IN SITU: Innovationskraft der Kultur- und Kreativwirtschaft ländlicher Räume erforschen

Das Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim beteiligt sich am europaweiten Forschungsprojekt IN SITU, das die Bedarfe und Potentiale von Kulturarbeit in ländlichen Räumen und der Kreativwirtschaft ermitteln und verstehen lernen möchte. Gefördert wird das Projekt IN SITU durch die EU im Programm Horizon Europe.

Als einer von dreizehn Partner:innen forscht die Universität Hildesheim im Projekt IN SITU nach innovativen Strategien und Systemen zur Unterstützung der Kreativ- und Kulturindustrie. Das Forschungsprojekt ist angelegt auf eine Dauer von vier Jahren und wird finanziert durch die Europäische Kommission im Rahmen von Horizon Europe, dem europäischen Rahmenprogramm für Forschung und Innovation.


Zahlreiche Studien und Förderprogramme verdeutlichen die wachsende Sichtbarkeit die Kultur in ländlichen Räumen in den vergangenen Jahren zu Teil wurde. Dennoch fehlen besonders im internationalen Vergleich Erkenntnisse über kulturpolitische Strategien und ein Überblick über die Vielfalt kultureller Praxis. Denn Kultur in ländlichen Räumen kann jegliche Gestalt annehmen und existiert in Form von unterschiedlichsten Genres, Themen und Formaten. Was im Umfeld der Metropolen zu finden ist, lässt sich auch in ländlichen Räumen feststellen – „nur existiert nicht überall das Gleiche und nicht in gleicher Dichte“ (Kegler, Walther 2023: 7). Zudem hängen kulturelle Infrastrukturen ländlicher Räume stark von einzelnen Akteur:innen und historischen, teils ortsspezifischen, Entwicklungen ab (Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft 2015: 34).
Das Forschungsprojekt In Situ befragt gezielt die Verbindung verschiedener Sektoren zueinander und forscht dabei nach unterschiedlichen Ansätzen der Kulturpolitik mit dem Zeil herauszufinden, welche Gestalt Kulturpolitik annehmen und welche Wirkung sie dadurch entfalten kann. Dabei erhofft sich IN SITU Rückschlüsse über innovative Strategien und funktionierenden Unterstützungsstrategien für die Kreativ- und Kulturindustrie ländlicher Räume. Mit diesem Ziel werden über den Projektzeitraum von vier Jahren hinweg Partner:innen aus der Kultur- und Kreativwirtschaft sechs verschiedener ländlicher Regionen begleitet und dadurch Praxis und Forschung durch lokale Labs miteinander verknüpft. Die Labs finden in den Forschungsgebieten Portugal, Irland, Island, Finnland, Lettland und Kroatien statt und sollen mittels partizipativer Prozesse Bedürfnisse und Potentiale der Kultur- und Kreativwirtschaft aufzeigen.

Neben der Universität Hildesheim wird das Forschungsvorhaben von einer Reihe weiterer Partner:innen begleitet: Culture Action Europe; DigitalMeetsCulture; EMES – International Research Network; Creative Scotland; United Cities and Local Governments - Committee on Culture; Cultural Development Network (Australien); Creative City Network of Canada; SPARC: Supporting Performing Arts in Rural and Remote Communities (Kanada); und STAND - Sustaining Theatre and Dance Foundation (Südafrika).

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Literaturverzeichnis

Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hrsg.) (2015): Förderpotenziale für die kulturelle Infrastruktur sowie für kulturelle Aktivitäten im ländlichen Raum. Eine Bestandsaufnahme, Bonn. Online abrufbar unter: www.kupoge.de/download/Studie_laendliche-kulturarbeit.pdf, Zugriff: 23.03.2023.

Kegler, Beate/Walther, Helena (geplante Veröffentlichung: 27. September 2023): Expeditionen zum Mittelpunkt. Vom Forschen auf dem Land. Über die Notwendigkeit partizipativer Methoden in der Kulturpolitikforschung. In: Landschaft – Performance – Teilhabe. Ländliche Räume in kultureller Bildung und künstlerischer Praxis.

 

 

Forschungsgebiet Finnland, 2023: Innovative Kulturpolitik für europäische Küstenregionen oder die Frage der queeren Vogelscheuchen

Innovative Kulturpolitik für europäische Küstenregionen oder die Frage der queeren Vogelscheuchen

Eine halbe Stunde lang fahren wir durch Kiefernwälder und kleine Dörfer, begegnen jedoch keinem Menschen. Es ist Anfang Juni – Mittsommer ist nicht fern – abends um halb acht noch gleißend hell, doch zieht es niemanden nach draußen. Wir biegen um die Kurve und erschrecken. Auf einmal stehen dutzende Menschen vor uns auf einer Wiese.

