Foto Geesche Wartemann

Geesche Wartemann hatte an der Universität Hildesheim die erste und einzige Professur für die Ästhetik des Kinder- und Jugendtheaters im deutschsprachigen Raum inne. Ihre Arbeitsschwerpunkte waren die Ästhetik des Kinder- und Jugendtheaters, die Darstellung von Authentizität wie auch theaterpädagogische Konzepte.

Geesche Wartemann war im besten Sinne eine Grenzgängerin zwischen Theaterpraxis und Theaterwissenschaft. Sie war keine Wissenschaftlerin, die abgehoben über ihrem Forschungsgegenstand stand und diesen aus der Distanz untersuchte, sondern sie kannte und liebte das, worüber sie forschte, aus eigener Erfahrung. Geesche Wartemann studierte Kulturpädagogik an der Universität Hildesheim. Als Theatermacherin arbeitete sie mit der Gruppe Theater Mahagoni, sie promovierte 2001 im Graduiertenkolleg 'Authentizität als Darstellung' bei Hajo Kurzenberger und war von 2000-2002 Theaterpädagogin am Staatstheater Braunschweig. Von 2003-2009 war sie Juniorprofessorin für Theorie und Praxis des Kinder- und Jugendtheaters an der Universität Hildesheim und übernahm gleich nach ihrer Berufung die Leitung des Instituts für Medien, Theater und Populäre Kultur. Sie war eine der Gründerinnen des niedersächsischen Studiengangs Darstellendes Spiel, zu dessen Leitung sie seit Beginn gehörte und den sie wesentlich mitgestaltete. 2009 folgte sie einem Ruf als Professorin an die Universitetet i Agder nach Kristiansand in Norwegen. Dort war sie an der der Planung und Einführung des interdisziplinären Masterprogramms für Fine Arts maßgeblich beteiligt. „Geesche Wartemann prägte den Dialog zwischen den verschiedenen Disziplinen Bildende Kunst, Musik und Theater. Sie hinterlässt bei den Kolleginnen und Kollegen eine bleibende Erinnerung durch ihr profundes wissenschaftliches Wissen und ihre sanfte – wir würden sagen freundliche – Fähigkeit Kritik zu üben", so Tormod W. Anundsen, Professor an der Universität Adger in Kristiansand. Der Stellenwert des Kinder- und Jugendtheaters war zu dieser Zeit in Norwegen ein ganz anderer als in Deutschland. Die Lehr- und Forschungsbedingungen in Kristiansand waren ideal. Als aber an der Universität Hildesheim die erste Professur für Kinder- und Jugendtheater im deutschsprachigen Raum ausgeschrieben wurde, sah Geesche Wartemann die Chance und Herausforderung dieses Forschungsgebiet auch in Deutschland aufzubauen. Die Möglichkeiten, die die Universität Hildesheim mit der Einrichtung dieser Professur eröffnete, waren ihr Ansporn und Aufgabe, der sie sich nach ihrer Berufung 2011 mit großen Engagement gestellt hat, im Bewusstsein, dass sie als Pionierin oft allein vorweggehen musste, Strukturen und Netzwerke erst aufzubauen waren. Die Verbundenheit mit Norwegen ist geblieben, so übersetzte Geesche Wartemann mit großer Freude Kinder- und Jugendstücke aus dem Norwegischen u.a. für den Verlag der Autoren.

Eine Vorreiterin war sie auch auf anderer Ebene. Ihre Promotion mit dem Titel 'Theater der Erfahrung' (Wartemann 2002) untersuchte Darstellungsweisen nicht-professioneller Darsteller lange bevor der Diskurs um die sogenannten Experten des Alltags in der Theaterwissenschaft allgegenwärtig war. Viele ihrer Forschungsarbeiten waren in dieser Hinsicht ihrer Zeit ein Stück weit voraus – nicht nur in der Frage nach nicht-professionellen Darstellern auf der Bühne, sondern auch in der ethnografischen Beobachtung von Kindern als Publikum, in der Erforschung von Produktionsweisen in theaterpädagogischen Kontexten, im Entwurf einer ästhetischen Praxis der Theatervermittlung. Ihre Forschungen zur Authentizität als Darstellungsform, zum Theater für ein junges Publikum und zur Probenanalyse sind entscheidende Referenzen für die aktuelle Theaterpädagogik geworden. Im Mittelpunkt vieler ihrer Arbeiten standen dabei die Kinder und Jugendlichen selbst, als Zuschauerinnen und Zuschauer oder als Partizipierende in künstlerischen Projekten. Das Modellprojekt „Theater von Anfang an“ – Theater für die Allerkleinsten begleitete sie wissenschaftlich und entwickelte neue methodische Ansätze, in dem sie mit Methoden der Videoethnographie in der Rezeptionsforschung arbeitete. Für sie stellten das Kinder- und Jugendtheater wie auch theaterpädagogische Projekte Produktionsräume dar, in denen die Kinder und Jugendlichen als gleichberechtigte Akteure beteiligt waren.

2008 wurde auf ihre Initiative das ITYARN (International Theatre for Young Audiences Research Network) gegründet, das internationale Forschungsnetzwerk der ASSITEJ, dessen Präsidentin Geesche Wartemann bis zu ihrem Tod war. Sie initiierte ein erstes Vernetzungstreffen in Norwegen und war Mitorganisatorin der Gründungsversammlung in Australien 2008. Auch die weiteren Tagungen und Zusammenkünfte in Großbritannien, Polen, der Türkei, in Deutschland und Südafrika gestaltete sie maßgeblich mit, veröffentlichte Tagungsbände, entwickelte neue Forschungs- und Präsentationsformate. „Ohne Geesche würde es das Forschungsnetzwerk nicht geben und die Forschung im Bereich des Kinder- und Jugendtheaters würde noch in den Kinderschuhen stecken: isoliert, selbst in Zeiten von Google schwer zu finden, und verzweifelt auf der Suche nach Anerkennung", so ihre Mitstreiterin Manon van de Water, Vorstandsmitglied des ITYARN. Ohne Geesche Wartemann wäre auch das Kinder- und Jugendtheater in Deutschland ärmer, weniger sichtbar, isolierter. Neben ihren zahlreichen Veröffentlichungen, Vorträgen und Tagungen wurde sie auch drei Mal von der Bundesjugendministerin in das Kuratorium des Zentrums für Kinder- und Jugendtheater berufen. Seit 2013 war sie dessen stellvertretende Vorsitzende. Sie beschränkte sich aber nicht auf die Forschung und die kulturpolitische Arbeit, sondern gestaltete auch die Theaterpraxis mit: 2005 kuratierte sie das Festival 'Augenblick mal!', das bundesweite Treffen des Theaters für ein junges Publikum. Wie so vieles übernahm sie die Aufgabe voller Freude aber auch mit dem klaren Wunsch, nach neuen Formen und Ästhetiken des Kindertheaters zu suchen.

Seit ihrer Promotion 2001 hat sich das Theater verändert: Theaterpädagogik, Jugendclubs und Bürgerbühnen haben einen neuen Stellenwert bekommen, avancierte ästhetische Formen zeichnen viele Arbeiten des Kinder- und Jugendtheaters aus – nicht selten sind die Macherinnen und Macher dieser Inszenierungen ehemalige Studierende aus Hildesheim. Diese Entwicklung ist auch das Verdienst von Geesche Wartemann, ihrer Forschung, ihrer Vermittlungstätigkeit und nicht zuletzt ihrer universitären Lehre. Ob für Miriam Tscholl, der Leiterin der ersten Bürgerbühne in Dresden, ob für Hannah Biedermann und die Gruppe Pulk Fiktion oder für die Fräulein Wunder AG, für viele war Geesche Wartemann Inspiration, Wegbegleiterin, Reflexionspartnerin. Ihr Einfluss war enorm, ohne immer direkt sichtbar zu sein.

Geesche Wartemann war nicht nur eine engagierte Wissenschaftlerin und Botschafterin für das Kinder- und Jugendtheater, sie war auch eine passionierte Dozentin, die ihre Studierenden für ihre Forschungsthemen begeisterte und sie in ihre Forschungsprojekte einband. Dazu gehörten für sie ebenso Kooperationen mit Hildesheimer Grundschulen oder Kindergärten wie auch gemeinsame Forschungsexkursionen – nach Ghana, Tunesien, Polen oder nach Südafrika, um nur einige Stationen zu nennen. Bei ihr konnte man genaues Sehen und Beschreiben lernen, Neugier für Unbekanntes und vor allem das Hinterfragen von vermeintlichen Gewissheiten.

Wer mit Geesche Wartemann arbeitete, als Kollege und Kollegin, Künstlerin, Künstler oder als Studierender, der traf nicht nur auf eine herausragende Expertin in ihrem Gebiet. Geesche Wartemann war ein besonderer Mensch, herzlich, zugewandt und offen, sanft und energisch zugleich. Sie bestach durch ihren wunderbaren Humor, der sie nie verließ. Mit großem Ernst konnte sie für ihre Überzeugungen kämpfen, auch gegen starre Regelsysteme und Ungerechtigkeiten. Die Universität Hildesheim hat mit ihr eine Wissenschaftlerin und Lehrerin, eine Kollegin und Freundin verloren.

Am 28.03.2019 ist Geesche Wartemann in Berlin an Krebs gestorben. Zwei Jahre lang hat sie sich der Krankheit mit großer Tapferkeit und Entschlossenheit entgegengestellt. Sie hinterlässt ihren Ehemann Uwe Gössel und ihre Tochter Henriette.