Rehabilitationspsychologie

Seit dem Jahr 2000 haben die Fehltage wegen psychischer Erkrankungen um mehr als 80% zugenommen. Während die Anzahl der Fehltage vor 20 Jahren noch auf dem gleichen Niveau waren wie die durch Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems verursachten Arbeitsunfähigkeitstage, beobachten wir lediglich bei den psychischen Erkrankungen eine derartig extreme Zunahme. So zeigen Krankenkassenstatistiken, dass das Vorliegen einer psychischen Erkrankung die Zahl der Ausfalltage vervielfacht. Auch bei den Berentungszahlen wegen Erwerbsminderung haben psychische Erkrankungen inzwischen eine herausgehobene Bedeutung. Die jährlichen Neuzugänge in die Erwerbsminderungsrente haben sich seit der Jahrtausendwende nahezu verdoppelt. Im gleichen Zeitraum hat sich die Quote für Erwerbsminderungsrenten aufgrund einer Muskel-Skelett-Erkrankung halbiert.  Auch wenn eine Erwerbsminderung grundsätzlich befristet ist, kehren nur etwa 6% ins Erwerbsleben zurück.

Ein Regionalträger der Deutschen Rentenversicherung berentet jährlich etwa 3500 neue Renten wegen psychischer Erkrankungen. Das Durchschnittsalter liegt bei 51 Jahren. Abzüglich der Betroffenen, die ins Erwerbsleben zurückkehren, verursacht ein Jahrgang also bis zur Erreichung der Altersgrenze von 67 Jahren Kosten für die Rentenzahlungen von knapp 600 Mio. Euro. Pro Jahr kommen im gesamten Bundesgebiet zwischen 60.000 und 70.000 Menschen zum bereits bestehenden Erwerbsminderungsrentenbestand wegen einer psychischen Erkrankung hinzu.  

Das gegliederte Sozialsystem in Deutschland unterscheidet in der Versorgung erkrankter Menschen zwischen der Krankenbehandlung (SGB V) und der Leistungen zur medizinischen und beruflichen Rehabilitation (SGB VI).

Während sich die Krankenbehandlung im Wesentlichen um die Versorgung und Behandlung von akuten Erkrankungen mit dem Ziel der Heilung und Genesung bemüht, ist das Ziel der Rehabilitation, Krankheitsfolgen auf das soziale und berufliche Leben zu mindern oder zu beseitigen und damit die gleichberechtigte Aktivität und Teilhabe chronisch erkrankter Menschen zu ermöglichen. Der Erfolg medizinischer und beruflicher Rehabilitation wird an der nachhaltigen Wiedereingliederung der erkrankten Menschen ins Erwerbsleben gemessen, um Beiträge aus sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung und damit das Rentenniveau der Solidargemeinschaft zu sichern.

Die Behandlungs- und Förderungsangebote der Rehabilitation sind je nach Bedarf und Indikation, den gesundheitlichen Teilhabeeinschränkungen sowie den sozialen und persönlichen Ressourcen individuell und umfassen ein umfangreiches Leistungsangebot, wobei zwischen Prävention, medizinischer und beruflicher Rehabilitation sowie Nachsorge und Leistungen zum Wiedereinstieg ins Erwerbsleben nach einem befristeten Bezug einer Erwerbsminderungsrente unterschieden wird. Die Leistungen zur medizinischen Rehabilitation werden dabei unter Berücksichtigung der maßgeblichen Haupterkrankung erbracht und in entsprechenden Fachkliniken durchgeführt (Orthopädie, Psychosomatik, Psychiatrie, Onkologie, Abhängigkeitserkrankungen, Kardiologie, Neurologie, Pneumologie u.a.). Die Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (Berufliche Rehabilitation) halten ein vielfältiges Angebot bereit, das von Qualifizierungen über unterstützte Beschäftigung bis zur Umschulung reicht.

