all die Sprachen – ob Albanisch, Russisch, Arabisch, Polnisch, Vietnamesisch, Türkisch –, die im Klassenzimmer „anwesend" sind, wertgeschätzt? Und wie könnte eine Form der Wertschätzung aussehen, können Sie ein Beispiel nennen?

Es wäre wünschenswert, dass alle Sprachen gleichermaßen wertgeschätzt werden würden. Oft höre ich unsere Lehramtsstudierenden sagen, es seien zu viele Sprachen, um sie alle neben dem Studium lernen zu können. Das kann aber doch kein Grund sein, sich deswegen mit keiner der vorhandenen Sprachen zu beschäftigen, von vornherein alles aufzugeben. Man sollte sich anfangs nicht zu hohe Maßstäbe setzen, aber stets offen bleiben für Neues. Es geht nicht darum, perfekt Albanisch oder Vietnamesisch sprechen zu können. Warum fangen wir nicht klein an, lernen zusammen mit den Schülerinnen und Schülern erst einmal einfache Grußformeln in den verschiedenen Sprachen, sich gegenseitig zum Geburtstag zu gratulieren, von ein bis zehn zu zählen, machen weiter mit Benennungen für Körperteile, für Gegenstände, wie wir sie im Klassenzimmer, zuhause oder auf der Straße antreffen, für Dinge, die uns interessieren und dokumentieren den gemeinsamen Lernfortschritt auf Plakaten im Klassenzimmer? Das wäre doch ein spannendes Projekt, bei der eine Klasse wunderbar zusammenwachsen könnte.

Ich glaube, sich füreinander zu interessieren und untereinander auf diese Art und Weise auszutauschen, ist wichtig, damit gegenseitiger Respekt entstehen kann und Neugier für das Andere geweckt wird. Irgendwann ist vielleicht das Interesse und die Expertise für den Gegenstand Sprache dann so weit angewachsen, dass man beginnt die Sprachen mit Hilfe entsprechender Literatur miteinander in ihren Eigenarten zu vergleichen. Das dürfte das Selbst- und Sprachbewusstsein mehrsprachiger Schülerinnen und Schüler und ihre Mehrsprachigkeit wesentlich stärken.

Sie haben zur Mehrsprachigkeit am Arbeitsplatz geforscht. Die Gesellschaft, ihre Institutionen müssen die damit verbundenen Herausforderung als Aufgabe begreifen und ernst nehmen, schreiben Sie.

Danke, Sie zitieren aus den Klappentext unseres Buches „Mehrsprachigkeit am Arbeitsplatz". Genauso ist es.

Blicken wir auf den Arbeitsplatz Schule: Wie sieht es eigentlich mit Lehrerinnen und Lehrern, die mehrsprachig leben und mit einsprachigen Lehrkräften aus – sollten hier Chancen und Erfahrungen aus der eigenen Biografie auch für den Unterrichtsalltag genutzt werden oder liegt darin eine Gefahr, in Stereotypen zu denken? Etwa: Diese türkischsprachige Lehrerin spricht Türkisch – also ist sie für den Kontakt zu türkischsprachigen Familien zuständig.

Mehrsprachige Lehrerinnen und Lehrer, die eine Migrationssprache auf muttersprachlichem Niveau beherrschen, könnten sicher Vorbilder, Vermittler und Multiplikatoren sein. Aber mehrsprachig zu sein, muss nicht heißen, dass wir die Sprachen perfekt beherrschen. Es bedeutet vielmehr, dass man sich überwindet, sich traut und darum bemüht ist, Sprachen in der alltäglichen Kommunikation, auch am Arbeitsplatz einzusetzen. Insofern könnten eigentlich alle Lehrerinnen und Lehrer mehrsprachig sein; sie haben genauso wie alle Schülerinnen und Schüler das Potential dafür. Wir sollten uns unbedingt mehr um die eigene Sprache und Mehrsprachigkeit und um die der Kinder und Jugendlichen kümmern.

Die Fragen stellte Isa Lange.

Kurzinfo zur Person:

Dr. Shinichi Kameyama forscht und lehrt an der Universität Dortmund. Seine Arbeitsgebiete sind Pragmatik, Diskursanalyse, Kontrastive Analyse des Deutschen und Japanischen, Deutsch als Zweit- und Fremdsprache, Kommunikation am Arbeitsplatz, Mehrsprachigkeit und interkulturelle Kommunikation.

Austausch über Mehrsprachigkeit

Das Institut für Interkulturelle Kommunikation der Universität Hildesheim lädt ein zur öffentlichen Vorlesungsreihe „Mehrsprachigkeit, Sprachkontakt und Bildungsbiografie" (Programm als PDF). Die Beiträge zeigen die Vielfalt der individuellen, gesellschaftlichen und institutionellen Ausprägungen von Mehrsprachigkeit auf und blicken auf Bildungsbiografien. Shinichi Kameyama (Dortmund) spricht am 10. November 2014 am Bühler-Campus über „Mehrsprachigkeit im Klassenzimmer – Wie gehen wir damit um?". Bettina Kluge (Hildesheim) befasst sich am 24. November mit Mehrsprachigkeit und Sprachbewusstsein in den Blogs von lateinamerikanischen Immigranten in Québec. Am 8. Dezember sprechen Ulrike Wrobel, Irene Pieper und Burkhard Moennighoff (Hamburg, Hildesheim) über Lyrik in der Mehrsprachigkeit von Laut- und Gebärdensprache.

Studium: Deutsche als Zweitsprache und Deutsch als Fremdsprache

Die Sprachenvielfalt in einer Schulklasse einbeziehen oder im Ausland arbeiten und die deutsche Sprache vermitteln: Die Universität Hildesheim bietet einen Masterstudiengang „Deutsch als Zweitsprache/Deutsch als Fremdsprache“ an. Studieninteressierte wählen einen Schwerpunkt – entweder Deutsch als Zweitsprache. Hier lernen Lehrerinnen und Lehrer, wie sie die Sprachenvielfalt in der Klasse einbeziehen können und mit welchem Wortwissen sie bei ihren Schülern rechnen können. Die Universität bildet Fachleute für die Sprachförderung in Schulen und Fachkräfte für den Unterricht von Erwachsenen in Integrationskursen und für die Bildungsplanung aus. Zu den Studieninhalten gehören Seminare in den Bereichen Zweitspracherwerb, deutschsprachiger Unterricht in mehrsprachigen Gruppen, Diagnostik und Lehrwerksanalyse. Studierende mit dem Schwerpunkt Deutsch als Fremdsprache können nach dem Studium an Schulen und Universitäten im Ausland als Spezialisten für die Vermittlung der deutschen Sprache und Kultur arbeiten. Ein mehrmonatiger Auslandsaufenthalt gehört zum Studium.


An der Universität Hildesheim befassen sich mehrere Arbeitsgruppen mit mehrsprachig aufwachsenden Kindern. Sie laden Studierende und alle Interessierten zum Austausch ein und holen weitere Fachleute nach Hildesheim, etwa in der öffentlichen Ringvorlesung „Mehrsprachigkeit". Fotos: Isa Lange/Uni Hildesheim

An der Universität Hildesheim befassen sich mehrere Arbeitsgruppen mit mehrsprachig aufwachsenden Kindern. Sie laden Studierende und alle Interessierten zum Austausch ein und holen weitere Fachleute nach Hildesheim, etwa in der öffentlichen Ringvorlesung „Mehrsprachigkeit". Fotos: Isa Lange/Uni Hildesheim