Emotionen nehmen seit einiger Zeit im politischen Diskurs eine wieder bedeutendere Rolle ein – sei es mit Blick auf die Konjunktur gefühlter Wahrheiten, die Forderungen nach einem sensiblen Sprachgebrauch, die Anerkennung von Betroffenenperspektiven, die Renaissance politischer Utopien und/oder den Bedeutungsgewinn ihrer disziplinierenden und ordnungspolitischen Funktionen, die etwa in verschobenen Rechtfertigungsdiskursen (Flugscham, Fleischkonsum usw.) ihren Ausdruck finden.
Dieser Bedeutungsgewinn spiegelt sich zunehmend auch in der Politikdidaktik und politischen Bildung wider. Das ist zumindest auf den ersten Blick und v. a. angesichts des von René Descartes (1596-1650) und dessen berühmten cogito, ergo sum begründeten, überaus wirkmächtigen Dualismus‘ von Vernunft (ratio) auf der einen und Unvernunft (emotio) auf der anderen Seite doch einigermaßen erstaunlich. So hat diese Gegenüberstellung gerade in der Politikdidaktik und politischen Bildung Auftrieb erhalten, ist das Adressieren niederer Instinkte und Gefühle doch ein probates Mittel der politischen Erziehung in Diktaturen und autokratischen Systemen (gewesen). Dass die meisten Politikdidaktiker:innen – zumal angesichts des allseits geteilten Ziels der rationalen politischen Urteilsbildung – Emotionen eine klare Absage erteilt haben, verwundert insofern nicht. So stellt z. B. Sutor (1997: 97) dem rational begründeten Urteil auf der einen das „meist emotional gefärbte“, bloße Meinen auf der anderen Seite gegenüber und Hättich (1977) erklärt – wenn auch auf einer etwas anderen Hintergrundfolie – Rationalität gleich ganz zum Ziel politischer Bildung. Emotionen, so die lange Zeit vertretene Auffassung, führten zu einem Verlust von Reflexivität (Ruhloff 2005); wer sich emotional ansprechen lässt, der wird potentiell überredet, anstatt sich von guten Gründen überzeugen zu lassen.
Doch so real diese Gefahr angesichts von Corona-Leugner:innen und selbsternannten ,Querdenker:innen‘ auch immer sein mag, Emotionen schlicht als nicht-ausschaltbare Restgröße rationaler politischer Urteile zu fassen (Massing 1997: 119), greift nicht nur entschieden zu kurz, sondern wird auch dem Stand der Forschung nicht gerecht. Stattdessen haben sowohl die (deutsche) Politikwissenschaft als auch die Politikdidaktik die bereits in den 1960er Jahren eingeleitete ,emotionale Wende‘ schlechterdings verschlafen. Jedenfalls bröckelt seit dieser Zeit der einst so solide Sockel, auf dem der o. g. Dualismus seit Jahrhunderten gestanden hat. So sind Emotionen insbesondere in den Geistes-, Sozial- und Lebenswissenschaften verstärkt zum Gegenstand eines inter- und transdisziplinären Diskurses geworden, im Zuge dessen nicht nur die bis dahin geläufigen Termini und Konzepte grundlegend zur Disposition gestellt worden sind, sondern auch der o. g. Dualismus selbst scharf kritisiert worden ist. So ist Descartes‘ cogito ein sentio, ergo sum entgegengestellt worden (Damasio 2000); bisweilen werden Emotionen gar zu den Gründen all‘ unseres Handelns erklärt (Mees/Schmitt 2003). Dass Emotionen allmählich sowohl in der Politikwissenschaft (APuZ 2013; Korte 2015; Weber 2016) als auch in der Politikdidaktik (zdg 2011; POLIS 2018, Frech/Richter 2019; Schröder 2020) angekommen sind und inzwischen deutlich versöhnlichere Töne angeschlagen werden (Breit 2016; Besand/Overwien/Zorn 2019), zeigt folglich eine Öffnung des Diskurses (dazu auch Weber-Stein 2022). Gleichwohl ist aber weiterhin weitgehend unklar, was aus der Anerkennung von Emotionen für das politische Urteilen und Handeln für die Gestaltung politischer Lehr-Lern-Prozesse folgt. Jedenfalls haben im konzeptionellen politikdidaktischen Denken die skizzierten Entwicklungen noch keinen allzu großen Widerhall gefunden (May 2020). Relevante Fragen sind deshalb u. a.:
Diesen und weiteren Fragen wollen wir gemeinsam mit Ihnen im Rahmen der Nachwuchs- und Jahrestagung der GPJE 2023 nachgehen und freuen uns auf Ihre Beteiligung.
Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung (GPJE)
Niedersächsisches Ministerium für Wissenschaft und Kultur
Stabsstelle Forschungsförderung und Forschungsmanagement, UHi
Zentrum für Bildungsintegration (ZBI), UHi
Universitätsgesellschaft Hildesheim e.V.
Niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung