Grundlagenforschung: Kommentieren im digitalen Raum

Montag, 28. Mai 2018 um 07:38 Uhr

Ein Hildesheimer Forschungsverbund untersucht, wie sich das Lesen im digitalen Raum verändert. Das Bundesforschungsministerium fördert das Projekt „Rez@Kultur“ über drei Jahre. Acht Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Computerlinguistik, Kulturjournalismus, Wirtschafts- informatik und Kulturpolitik analysieren zum Beispiel Lesevorgänge und Online-Gespräche über Werke der Kunst und Literatur.

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Hildesheim befassen sich mit der Frage, wie sich das Lesen und Kommentieren im digitalen Raum verändert und sich auf kulturelle Bildungsprozesse auswirkt. Die acht Forscherinnen und Forscher kommen aus unterschiedlichen Fachdisziplinen – von Computerlinguistik über Kulturjournalismus und Kulturpolitik bis Wirtschaftsinformatik. Das Bundesforschungsministerium fördert den interdisziplinären  Forschungsverbund „Rez@Kultur“ über drei Jahre.

Mit Lesen verbundene soziokulturelle Praktiken in digitalen Netzwerken sind bisher kaum national oder international erforscht. Bisher wurde kaum methodisch fundiert und grundlegend die Frage beantwortet, in welcher Form sich kulturelle Bildungsprozesse im Kontext von Digitalisierung konkret verändern, da die empirische Datenbasis fehlt, um wissenschaftlich abgesichert zu Hypothesen zu gelangen.

Welche wirtschaftliche Bedeutung den Kundenrezensionen etwa im Online-Handel zukommt, wurde bereits erforscht – die digitalen Bildungswirkungen von Gesprächen über Literatur und Kunst wurden bisher nicht analysiert.

Lesen und kommentieren im digitalen Raum – bisher kaum international erforscht

Das Hildesheimer Forschungsteam um Guido Graf, Ulrich Heid, Ralf Knackstedt und Vanessa Reinwand-Weiss baut bis 2020 die empirische Grundlagenforschung aus und wendet dabei Methoden aus dem Bereich „Big Data“ an: Mit computerlinguistischen Werkzeugen werten die Forscherinnen und Forscher große Datenbestände aus und analysieren Textmengen, die auf blogs und Online-Portalen (etwa in Kundenrezensionen) im Netz erzeugt werden. Der Fokus liegt auf deutschsprachigen Rezensionen zu Kunst und Literatur.

Wie sieht etwa die Diskussion auf den Internetseiten von Büchershops aus, was hat sich seit 2000 bis heute verändert? Welche Einflüsse haben die digitalen Technologien darauf, wie wir über Texte und Fotografien sprechen? Was bedeutet dies für individuelle Bildungsprozesse? Wie verlaufen Diskussionsprozesse über Literatur im „Social Reading“ – also auf Plattformen, auf denen sich Leseinteressierte treffen, Bücher bis hin  zu einzelnen Textstellen und Sätzen kommentieren und so darüber online ins Gespräch kommen? Seit April 2018 erprobt die Universität Hildesheim das „Social Reading“ in der Lehre, als erste Hochschule in der deutschen Wissenschaftslandschaft.

Digitale Geisteswissenschaften: Forschungsverbund analysiert große Datenbetände und Textmengen

„Immer wieder gerade dann, wenn es um das Lesen geht, hat jede und jeder eine Meinung dazu, wie sich die Digitalisierung darauf auswirkt, ohne eigentlich mehr als die subjektive Wahrnehmung für diese Beurteilung zur Verfügung zu haben. Wir dagegen nähern uns der Frage empirisch und analysieren Lesevorgänge und das Online-Gespräch über literarische Texte und andere künstlerische Gegenstände mit computerlinguistischen und Datenauswertungs-Methoden. Wir möchten Antworten formulieren auf die Frage, wie sich die Digitalisierung auf unsere kulturelle Kommunikation auswirkt, auf die Herausbildung kritischer Kompetenz – kurz: auf die kulturelle Bildung“, sagt Guido Graf. Der promovierte Literaturwissenschaftler leitet das Forschungsprojekt.

In den ersten Monaten haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vor allem an der Modellierung der Daten gearbeitet. Dazu gehört die Auswahl der Online-Plattformen aus den Bereichen Kunst und Literatur, die nun mittels Massendatenerhebung untersucht werden. „Wir erarbeiten fein abgestimmte Cluster, also Filter, mit denen diese Massendaten untersucht werden“, sagt Graf.

Die Chance in dem Projekt liegt auch in der Kombination der Forschungsdisziplinen – von Kulturwissenschaft bis Informatik arbeiten die Wissesnchaftlerinnen und Wissenschaftler von Anfang an zusammen. „Da treffen Welten aufeinander“, sagt die Wirtschaftsinformatikerin Kristin Kutzner. „Wir können als Informatikerinnen und Informatiker die kreativen Industrien und Bildungsprozesse mit einen anderen Brille analysieren. Wir helfen dabei, Daten aus Plattformen zu ziehen, mit Informationssystemen zu arbeiten sowie die Prozesse in der Datenflut zu organisieren.“