Die Leistungen in den Rehakliniken und beruflichen Reintegrationseinrichtungen werden von einem multiprofessionellen Team erbracht, das ein individuell auf die Rehabilitand:innen abgestimmtes Rehabilitationsprogramm umsetzt. Die Schnittstelle zwischen Krankenbehandlung und Rehabilitation ist dabei mitunter fließend, zumal die Behandlungszeiten bspw. in Krankenhäusern immer kürzer werden. 

Die psychologische Therapie und Beratung, indikative Gruppenangebote und Schulungen bilden bedeutende Behandlungsbausteine in nahezu allen Indikationen, wobei ihre Bedeutung vor dem Hintergrund immer komplexer werdender Probleme und Belastungen, mit denen sich Rehabilitand:innen aufgrund ihrer Erkrankung konfrontiert sehen, deutlich ansteigt. 

Die Rehabilitationspsychologie ist somit ein umfangreiches Anwendungsgebiet der Klinischen Psychologie. Dennoch erfordert die Behandlung, Beratung und Betreuung der Rehabilitand:innen mehr als klinisch-technische Kenntnisse, um den sozialen und beruflichen Teilhabehindernissen angemessen begegnen zu können. Neben medizinischen Kenntnissen sind vor allem sozialmedizinisches Wissen sowie breite diagnostische und gutachterliche Fertigkeiten unabdingbar. 

Die Lehrveranstaltungen in der Rehabilitationspsychologie sollen den Anforderungen der Tätigkeit von Psycholog:innen in der Rehabilitation gerecht werden und sie auf die Vielfältigkeit der Themen und die Anwendungsgebiete der Klinischen Psychologie in der Rehabilitation vorbereiten. Neben indikationsorientierten Interventionen in Gruppen- und Einzeltherapie werden rechtliches und sozialmedizinisches Wissen sowie die für die Sozialversicherung relevanten Kenntnisse der Diagnostik und Begutachtung vermittelt.

Forschung in der Rehabilitationspsychologie

In der Forschung beschäftigen wir uns mit speziellen Fragen der Effektivität stationärer, ganztags ambulanter und ambulanter Rehabilitation sowie von Fallmanagement und Nachsorge nach der medizinischen Rehabilitation, insbesondere in den Indikationsgebieten Psychosomatik, Abhängigkeitserkrankungen und Psychiatrie.  Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Entwicklung bzw. Validierung neuer Testverfahren in der Begutachtung psychischer Erkrankungen im Rentenantragsverfahren.

In weiteren Forschungsprojekten entwickeln wir neue Methoden zur Rehabilitation von Patient:innengruppen, die eine sozialmedizinisch ungünstige Prognose aufweisen, z.B. Menschen mit einer befristeten Rente wegen voller Erwerbsminderung wegen einer psychischen Erkrankung oder Langzeitarbeitsunfähige.

Wir kooperieren eng mit verschiedenen Rehabilitationskliniken der DRV Braunschweig – Hannover (Psychosomatik und Onkologie im Rehazentrum Oberharz, Orthopädie in den Rehazentren Bad Pyrmont und Bad Eilsen sowie Pneumologie und Kardiologie in der Klinik Teutoburger Wald) sowie weiteren Kliniken, insbesondere im Bereich Abhängigkeitserkrankungen und Psychiatrie.

Forschungspraktika und Masterarbeiten

Im Bereich "Klinische und berufliche Rehabilitation und Begutachtung" können Forschungspraktika zu verschiedenen Themen (stationäre psychosomatische Rehabilitation, Begutachtung psychischer Erkrankungen, psychosomatische Nachsorge, berufliche Rehabilitation) durchgeführt werden. An drei Standorten (Clausthal-Zellerfeld, Bad Pyrmont, Hannover) stehen klinische Daten aus elekronischen Basisdokumentationen zur Bearbeitung zur Verfügung. Die Daten können für Masterarbeiten verwendet werden, Mitarbeit und Erstautorenschaft an Publikationen sind ausdrücklich gewünscht und werden gefördert und unterstützt. Die Kosten für Unterbringung und Verpflegung während des (Forschungs-)Aufenthalts in den Kliniken in Clausthal-Zellerfeld und in Bad Pyrmont werden von der Deutschen Rentenversicherung Braunschweig - Hannover übernommen.

Näheres zu Masterbeiten finden Sie hier.

Ansprechperson: apl. Prof. Dr. Axel Kobelt-Pönicke

Aktuelle Forschungsprojekte

Reha-Integrativ. Integrative stationäre Behandlung von Versicherten mit besonderen beruflichen Problemlagen (Bundesprogramm „Innovative Wege zur Teilhabe am Arbeitsleben – RehaPro“ gefördert vom BMAS)

Etwa die Hälfte der Rehabilitand:innen in einer psychosomatischen Rehabilitationsbehandlung ist es vor Aufnahme in die Klinik aus unterschiedlichen Gründen nicht gelungen, eine ambulante Psychotherapie zu beginnen. Eine frühzeitige Versorgung wäre aber vorteilhaft, da psychische Erkrankungen wie Depression oder Angst oft einen chronischen Verlauf haben, der bereits schon nach 2-3 Monaten einsetzt. Dabei gilt, dass eine Erkrankung eine umso längere Behandlungszeit mit einer entsprechenden Therapiedosis benötigt, je schwerer die Erkrankung ist und je weiter der Chronifizierungsgrad fortgeschritten ist. 30% der Rehabilitand:innen werden arbeitsunfähig aus der medizinisch-psychosomatischen Rehabilitation entlassen, wobei der Übergang in die Arbeitstätigkeit vor allem Rehabilitand:innen mit AU-Zeiten im Jahr vor der Heilbehandlung von über 3 Monaten selten gelingt. Eine Verlängerung der stationären Behandlungsdauer führt nicht zwangsläufig zu besseren Behandlungsergebnissen, wenn nicht gleichzeitig neue Behandlungselemente oder Behandlungsziele in den Therapieplan integriert werden.

Inhalt

Um eine erfolgreiche Reintegration ins Erwerbsleben zu erreichen, wird die medizinisch-psychosomatische Rehabilitationsbehandlung in zwei Phasen geteilt. 

In der ersten zweiwöchigen Phase (Intensivphase) wird der/die Patient:in auf die sich anschließende vierwöchige Rehabilitationsbehandlung mit beruflichem Schwerpunkt vorbereitet. In der Intensivphase wird der Anteil teilhabeorientierter psychotherapeutischer Leistungen so weit erhöht, dass Teilhabehemmnisse, die durch Kontextfaktoren, psychische Beeinträchtigungen oder (arbeits-) biographische Konflikte und Probleme entstanden oder begründet sind, intensiv bearbeitet werden können. Dadurch sollen die Wiedereingliederungschancen nach der sich anschließenden vierwöchigen Rehabilitationsbehandlung mit beruflichem Schwerpunkt erhöht werden.

Ziel

Es wird erwartet, dass sich die Reintegrationsquote der teilnehmenden Versicherten innerhalb der Einjahreskatamnese um mindestens 20% im Vergleich zur klassischen medizinischen Rehablitationsbehandlung verbessert. Des Weiteren erwarten wir, dass bei den Versicherten im gleichen Katamnesezeitraum die Beeinträchtigung durch psychische bzw. psychovegetative Symptome im Vergleich zu einer praxisüblichen psychosomatischen Standardrehabilitation signifikant geringer ausfällt.

Studiendesign

Die Auswertung erfolgt auf Basis einer mehrstufigen zweifaktoriellen Variananalyse mit Messwiederholung wobei der erste Faktor durch die Untersuchungs- und die Vergleichsgruppe und der zweite Faktor durch die drei Messzeitpunkte (Prä, Post und Einjahreskatamnese) gebildet werden.

Der qualitative Untersuchungsansatz folgt einem rekonstruktiven Design einschließlich komparativer Analyse. Auf Basis eines theoretical samplings werden ca. jeweils 25 erfolgreiche und nicht-erfolgreiche Projektteilnehmer am Ende der stationären Intensivbehandlung mittels eines leitfadengestützten Interviews befragt.

