Theater ist Kunst und Ereignis. Vor allen Dingen ist Theater aber immer auch eine ästhetische und soziale Praxis, d.h. ein performatives Tun und Machen – und als solches körperlich tradiert, medial bedingt und kulturell verortet. Ein solches ostentatives Schaustellen, das allen theatralen Vorgängen zu Grunde liegt, manifestiert sich in der kulturell kontingenten Anordnung von Aktion und Rezeption, wo Handlungsmöglichkeiten und Wahrnehmungsräume zugleich eröffnet und eingeschränkt werden. Diese lassen sich nicht nur in den Aufführungen des ausspezialisierten Kunsttheaters der Moderne finden, sondern auch in Alltag, Politik, Medien, Einkaufspassagen, Parlamenten und Fernsehsendungen.
Theater ist – mit anderen Worten – nie nur Kunst, immer aber ästhetische Praxis. Und eben diese theatrale Praxis in Gegenwart und Geschichte, im intermedialen und interkulturellen Kontext inspiriert und konstituiert die zentralen Forschungsperspektiven der Hildesheimer Theaterwissenschaft. Neben den bewährten Verfahren der Theatersemiotik, Aufführungsanalyse und Theaterhistoriographie richtet sich das Interesse verstärkt auf die Entwicklung einer praxeologischen Perspektive auf Theater und Theatralität. Einerseits geht es dabei um die Entwicklung neuer Methoden und Verfahren zur Erforschung theatraler Arbeitsformen und Produktionsweisen, andererseits stellt sie die Frage nach der theatralen Praxis selbst als ein epistemisches Verfahren, das künstlerisches Tun als eigenständige Form der Beobachtung und Reflexion begreift.
In Anknüpfung an frühere Forschungen des Instituts zur Kollektiven Kreativität, im interdisziplinären Verbund des Fachbereichs Kulturwissenschaften und des Herder Kollegs für transdisziplinäre Kulturforschung sowie in enger Anbindung an die zeitgenössische Theaterkultur haben sich so vier Forschungsschwerpunkte etabliert:
Seit der Entwicklung schauspieltheoretischer Schriften und Verfahren bezieht sich das theoretische Interesse an Schauspielkunst in erster Linie auf professionelle Schauspieler, die eine Ausbildung haben und ihren Beruf zu Erwerbszwecken ausüben. Die Tatsache, dass nicht professionelle Darsteller seit 2500 Jahren immer wieder zum Träger des Theaters in Europa werden konnten, wird dabei häufig unterschlagen. Erst in jüngster Zeit hat das Interesse, das professionelle Performance Künstler und Theatermacher an nicht ausgebildeten Darstellern zeigen (z.B. Rimini Protokoll), Aufmerksamkeit für die Vielfalt des nicht professionellen Theaters und die Praktiken und Verfahren der sog. Experten geweckt. Nicht selten finden soziale Gruppen dabei unter professioneller Anleitung eigene theatrale Ausdrucksweisen, welche zur professionellen Schauspielkunst nicht in Konkurrenz treten, sondern diese um eigenwillige Facetten erweitern.
Der Auftritt dieser Truppen, die pure Präsentation von Körpern und Persönlichkeiten, wirkt oft penetrant und mitunter peinlich, er vermag das Publikum aber dennoch in den Bann zu schlagen. Gerade in Zeiten, in denen der Schauspielstil in tradierten Konventionen und Normierungen zu erstarren drohte, konnten die mitunter belächelten Auftritte von Laien und Halbprofis wesentliche Impulse für die Innovation neuer Spielstile liefern. Da ungebildete Körper auf der Bühne also auch eine Provokation neuer Darstellungsweisen sein können, wurden wichtige Phasen des Theaters immer auch durch Dilettanten mitgeprägt.
Zu revidieren ist die Ansicht, dass Laien auf der Bühne im Prinzip dasselbe machen wie Profis, nur eben nicht über die notwendigen (technischen) Mittel verfügen und so bestenfalls charmant scheitern können. Vielmehr sollte auch umgekehrt bedacht werden, dass Laien den Profis womöglich etwas voraus haben. Dass man auf der Schauspielschule bestimmte Techniken erlernt, könnte nämlich damit einhergehen, dass man andere Fähigkeiten dabei verlernt oder sie sich abtrainieren muss. Was können Laien oder worüber verfügen sie, was Profis nicht oder nicht mehr zu Gebote steht?
Das Monopol der Schauspieler ist in den letzten Jahren aufgeweicht. Und damit auch die Grenzen zwischen denen die oben stehen und denen die Schauen dürfen. Spielweisen sind zunehmend mannigfaltig und vielfältig geworden und stellen neue Herausforderungen für Begriffe und Methoden bereit. Während in den letzten Jahren vor allem die historische und systematische Erschließung der Schauspieltheorien die theaterwissenschaftliche Forschungslandschaft geprägt hat, gerät zunehmend die bis dato weitgehend unbeleuchtet gebliebene Praxis der Theaterkunst ins Zentrum des Interesses. Denn die konkreten Praktiken, die in Schauspielschulen und an Theatern meist im persönlichen Kontakt und in der unmittelbaren Aufführungspraxis weitergegeben, erprobt und erlernt werden, sind der Theaterwissenschaft bisher verschlossen geblieben.
Der Forschungsschwerpunkt Spielarten und Darstellungsformen untersucht diese mannigfaltigen darstellerischen Formen als Praktiken, d.h. als tradierte und habitualisierte Prozesse, die sich in einem impliziten und verkörperten Wissen manifestieren. Hier werden gerade jene untersucht, die bisher nicht immer im Mittelpunkt des Interesses gestanden haben: Auflösungs- und Übergangserscheinungen, nicht professionelle Darsteller auf dem Theater, Inszenierungen von Politikern oder Darstellungsformen im Internet. Neben historischen und aufführungsanalytischen Methoden wird dabei auch Ausschau nach experimentellen und empirischen Verfahren der Analyse theatraler Praktiken gehalten. Ziel des Schwerpunktes ist es, das praktische Wissen der performativen Künste zu analysieren und zu systematisieren, um es der Theoriebildung zu erschließen.
Im Rahmen des Forschungsschwerpunktes fanden 2010 die Tagung Nicht hier, nicht jetzt – Das Theater als Zeitmaschine und die Geste des Reenactments und 2012 die Tagung Auftritte in Zeit und Raum (Konzeption und Organisation Prof. Dr. Jens Roselt und Prof. Dr. Annemarie Matzke) statt.
Ein Auftritt im Internet ist so alltäglich wie unmöglich. Einerseits scheint die Präsenz im Netz mit derjenigen auf der Bühne kaum vergleichbar zu sein, andererseits nehmen die Diskurse, die von Theater und Theatralität im Internet berichten, kein Ende. Phänomene wie Videoblogs, soziale Netzwerke und virtuelle Welten greifen unentwegt auf das Vokabular des Theaters zurück, und scheinen gleichzeitig Zeugen eines radikalen Wandels der Darstellungskultur zu sein. – Wie aber lässt sich jenes digitale Theatrale, das den audiovisuellen Sendungen längst den Rang abgelaufen hat, auf den Begriff bringen, ohne im historischen Kurzschluss den Computer schlicht zum Theater und das Internet zur Weltbühne zu erklären?
Anknüpfend an kulturwissenschaftliche und theaterhistoriographische Konzepte entwickelt das Projekt einen Theaterbegriff, der sich vom Auftritt statt von der Aufführung ableitet, und eine komparatistische Perspektive auf die theatralen Praktiken der neuen Medien eröffnet. Ausgehend von detaillierten Analysen von Auftritten und Gestalten in Chatrooms und Computerspielen, in Videoblogs und auf Homepages werden die Genealogien der zu Grunde liegenden theatralen Praktiken und Diskurse verfolgt. Von den Gerüchten über ein Theater im Internet und den apparativen Versuchsanordnungen der interaktiven Kunst, über die theatralen Manifestationen der Computerspiele und die Verkörperung von Spielfiguren im Cosplay bis hin zu den personalisierten Profilen der sozialen Netzwerke verfolgt das Projekt die historische Vertracktheit von Theaterkultur und digitalen Medien: Wie verändern sich ostentative und figurative Praktiken in einer Kultur, die von den neuen Medien und ihrer Ökonomie geprägt ist, und was lässt sich aus den Verschiebungen dieser Praktiken und Diskurse über den theatralen Haushalt der Informationsgesellschaft schließen?