Es sind Vogelscheuchen, groß und klein, die von den Bewohner*innen aus Kodiksami je nach Witterung eingekleidet werden. Jede*r hier hat eine Spiegelscheuche auf der Wiese, ein ITE-Kunstprojekt, das kollektives Handeln erfordert und Gemeinschaft repräsentiert, auch wenn alle in ihren Häuschen verkrochen sind.

Der Ort liegt in Finnland, einige Kilometer entfernt von Rauma, einer kleinen Stadt an der Ostseeküste. Wir sind dort, weil unser EU-Horizont-2020-Forschungsprojekt „IN SITU: Place based innovation of cultural and creative industries in non urban areas“ ländliche Räume in Küstenregionen Europas erforscht und kulturpolitische Strategien entwickelt.

Auf den ersten Blick erscheinen diese Räume für junge Menschen nicht attraktiv. Sie liegen fern ab von Ballungszentren, wenig berufliche Perspektiven, Kulturangebote rar gesät. Auf den zweiten Blick aber doch. Die Uhr schlägt langsamer, nachhaltiges Leben scheint möglicher und die Küste suggeriert mit der Weite des Meers eine internationale Verbundenheit.

Das Forschungsprojekt IN SITU bringt diese Schätze zum Vorschein, jedoch nicht mit dem üblichen europäischen Gebaren, welches gern den großen Bagger einsetzt, um Räume nach gängigen Mustern zu formen. Vielmehr forscht das Team gemeinsam mit Künstler*innen und Kulturschaffenden vor Ort: Welche Ideen haben sie? Wie lassen sich kulturelle Traditionen mit innovativen Impulsen verknüpfen? Welchen Beitrag kann Kultur leisten, damit Menschen bleiben, hin- oder zurückkommen wollen und Arbeitsperspektiven im Kultursektor haben? Auf welche Art und Weise kann Kunst der Vielfalt von alteingesessenen und jüngst zugezogen Mitbürger*innen begegnen? Wie werden Reisende und Tourist*innen angelockt ohne Bettenburgen zu fördern und die lokale Struktur zu zerstören?

Das Team mit Künstler*innen, Kultur-, Sozial- und Kunstwissenschaftler*innen aus Portugal, Spanien, Kroatien, Finnland, Island, Belgien, Frankreich, Lettland und Irland erschließen sich dies Pfade auf transdisziplinärer Weise. Welche lokalen Perspektiven werden sichtbar? Welche Europäischen Rahmungen könnten angewendet und angepasst werden? In Finnland stand zunächst die Frage im Mittelpunkt, welche kulturellen Annahmen und soziologischen Konzepte überhaupt gelten können. Wissenschaftliche Disziplinen tun sich häufig sehr schwer, sich lokalen Begebenheiten anzupassen, denn die Mühlen der Akademien lassen meist wenig Spielraum für langsame und behutsame Recherchen im Feld. Das gemeinsame Ausloten, das Zeit und Geduld kostest, scheint jedoch unumgänglich. Bei einem früheren Treffen auf den Azoren stellte sich auch uns diese Herausforderung vorgefertigter Annahmen und Muster wie beispielsweise anhand unterschiedlicher Konzepte von Queerness, für uns eine Selbstverständlichkeit, haben nicht überall in Europa die gleiche Priorität. So versuchten wir beim zweiten Treffen in Finnland mit unseren Kolleg*innen zunächst Genderbilder gegenseitig zu skizzieren, die Annahmen dahinter zu erläutern und gemeinsam zu befragen. All das sind Schritte der Aushandlung und Verhandlung, die nicht nur die Idee von Europa, sondern den Wandel in ländlichen Räumen betrifft.

In den nächsten Monaten werden wir die lokalen Kulturpolitiken der Länder und Regionen analysieren. Sie sind höchst unterschiedlich, setzen bestimmte Schwerpunkte und lassen so auch manche Projekte und Ideen durchs Raster fallen. Oft – so ein erster Eindruck – sind Kulturschaffende und Kulturpolitiker*innen sich nicht grün, reden einander vorbei oder nehmen sich nicht als Partner*innen wahr. Hier sehen wir mit dem Projekt eine Chance, wenn es gelingt, Kulturideen nicht nur gemeinschaftlich zu entwickeln, sondern die Kulturpolitik*innen ebenfalls in die künstlerischen und kulturellen Prozesse zu integrieren, um aus dieser Warte aus Entscheidungen zu treffen.

Die Vogelscheuchen haben uns drei Forschungstourist*innen ohne weiteres integriert und der oder die Bürgermeister*in des Dorfes und die Mitglieder des örtlichen Kunstvereins werden auch unter ihnen sein. Welche von Ihnen queer war, wissen wir nicht, denn auch wir hatten zu wenig Zeit, mit den Menschen zu sprechen, die Aufgaben in Hildesheim warten.

Julius Heinicke, Beate Kegler, Helena Walther