Laufzeit: 1.10.2019 – 30.09.2024

Projektmitarbeiter:innen: Dr. Bernhard Koch (Rehazentrum Oberharz), Alexandra Lambrecht (Rehazentrum Oberharz), Kirsten Rotter (DRV Braunschweig-Hannover).

INN³plus (Integrationsnetzwerk Niedersachsen – motivieren, qualifizieren, integrieren). Effektivität einer Kombination aus medizinisch- beruflicher Rehabilitation und teilhabe- und motivationsorientierter Psychotherapie (Bundesprogramm „Innovative Wege zur Teilhabe am Arbeitsleben – RehaPro“ gefördert vom BMAS)

Die komplexen Bedingungen, die einer erfolgreichen Wiedereingliederung bei Rehabilitand:innen mit besonderen beruflichen Problemlagen entgegenstehen, können häufig in der medizinischen und in der beruflichen Rehabilitation aus unterschiedlichen Gründen nicht ausreichend berücksichtigt werden. Die klassische medizinische und berufliche Reha ist darauf ausgelegt, die Betroffenen aus dem Lebenskontext zu nehmen, um sie in einem stationären Umfeld soweit zu stabilisieren, dass sie nach der Maßnahme in der Lage sind, mit ihren Problemen umzugehen. Während der medizinischen Rehabilitation die Arbeitsplatznähe fehlt und vor allem nach Beendigung der Leistung zur medizinischen Rehabilitation kaum noch Einfluss auf die tatsächliche Wiedereingliederung besteht, fehlt es in der beruflichen Rehabilitation (LTA) an fundierter Bearbeitung der Kontext- und Motivationsprobleme. Für beide Rehabilitationsformen gilt, dass vor allem die in manchen Fällen notwendige intensive psychotherapeutische Bearbeitung einzelner Belastungsfelder nicht möglich ist.

Inhalt

Im Projekt INN3plus werden psychotherapeutische, medizinisch-rehabilitative sowie beruflich-rehabilitative Leistungen bedarfsgerecht kombiniert. Dafür erbringen das BFW Bad Pyrmont, das Reha-Zentrum Bad Pyrmont der DRV Braunschweig - Hannover kooperativ und gleichberechtigt die erforderlichen medizinischen und beruflichen Leistungen zur Wiedereingliederung in ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis (Regelleistung). Die Trennung von stationären und ambulanten sowie zwischen beruflichen und medizinischen Leistungen wird aufgehoben. Die im Regelgeschäft medizinischer oder beruflicher Rehabilitation bezüglich personeller und inhaltlich-struktureller Ausgestaltung eingeschränkte psychosoziale Betreuung und Therapie wird durch die Verfügbarkeit eines zusätzlichen psychotherapeutischen Angebots den individuellen Bedarfen der Teilnehmer:innen angepasst.

Ziel

Alle Leistungen in INN3plus - die medizinische und berufliche Rehabilitation sowie die begleitende teilhabeorientierte Psychotherapie - werden aus einer Hand erbracht. Das Ziel des Projektes ist es, psychisch erkrankte Versicherte mit umfassenden besonderen Problemlagen und hemmenden Kontextfaktoren, die mit den derzeit vorgehaltenen Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und Angeboten der medizinischen Rehabilitation nicht bedarfsgerecht versorgt werden können, bei der arbeitsfördernden Gestaltung individueller Lebensumstände zu unterstützen bzw. für die Reintegration in den Arbeitsmarkt vorzubereiten und zu trainieren.

Im Vergleich zu klassischen LTA-Maßnahmen sollen mindestens 20% mehr LTA-Teilnehmer:innen mit entsprechender Diagnostik innerhalb von 6 Monaten nach Abschluss der Hauptmaßnahme von INN3plus im Arbeitsmarkt integriert sein und eine versicherungspflichtige Tätigkeit ausüben.