Theater ist eine Zeitmaschine, durch die Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft in eigentümlicher Weise miteinander in Beziehung treten. Als Aufführung ist Theater an die Gegenwart des aktuellen Erlebens gebunden, zugleich verhandelt Theater Stoffe, Themen, Texte und Formate, die auf ein jahrhundertealtes Wissen und eine weit verzweigte Praxis verweisen, deren aktuelle Transformationen immer auch das Theater der Zukunft hervorbringen. Seit der Jahrtausendwende gerät eine szenische Praxis in den Blickpunkt, die das Theater als Zeitmaschine neu verortet: das Reenactment.
Im Unterschied zur Tradition des Regietheaters scheinen Reenactments dabei nicht mit der Geste des Aneignens, Neu-Interpretierens oder Umsetzens zu handeln. Reenactments stellen Geschichte nach, statt sie darzustellen, und zwar möglichst vor Ort, historisch korrekt und detailgetreu. Im Gegensatz zum Remake, dass eine neue Variation eines älteren Stoffes liefert, oder der Neuinzenierung, die nach einer zeitgenössischen Entsprechung trachtet, versuchen Reenactments das Vergangene nicht zu aktualisieren, sondern zu revitalisieren. Statt neuen Stücken, frischen Lesarten und unverbrauchten Regisseuren, zelebrieren sie gerade das Gewesene. Die Wurzeln des Reenactments lassen sich dabei in die historistische Vereinskultur und der spektakulären Reinszenierung von Kriegsgeschehen im 19. Jahrhundert zurückverfolgen.
Aber auch jenseits dieser dominanten Linien lassen sich immer wieder Praktiken und Logiken des Reenactment aufspüren, die es möglich machen, noch einmal oder endlich einmal zu erleben, was eigentlich schon vergangen ist: Ein historistischer und zugleich animistischer Umgang mit Geschichte, der ein parasitäres Verhältnis zu den Bildern eingeht und theatrale Darstellung als teilnehmendes Rekonstruieren praktiziert. Ausgehend von diesem Befund initiiert das Projekt eine disziplinübergreifende und komparatistische Untersuchung der Praktiken des Reenactments im Schnittfeld von kultureller Erinnerung, ästhetischer Erfahrung und medialen Verfahren. Im Mittelpunkt dieser bislang noch ausstehenden Zusammenführung von Ergebnissen aus Kunstdiskurs, Medienforschung und Geschichtswissenschaft soll der Blick auf das Reenactment als einer historisch und kulturell spezifischen ästhetischen Geste und szenischen Praxis stehen.
In Bezug auf das Theater als Institution und Kunstform war durch die Jahrhunderte hindurch immer wieder die Rede von Prostitution. Warum steht das Theater im Verruf der Prostitution? Angeprangert wurden die Sittenlosigkeit der Theaterleute und ihr vermeintlich promiskuitives Zusammenleben. Direktoren wurden als „Zuhälter im Hausvaterrock“ beschimpft und Schauspielerinnen als „Theaternutten“, die sich ihr Engagement mittels ihrer körperlichen Reize beschafften. Überhaupt waren die Erotik der Schauspielerin oder die Darstellungen des männlichen Frauendarstellers ein Dorn in den Augen der Kritiker. Aber auch die Schaulust des Zuschauers erschien verwerflich und sein Vergnügen einem Sexualakt gleichgestellt.
Der Prostitutionsdiskurs fungiert dabei als ein Ersatzdiskurs, über den Ein- und Ausgrenzungen stattfinden, bestimmt werden soll, was (nicht) ins Theater gehört. Um 1900 kommt es durch die historisch virulenten Auseinandersetzungen um Sexualität und Ökonomie zu einer Verdichtung des Prostitutionsdiskurses, der auf die Verhandlungen und Projektionen des Theaters einwirkt. Die Dichotomie von ‚wahrhaftiger‘ Künstlerin versus exhibitionistischer Dirne, die Kalkulation erotischer Wirkung im Aufführungsgeschehen sowie Theater als Geschäft sind Topoi der Theaterprostitution.