Die Literaturwissenschaftlerin Kristina Petzold interessiert sich besonders für die Frage, wo das Professionelle in der digitalen Welt verortet ist. „Heute kann jeder Laie Rezensionen veröffentlichen.“ In den vergangenen Jahren sind im Internet verschiedene Protale entstanden, die nicht nur literarische Texte und Werke der Bildenden Kunst verfügbar machen, so dass sie gelesen oder angeschaut werden können. Vielmehr ist heute auch deren Kommentierung und Bewertung sowie Weiterentwicklung (Co-Creation) möglich. Wie bilden sich auf diesen Plattformen kritische Diskurse aus? Wie unterscheiden sie sich von traditioneller Literaturkritik? Kristina Petzold weist darauf hin, dass mit dem World Wide Web neue Wertungsstrukturen entstanden seien, jenseits der Autoritätsansprüche, wie sie etwa im 20. Jahrhundert das Zeitungsfeuilleton etabliert hat. Die Froscher sprechen von einer „Deprofessionalisierung von Kritik“, der kritische Diskurs stützt sich nicht mehr allein auf Gatekeeper und Meinungsführer.

Wie kann im digitalen Raum eine kritische Praxis und Diskursfähigkeit aufgebaut werden?

Guido Graf möchte in dem Forschungsprojekt herausfinden, wie im digitalen Raum eine kritische Praxis und Diskursfähigkeit aufgebaut werden kann. Denn, so die These: Nur wer eine kritische Beurteilungskompetenz für kulturelle Artefakte – ob Bücher oder Fotografie – herausbildet, kann am Bildungsprozess teilhaben.

Das Hildesheimer Forschungsprojekt „Rez@Kultur. Digitalisierung kultureller Rezensionsprozesse: Eine multimethodische empirische Analyse“ läuft von 2017 bis 2020 im Rahmen der Förderrichtlinie „Digitalisierung in der kulturellen Bildung“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung.

Mehr über das Forschungsprojekt Rez@Kultur

Kurz erklärt

Wer im Forschungsprojekt „Rez@Kultur“ zusammenarbeitet

Seit 2017 läuft das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Drittmittelprojekt. Um die „Digitalisierung kultureller Rezensionsprozesse“ zu erforschen, haben sich vier Institute der Universität Hildesheim zu einem Forschungsverbund zusammengeschlossen:

  • Institut für literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft (Dr. Guido Graf, Projektleitung)
  • Institut für Informationswissenschaft und Sprachtechnologie (Prof. Dr. Ulrich Heid)
  • Institut für Betriebswirtschaft und Wirtschaftsinformatik (Prof. Dr. Ralf Knackstedt)
  • Institut für Kulturpolitik (Prof. Dr. Vanessa Reinwand-Weiss)

Das Institut für literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft hat seit 2009 praktische Forschungsarbeiten zu neuen Formen literarischer Kommunikation im digitalen Raum durchgeführt. Untersucht wurde auf Tagungen und in „Social Reading“-Projekten, wie sich die zunehmende Bedeutung des mobilen Internets auf die Praxis des Lesenes, Kommentierens und Diskutierens auswirkt und der Einfluss der Digitalisierung auf den Literaturbetrieb untersucht.

Das Institut für Informationswissenschaft und Sprachtechnologie hat sich spezialisiert auf die Entwicklung computerlinguistischer Werkzeuge zur Analyse von deutschen und englischen Texten. Im vom Bundesforschungsministerium geförderten Projekt „e-Identity“ wurden Verfahren zur computerlinguistischen Erschließung größerer Textmengen aus elektronischen  Zeitungsarchiven  entwickelt. Auch Verfahren zur Identifikation von Berichts- und Kommentarstrukturen entstanden.

Das Institut für Betriebswirtschaft und Wirtschaftsinformatik hat im vom Bundesforschungsministerium geförderten Projekt „InDeKo.Navi“ die Kommunikation zu Forschungsprojekten analysiert, um Chancen der Zusammenarbeit von Forschungsgruppen gezielt aufzeigen zu können. Die Wirtschaftsinformatiker haben sich spezialisiert auf die Modellierung von  Prozessen.

Ein zentraler Forschungsschwerpunkt am Hildesheimer Institut für Kulturpolitik ist die kulturelle Bildung. Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchs- wissenschaftler untersuchen im bundesweiten Netzwerk „Forschung Kulturelle Bildung“, wie Kinder und Jugendliche mit Kunst und Kultur aufwachsen und welche Strukturen geschaffen werden, um Teilhabe an Kultur zu ermöglichen.

Medienkontakt: Pressestelle der Universität Hildesheim (Isa Lange, 05121 883 90100, presse@uni-hildesheim.de)


Wie wirkt sich der digitale Wandel auf das Lesen aus? Auf dem Bild (von links nach rechts), während eines Arbeitstreffens des Forschungsverbundes: Kristina Petzold, Lasse Kohlmeyer, Ralf Knackstedt, Guido Graf, Claudia Roßkopf, Ulrich Heid, Vanessa Reinwand-Weiss, Anna Moskvina. Auf dem Bild fehlt Kristin Kutzner. Fotos: Isa Lange/Uni Hildesheim

Wie wirkt sich der digitale Wandel auf das Lesen aus? Auf dem Bild (von links nach rechts), während eines Arbeitstreffens des Forschungsverbundes: Kristina Petzold, Lasse Kohlmeyer, Ralf Knackstedt, Guido Graf, Claudia Roßkopf, Ulrich Heid, Vanessa Reinwand-Weiss, Anna Moskvina. Auf dem Bild fehlt Kristin Kutzner. Fotos: Isa Lange/Uni Hildesheim