Studiendesign

Der quantitativen Evaluation liegt ein quasi-experimentelles zweiarmiges Untersuchungsdesign zugrunde. Der erste Arm besteht aus der Maßnahme INN3plus (Behandlungsgruppe), der zweite Arm aus einer konventionellen Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben. In der quantitativen Erhebung werden soziodemographische Daten, Krankheitsbelastungen, Daten zur Persönlichkeitsstruktur, zur Arbeitsmotivation und zur Belastung durch Kontextfaktoren erhoben.

Der qualitative Untersuchungsansatz folgt einem rekonstruktiven Design einschließlich komparativer Analyse. Auf Basis eines theoretical samplings werden ca. 25 erfolgreiche und nicht-erfolgreiche Rehabilitand:innen beider Untersuchungsarme befragt und ihre unterschiedlichen Erfahrungen miteinander verglichen (insgesamt 50 Interviews). Es werden leitfadengestützte narrative Interviews durchgeführt, in denen die Erfahrungen und Bewertungen der Maßnahmen, aber auch die Reintegration und mögliche Erwerbstätigkeit der Nichterfolgreichen thematisiert werden.

Laufzeit: 1.12.2019 – 30.11.2024

Projektmitarbeiterin: Ines Passier

Implementierung eines Assessmentverfahrens für Rentenantragsteller:innen mit einer psychischen Erkrankung zur Verbesserung der Gutachtenqualität (Gefördert durch die Deutsche Rentenversicherung Braunschweig – Hannover)

Um festzustellen, ob Versicherte bei der Deutschen Rentenversicherung Braunschweig-Hannover einen Anspruch auf eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit haben, weil die Erwerbsfähigkeit entsprechend gemindert ist, bedarf es einer entsprechenden Sachaufklärung. Dabei obliegt es der Verwaltung nach § 20 SGB X, den Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären. Danach hat sich der Rentenversicherungsträger der Beweismittel zu bedienen, die er nach seinem pflichtgemäßem Ermessen für erforderlich hält. Damit hat er auch die Möglichkeit, die schriftliche Äußerung von sozialmedizinischen Sachverständigen einzuholen. Im Gegensatz zu anderen Ursachen haben psychische Störungen bei den bewilligten Anträgen auf Rente wegen voller Erwerbsminderung deutlich zugenommen. Während Neuzugänge zur Erwerbsminderungsrente aufgrund psychischer Störungen im Jahre 1996 etwa ein Fünftel (20,1 %) der Neuzugänge ausgemacht haben, hat sich dieser Anteil für das Jahr 2019 mehr als verdoppelt. Im Vergleich dazu hat sich der Anteil der einstigen Hauptfaktoren für frühe Verrentungen, wie etwa Erkrankungen des Skelettes, der Muskeln oder des Bindegewebes, von über einem Viertel (27,5%) aller Erwerbsminderungsrentenzugänge im Jahre 1996 bis zum Jahr 2019 mehr als halbiert. Gerade bei Gutachten von Personen mit psychischen Erkrankungen herrscht zunehmende Unsicherheit hinsichtlich der Validität der Diagnosestellung und der Einschätzung des Leistungsvermögens, da tatsächliche Krankheitssymptome von willentlich gezeigten oder geschilderten Beschwerden, um finanzielle oder soziale Vorteile zu erreichen, auf der Basis klinischer Interviews kaum voneinander zu differenzieren sind. Betrugsfälle wie in Nordrhein-Westfalen (https://www.wn.de/Muensterland/3019125-DRV-Westfalen-verhindert-Millionenschaden-Haftstrafen-fuer-dreiste-Rentenbetrueger) führen dazu, dass die Standards, mit denen die berufliche Funktions- und Leistungsfähigkeit geprüft werden, von den Leistungsträgern hinterfragt werden.

Inhalt

Versicherte, die einen Antrag auf Berentung wegen eines aufgehobenen Leistungsvermögens aufgrund einer psychischen Erkrankung (F32-F60) gestellt haben und die innerhalb der vergangenen fünf Jahre vor Rentenantragstellung keine medizinische Rehabilitation in Anspruch genommen haben, sollen einem differenzierten Begutachtungsprozess zugeführt werden, um neben der Einschätzung des Leistungsvermögens eventuell vorliegende Förderungs- und Unterstützungsmöglichkeiten zur Wiedereingliederung ins Erwerbsleben entdecken und beschreiben zu können.