Anfang des 21. Jahrhunderts greifen Künstlerinnen und Künstler wie She She Pop und Jochen Roller die Metapher der Prostitution in ihren Aufführungen wieder auf, um damit Kritik an der Produktion von Marktwerten des Schauspielers, der Schauspielerin im Betrieb des Theaters zu leisten und die Aufführungssituation als ökonomisches, machtpolitisches und sexuelles Tauschverhältnis zwischen Publikum und Agierenden zu reflektieren. Das Forschungsprojekt geht dabei den folgenden Fragen nach: Welche Verhandlungen über das Theater werden über den Begriff der Prostitution geführt? Welche Geschlechterbilder von Theaterarbeiter_innen werden entworfen? Und wie zirkuliert im Theater als Arbeits- und Aufführungssituation eine Ökonomie des Begehrens?
Prozesse des künstlerischen Produzierens bringen eigene Formen des Wissens hervor. In künstlerischen Arbeitsprozessen werden spezifische und individuelle Problemstellungen formuliert, für die je eigene Lösungen generiert werden. Diese gehen oft über das bereits Denkbare hinaus und werden wiederum selbst diskursiv reflektiert zu eigenen Theorien des künstlerischen Produzierens. Im Entwerfen, Proben, Konzipieren, Skizzieren, Überarbeiten, Korrigieren wird künstlerisches Gestalten als Kulturtechnik verstanden, die in ihrer historischen Verfasstheit erforscht wird. Formen des Probens und Hervorbringens von Inszenierungen – jenseits der konkreten Aufführung – sind in der theaterwissenschaftlichen Forschung der letzten Jahre allerdings kaum beachtet worden. Mit der Kritik an einer Produktionsästhetik, die auf eine Ermittlung von Intentionen und Wirkungsabsichten zielt, rückte die Erforschung des kreativen Prozesses selbst aus dem Fokus des wissenschaftlichen Interesses.
Hier nimmt das Forschungsprojekt, ausgehend von den Erkenntnissen der jüngeren Forschung zur Performativität kultureller Prozesse, eine Neuausrichtung vor: Es wird nicht mehr nach dem Künstler-Subjekt als Urheber und Initiator wird gefragt. Vielmehr rücken die Prozesse des Herstellens und Hervorbringens in den Fokus – die Techniken, Methoden und Verfahren des künstlerischen Prozesses, die sich einer intentionalen Ausrichtung des Tuns entziehen. Die Probe wird als eigene Form der Inszenierung künstlerischer Praxis erforscht.
Im Rahmen des Forschungsschwerpunktes fanden 2009 die Tagungen Theater probieren – Probenprozesse im Theater mit Kindern und jungen Erwachsenen und Chaos und Konzept. Poetiken des Probierens im Theater statt.
In Kooperation mit der Sammlung Inszenierungsdokumentationen im Archiv der Akademie der Künste Berlin
Theatrale Probenprozesse sind eine komplexe künstlerische Praxisform. Als szenische Praxis zeichnen sie sich im besonderen durch Performativität, Prozessualität und Kollektivität aus. In diesem Sinne will das Forschungsprojekt „Probenprozessforschung“ Probenverfahren selbst als Inszenierungen von kollektiven Arbeitszusammenhängen untersuchen. Ziel ist die Analyse von Probenprozessen und die Entwicklung und Systematisierung von Methoden zur Dokumentation theatraler Arbeitsprozesse. Mit Hilfe der Reflexion und Weiterentwicklung ethnographischer und aufführungsanalytischer Methoden soll eine produktionsästhetische Perspektive der Theaterwissenschaft sowohl aus der Gegenwart als auch aus historischer Sicht formuliert werden. In den Blick rücken damit Verfahren und Techniken des Probens wie auch auf das Entwerfen und Institutionalisieren von Arbeitszusammenhängen.
Das Forschungsprojekt ist dabei in drei Bereiche gegliedert: 1. Methodische Verfahren der Probenbeobachtung und Probenanalyse; 2. Techniken und Verfahren des Probens als epistemische Praxis, die an der Generierung wie Standardisierung von Wissen arbeitet, 3. Formen der Aufzeichnung und Dokumentation von Probenprozessen. In der Kooperation mit der Sammlung Inszenierungsdokumentationen im Archiv der Akademie der Künste Berlin, gewinnt das Forschungsprojekt die Möglichkeit der Untersuchung der Probe im historischen Zusammenhang. Des Weiteren ist eine Theaterbühne als Labor für die Inszenierung von Theaterprojekten nötig, um konkrete Arbeitsweisen in der Praxis zu erforschen, sie zu reflektieren und Dokumentationsformen zu entwickeln. Dabei sollen Verfahren der Probenbeobachtung entwickelt werden. Der doppelte Blick auf die Probe – in der Auseinandersetzung mit historischen Modellen der Probenbeobachtung und der Dokumentation und Analyse gegenwärtiger Inszenierungen – zielt auf eine produktionsästhetische Perspektive, welche die Frage nach den jeweiligen historischen Bedingungen des Produzierens von Theater stellt und so erlaubt die gegenwärtige Theaterpraxis vor ihrem historischen Horizont zu untersuchen und zu analysieren.
Im Forschungsfeld theatraler Probenprozesse ist die Theaterübung ein noch weitgehend unbekanntes Terrain. In erster Linie gelten Übungen als pragmatische Handhabungen kreativer Prozesse, die in erster Linie vom Ergebnis her zu verstehen sind. In diesem Sinne sind Theaterübungen fester Bestandteil der Ausbildung für Schauspiel, Tanz und Performance. Neben dem Training schauspieltechnischer Grundfertigkeiten, wie z.B. der Sprecherziehung, gibt es Übungspraktiken, die man als Anthropotechniken bezeichnen könnte. So finden sich beispielsweise bei Konstantin Stanislawski Texte für die Schauspielerausbildung, die auf die Arbeit des Schauspielers an sich selbst abzielen.
Nicht primär Rolle und Figur stehen im Zentrum dieser Ausbildungspraxis. Als eigenwilliges inszenatorisches Material muss der Mensch auch an sich selbst arbeiten, um für die Bühne präpariert zu sein. Durch die dem Theater eigentümlichen Verdopplungen, in denen der Schauspielerkörper gleichzeitig als phänomenaler Leib und semiotischer Körper gedacht werden muss, entsteht ein Spannungsfeld, das für die anthropologische Seite nicht ohne Konsequenzen bleibt. Ins Zentrum rückt damit die Frage, was bzw. wer mit dem “Selbst” eigentlich gemeint ist, an dem laut Stanislawski gearbeitet werden soll.
So versteht sich, dass das Theater von einer gefährlichen Kunst, die Subjekte von sich selbst entfremden kann, zu einer Selbstverwirklichungstechnik avancieren konnte. In der theaterpädagogischen Praxis kann deshalb sogar auf Inszenierungen und Aufführungen im herkömmlichen Sinn verzichtet werden. Die positiven selbstverändernden Kräfte des Theaters werden bereits im Trainingsstadium wirksam. – Das Projekt untersucht daher, wie sich solche theater(pädagogischen) Übungspraktiken als Verfahren der Selbstkonstitution denken und durchführen lassen. Neben einer diskursanalytischen Untersuchung der jeweiligen Subjektbegriffe in den entsprechenden schauspielprogrammatischen Schriften und Texten der theaterpädagogischen Praxis, ist es notwendig, den Kanon der übenden Theaterpraktiken auf seine subjektrelevanten Effekte hin zu erforschen.
Gefördert von der Volkswagen-Stiftung im Rahmen des Dilthey-Fellowships
Als 1849 bei der Uraufführung von Meyerbeers „Le prophète“ in der Pariser Oper die Sonne aufgeht, tritt nicht nur erstmals der elektrische Strom als ästhetisches Mittel auf, sondern es ist auch das erste Mal, dass das noch nicht lange erfundene Bogenlicht eine bezahlte Anwendung gefunden hat. Zwei Jahre vor der ersten Londoner Weltausstellung verhelfen Theater und Technik sich gegenseitig zum Erfolg und provozieren die Frage, wie diese Konjunktion in der Mitte des 19. Jahrhunderts zustande kam und was aus ihr folgte: Wie wirken Ästhetik und Technik in der Theaterpraxis zusammen und welchen Wandel durchläuft das Theater durch die Elektrizität? – Anhand der Elektrifizierung des Theaters untersucht das Projekt die Veränderungen theatraler Praxis im Wechselspiel von technologischer Entwicklung und ästhetischem Programm und verortet diese in der Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts.