Die psychologische Diagnostik umschließt Gruppenaktivitäten zur strukturierten Verhaltensbeobachtung sowie die Beschwerdenvalidierung und eine Serumspiegelbestimmung im Rahmen eines mehrtägigen Assessments und fließt in die Beurteilung des Leistungsvermögens des/der Antragsteller:in ein.

Ziel

Verbesserung der strukturellen und inhaltlichen Qualität von Gutachten bei beklagten psychischen Erkrankungen analog der Leitlinien zur Erstellung sozialmedizinischer Gutachten.

Studiendesign

Kosten-Nutzen-Analyse im Vergleich zu üblichen Begutachtungsverfahren. Dabei soll insbesondere analysiert werden, ob die Kosten einer umfangreicheren Begutachtung durch eine höhere Nachvollziehbarkeit der sozialmedizinischen Urteilsbildung sowohl im Verwaltungs- bzw.   Widerspruchsverfahren oder vor dem Sozialgericht sind. Zur Überprüfung der Fragestellung werden einerseits Befragungen im sozialmedizinischen Dienst sowie Routinedaten der Deutschen Rentenversicherung herangezogen.

Laufzeit: 1.7.2021 – 30.6.2024

Projektmitarbeiterin: Gesa Lameyer

INREFA 2.0 - Entwicklung einer Selbsthilfe-App für Erwerbsminderungsrentner zur Unterstützung der Rückkehr ins Erwerbsleben (Bundesprogramm „Innovative Wege zur Teilhabe am Arbeitsleben – RehaPro“ gefördert vom BMAS)

Das Ereignis eines aufgehobenen Leistungsvermögens für den allgemeinen Arbeitsmarkt aufgrund einer psychischen Erkrankung muss als ein multifaktorieller Prozess begriffen werden. Durch die inneren und äußeren Bedingungen dieses multifaktoriellen Prozesses lassen sich unterschiedliche Betroffenengruppen beschreiben, deren Hilfe- und Unterstützungsbedarf differentiell eingeschätzt werden muss. Die selbst unternommenen oder von der Deutschen Rentenversicherung initiierten Behandlungsmaßnahmen, die so eine Neuorientierung erreichen könnten, reduzieren sich in der Berentung deutlich, obwohl im § 102 SGB VI die zeitliche Befristung der Renten wegen voller Erwerbsminderung verankert ist. Während lediglich ein Drittel der zeitlich befristet Berenteten ambulant psychotherapeutisch betreut wird, werden die meisten Personen mit einer zeitlich befristeten Rente wegen voller Erwerbsminderung lediglich mit Medikamenten behandelt. Berufliche Rehabilitationsmaßnahmen finden nur in den allerwenigsten Fällen statt. Lediglich sechs Prozent der befristet Berenteten kehren in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse zurück, wobei kaum vorhergesagt werden kann, welche Faktoren mit einer positiven Absicht, ins Erwerbsleben zurückzukehren, vergesellschaftet sind. Lediglich das Alter und die Jahre, die ein Betroffener bereits aus dem Erwerbsleben ausgeschieden ist, korreliert (negativ) mit der Rückkehrabsicht. Es hat sich gezeigt, dass diese Zielgruppe aufgrund ihrer kontextuellen Belastungen, aber auch aufgrund ihrer gesundheitlichen Einschränkungen nur schwer zu erreichen ist.