Dabei stellt sich die Elektrifizierung des Theaters als ein komplexer Prozess heraus, der paradoxerweise erstmals den Realismus der bürgerlichen Theaterreformer möglich macht, indem er mit dem verzerrenden Licht von Fußrampe, Öl und Gas aufräumt – im gleichen Moment aber die Avantgarden auf den Plan ruft, die mit den Idealen des bürgerlichen Theaters radikal brechen. Darüber hinaus führt die Elektrifizierung zu einem grundlegenden Wandel dessen, wie Theater gemacht wird und was Theater ist, und steht in engster Verbindung mit der künstlichen Beleuchtung der Lichtspiele und des Nachtlebens der metropolitanen Kultur des 19. Jahrhunderts. – Nicht die ästhetischen Artefakte oder technischen Innovationen sollen daher im Fokus der Untersuchung stehen, sondern die praktischen Transformationen und diskursiven Zurichtungen von Auftrittsweisen, Arbeitsabläufen und Betriebsformen.
Theoretischer und methodologischer Ausgangspunkt ist einerseits eine praxeologische Perspektive auf kulturelle Prozesse, andererseits ein relationaler Theatralitätsbegriff, der Theatergeschichte als Kulturgeschichte in der Aspektierung aufs Ostentative versteht. Damit adressiert das Projekt den in den Kunstwissenschaften meist vernachlässigten Aspekt der technischen Bedingtheit ästhetischer Prozesse, ohne dabei jedoch die Ästhetik als Effekt der Technik zu entmündigen, indem es der historisch gewachsenen Vertracktheit technischer und ästhetischen Praktiken nachspürt.
Der Forschungsschwerpunkt legt das Untersuchungsinteresse auf Begegnungen von Kindern und Jugendlichen mit ästhetischen Verfahren zeitgenössischen Theaters und der Performancekunst. Vor dem Hintergrund einer wachsenden Zahl künstlerisch ambitionierter Theaterproduktionen für junge Zuschauer einerseits und der andererseits nahezu fehlenden Reflexion und Vermittlung der Kunstform Theater im deutschen Schulsystem, zielt dieses Projekt darauf, Rezeptionsprozesse junger Zuschauer, Modelle der Rahmung von Aufführungen an den institutionalisierten Theatern sowie Aneignungen postdramatischer Verfahren von Kindern und Jugendlichen im eigenen Spiel zu erforschen.
Die Aufgabe und Herausforderung von Rezeptionsforschung besteht zum einen darin, Aufführungen als Wechselspiel zwischen Bühne und Zuschauerraum zu beschreiben. Was genau machen Kinder in einer Aufführung? Zum anderen fragt das Projekt nach Rezeptionsvoraussetzungen und Rezeptionsbedürfnissen, die junge Zuschauer ins Theater mitbringen. Die theaterwissenschaftlich fundierte Rezeptionsforschung zielt dabei nicht primär darauf, die Erfahrungen und möglichen Wirkungen des Theater auf die Kinder zu beschreiben. Sie versteht sich vielmehr als Untersuchung von Aufführungen, die nur im Zusammenspiel mit ihren Zuschauern entstehen. Das Projekt schließt an die kameraethnographische Studie „Wechselspiele im Experimentierfeld Kindertheater“ (2009) an.
Die Heterogenität der Spielweisen und Darstellungsformen im zeitgenössischen Theater und die Diversität heutiger Theaterpublika fordert eine immer wieder neu zu leistende Reflexion und Vermittlung von Spielvereinbarungen. Im deutschen Theatersystem hat sich im Zuge der letzten 20 Jahre das Praxisfeld Theaterpädagogik entwickelt, dessen Aktivitäten dazu beizutragen sollen, Zuschauern – insbesondere Kindern und Jugendlichen – eine neue Souveränität als ‚co-creators’ (Kattwinkel) des Theaters zu eröffnen. Eine Reflexion der impliziten theatertheoretischen Prämissen dieser Vermittlungspraxis hat bisher allerdings ebenso wenig stattgefunden, wie eine systematische Beschreibung der vorhandenen Formate und ihrer spezifischen Vermittlungsleistung. Anhand ausgewählter Beispiele werden insbesondere handlungsorientierte Ansätze theaterpädagogischer Vermittlung untersucht, die eine Aneignung postdramatischer Verfahren im eigenen Spiel von Kindern und Jugendlichen initiieren.