Inhalt

Trotz des immer größer werdenden Anteils psychischer Erkrankungen am Berentungsgeschehen wegen voller Erwerbsminderung gibt es bisher bundesweit keine in ihrer Effektivität überprüfte Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und zur Teilhabe am Arbeitsleben für Versicherte mit einer Rente wegen voller Erwerbsminderung. In dem Projekt soll eine Selbsthilfe-App entwickelt werden, die die Versicherten befähigen soll, niedrigschwellig und selbstgesteuert Unterstützungsangebote in Anspruch zu nehmen und ihre berufliche Wiedereingliederung voranzubringen. Die App soll den Mangel an sozialer, fachlicher und therapeutischer Betreuung abmildern. Sie stellt einerseits in Kombination mit einem Fallmanagement eine kontinuierliche, längerfristige Betreuung sicher, die aufgrund der langen Betreuungszeit von einem Jahr günstige Momente zur Motivierung nutzt und ungünstige, belastende Momente in ihrer Wirkung auf Aktivität und Teilhabe abmildert. Sie bietet andererseits den Versicherten, die aufgrund der Krankheitsfolgen ihrer psychischen Erkrankung in ihrer Aktivität und sozialen Partizipation noch sehr eingeschränkt sind, die Möglichkeit, in einem geschützten Raum selbstbestimmt mit anderen Betroffenen Kontakt aufzunehmen oder aber auch über die in der App verlinkten Gesundheitstrainings kontinuierlich an der Verbesserung ihres psychischen Wohlbefindens zu arbeiten.

Ziel

In dem Projekt soll eine Selbsthilfe-App entwickelt werden, die den Teilnehmern dabei hilft

  • sich untereinander zu vernetzen und zu unterstützen (Selbsthilfe),
  • ihre Aktivitäts- und Teilhabefortschritte mit den anderen zu teilen und zu reflektieren,
  • Teilziele im Alltag zu erledigen und dafür Feedbacks und Prämienpunkte zu sammeln,
  • über verschiedene, bereits bewährte und angewandte Apps Krankheitsbelastungen zu bewältigen, Selbstwirksamkeit, Selbstsicherheit und soziale Kompetenz aufzubauen und
  • sich über Problembereiche und Hemmfaktoren für Aktivität und Teilhabe, aber auch über Fördermöglichkeiten der Rentenversicherung über Infomaterial (Texte, Grafiken, Videos) zu informieren (FAQ) und
  • sich über dynamische Selbstbeobachtungstools kontinuierlich in der Bewältigung von Problemen und Belastungen im Alltag zu verbessern.

Studiendesign

Die Evaluation folgt einem randomisiert-kontrollierten Studiendesign nach dem intention–to–treat-Prinzip. Um den inkrementellen Effekt des mit einer Selbsthilfe-App kombinierten Fallmanagements zu testen, werden alle Versicherten, die eine VEM beziehen, zufällig einem von vier Interventionsarmen (Fallgruppen) zugewiesen:

  1. Kombination aus Fallmanagement und Selbsthilfe-App.
  2. Selbsthilfe-App ohne persönliches Fallmanagement. Es erfolgt lediglich eine Anamnese zu Beginn des Projekts zur Feststellung des Bedarfs- und Förderplans.
  3.  Fallmanagement (persönlich oder per Telefon) ohne Selbsthilfe-App.
  4. Kontrollgruppe. Die Teilnehmer erhalten jedes Quartal einen Anruf, in dem sie über die Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und die beruflichen Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben informiert werden.

Zielgrößen sind die Akzeptanz und die Nutzungscharakteristika des Angebots, die soziale und berufliche Partizipation und der Gesundheitszustand.

Laufzeit: 1.11.2021 – 31.10.2026

ProjektmitarbeiterIn: Dimitra Savvoulidou

Ambulante Nachsorge bei Tumorerkrankungen durch videobasierte werteorientierte Verhaltensaktivierung – eine randomisiert kontrollierte Studie / ViVA