Der Hildesheimer Forschungsschwerpunkt Forschende Theaterpraxis geht von der Annahme aus, dass in Prozessen des künstlerischen Produzierens unterschiedliche Formen des Wissens angewendet und transformiert oder hervorgebracht werden, die in Körperpraktiken, Arbeitstechniken und ästhetischen Verfahren zum Ausdruck kommen. Jede Art von Theaterarbeit ist demnach sowohl durch theoriegeleitete als auch durch praxisorientierte Prozeduren gekennzeichnet, deren spezifisches Verhältnis in Probenprozessen kenntlich wird. Im Gegensatz zu neueren Ansätzen der „künstlerischen Forschung“, „Kunst als Forschung“ oder „practice as research“ gehen wir hingegen nicht davon aus, dass jedes künstlerische Tun als Forschung zu begreifen ist. Wir verstehen die künstlerische Praxis vielmehr als ein Untersuchungsfeld, das Wissen generiert und reflektiert. Wir suchen nicht nach einer Formel für die Entgrenzung von Theorie und Praxis, sondern entwickeln Modelle für den Zwischenraum oder das Wechselverhältnis von ‚knowing how‘ und ‚knowing that‘ (Gilbert Ryle). Die wissenschaftliche Aufmerksamkeit richtet sich damit auf die Gesten zwischen Theorie und Praxis sowie deren historische Dimensionen und strukturelle Voraussetzungen.
Die Forschende Theaterpraxis in Hildesheim legt ihren Schwerpunkt auf die wissenschaftliche Untersuchung der Probe im Theater, die ein Desiderat der Theaterwissenschaft ist. Unsere Prämisse lautet: Die Art und Weise, wie Theater gemacht wird, hat entscheidenden Einfluss darauf, was für ein Theater dabei entsteht. Das Forschungsfeld wird in fünf Richtungen entwickelt:
Theorie der Probe: Die Theaterprobe wird als Modell für kreative Prozesse, die sich kollektiv und ereignishaft vollziehen, reflektiert.
Analyse von Proben: Es werden Verfahren der Probenprozessforschung entwickelt. Hierzu zählen Methoden der (teilnehmenden) Probenbeobachtung und der Probendokumentation.
Historiographie der Probe: Mit der Probe wird ein bisher weitgehend unbeachtet gebliebenes Kapitel der Theatergeschichte systematisch aufgearbeitet. Dabei werden die historischen Voraussetzungen und strukturellen Bedingungen von Theaterarbeit ermittelt und untersucht.
Diskursivierung von Proben: Die Thematisierung und Auseinandersetzung mit Probenprozessen in anderen Medien (Filme, Romane usw.) sowie die selbstreflexive Darstellung von Probenprozessen in Dramen oder Theaterinszenierungen soll Aufschluss darüber geben, durch welche Perspektiven Proben in den Blick geraten können und wie dieser medial organisiert ist.
Didaktik der Probe: Im Rahmen der Forschenden Theaterpraxis ist die Initiierung von Probenprozessen ein integraler Bestandteil der universitären Lehre. Hierzu werden entsprechende Lehrformate (Einzelprojekte, Projektsemester, Übungen) angewendet und weiterentwickelt. Unter Einbezug von Praktikern (künstlerische Gastprofessur) wird eine produktionsästhetische Perspektive eingenommen, um im Theaterlaboratorium (Burgtheater und zwei Probenbühnen) theatrale Praktiken und Verfahren experimentell zu erforschen.
Ziel des Forschungsschwerpunkts ist es schließlich, die unterschiedlichen Wissensformen der performativen Künste zu analysieren und zu systematisieren, um sie der Theoriebildung zu erschließen.