Jedes Jahr erkranken in Deutschland rund eine halbe Million Menschen neu an Krebs. Die Mitteilung einer Tumorerkrankung kann ein traumatisches Ereignis sein und zu psychischen Beeinträchtigungen wie Depressionen, Angststörungen oder Anpassungsstörungen führen. In Anlehnung an die Empfehlungen der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften sollten betroffenen Personen mit einer erhöhten psychischen Belastung ein Versorgungsangebot  angeboten bekommen. Bisherige psychotherapeutische Interventionen bei Tumorerkrankten erzielten moderate Effekte in Bezug auf Ängstlichkeit, Depressivität und Lebensqualität. Möglicher Grund für eine begrenzte Wirksamkeit könnte darin liegen, dass unspezifische Behandlungstechniken eingesetzt wurden. Angesichts der lebensbedrohlichen Natur der Erkrankung wird jedoch die Integration einer persönlichen Ziel-Wert-Klärung und Anpassung in onkologische Behandlungskonzepte als notwendig erachtet. Im deutschsprachigen Raum gibt es keine vergleichbaren psychoonkologischen Behandlungsansätze, die Betroffene mittels werteorientierter Verhaltensaktivierung (VA) dabei unterstützen, persönlich wichtige Werte und Lebensziele zu klären und in ihren Alltag zu integrieren.

Inhalt

Während der Projektlaufzeit wird das empirisch fundierte und aus der Depressionsbehandlung entliehene Konzept der Werteorientierten Verhaltensaktivierung in die ambulante Tumornachsorge etabliert und erprobt. Tumorerkrankte erhalten dabei in 12 manualisierten Nachsorgesitzungen eine systematische Unterstützung bei der Anpassung individueller Bedürfnisse und Ziele.

Durch die Nutzung der Videosprechstunde können Proband*innen und Behandler*innen direkt miteinander kommunizieren, ohne dass ein persönlicher Kontakt erforderlich ist. Derartige videobasierte Ansätze erfüllen das Bedürfnis nach einer individuellen Behandlung bei eingeschränktem Gesundheitszustand und begrenzter Zeit.

Ziel

Das Forschungsprojekt zielt darauf ab, die Wirksamkeit der videobasierten werteorientierten Verhaltensaktivierung (VA-V) bei Tumorerkrankten - im Vergleich zur leitlinienkonformen Nachbehandlung - zu untersuchen. Bei den Beteiligten wird von einer deutlichen Reduktion der psychischen Belastung und Steigerung der Lebensqualität ausgegangen.

Das Projekt soll zur verbesserten psychoonkologischen Versorgung von Tumorerkrankten beitragen.

Studiendesign

Die Studie beinhaltet eine randomisierte Zuordnung der Proband*innen (stratifiziert nach Geschlecht und den häufigsten Tumorerkrankungen) zu zwei Studienarmen: Leitlinienbehandlung vs. VA-V. Es werden fünf Messzeitpunkte für die Ergebnisevaluation festgelegt: vor der Intervention (Prä-Messung), zwei Messungen während der Interventionen, nach der Intervention (Post-Messung) und die Katamnese nach sechs weiteren Monaten. Neben allgemeiner Lebensqualität und psychischer Belastung erfolgt u.a. eine Erhebung der Arbeitsfähigkeit.

Die angestrebte Stichprobe (n = 73 pro Gruppe) wird von der Kooperationspartnerin Rehazentrum Oberharz rekrutiert und umfasst tumorerkrankte Proband*innen im Alter zwischen 18 und 75 Jahren mit subjektiver psychosozialer Belastung, die anhand eines diagnostischen Interviews verifiziert wird. Die Durchführung der Interventionen erfolgt durch geschulte Mitarbeiter*innen und wird von einer Psychotherapeutin supervidiert. Bei dem statistischen Datenauswertungsprinzip handelt es sich um eine Intention-to-treat-Analyse, wobei Mehrebenen-Strukturgleichungsmodelle verwendet werden. Eine Prozessevaluation wird durchgeführt, um die Umsetzung der Intervention zu überprüfen und die Adhärenz zu erfassen.

Laufzeit: 01.01.2023 – 31.12.2025

Projektmitarbeiter*innen:  Lena Melzner, Dr. Maren Reder, Gabriele Prinz

Projektverantwortlich:  Dr. Christine Hofheinz, Prof. Christoph Kröger,

Kooperationspartner*in: Rehazentrum Oberharz