Woher die Zauberkraft des Künstlerischen kommt, fragen sich Kultursoziologen

Dienstag, 24. Juni 2014 um 21:08 Uhr

Leben unter Kreativitätsansprüchen in Beruf und Alltag: Es ist fast unmöglich, sich dem Sei-kreativ-Denken zu entziehen. Die ästhetische Dimension macht auch vor der Wissenschaft keinen Halt, sagt Juniorprofessor Michael Kauppert.

Inwieweit betrifft Kunst den Alltag und wo liegt eine Grenze? „Es ist fast unmöglich, heute zu sagen, man will nicht kreativ sein“, sagt Michael Kauppert, Juniorprofessor für Kultursoziologie am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Hildesheim. Die Werbeindustrie, Mode und Design, die Ratgeberliteratur mit neuen Einfällen, Empfehlungen für das Selbst, der gesamte Managementbereich – „jeder läuft unter den Kreativitätsansprüchen“. Das war nicht immer so, sagt Kauppert. „Die Künste wirkten wie ein Motor. Sie fanden im 20. Jahrhundert ihren Weg aus der autonomen Abgeschiedenheit der Museen, in die Breite der Gesellschaft. Es kam zu einer Ästhetisierung der ganzen Lebenswelt.“

Die Entgrenzung der Künste ist selbstverständlich geworden in der Berufs- und Alltagswelt, die gesamte Gesellschaft ist davon betroffen. „Man bewegt sich in einem Dunstkreis der Kreativitätsindustrie“, beobachtet Michael Kauppert, der gemeinsam mit Rolf Elberfeld, Professor für Philosophie, Ende Juni eine Konferenz zu dem Thema an der Hildesheimer Universität organisiert. Andreas Reckwitz, Professor für Vergleichende Kultursoziologie in Frankfurt/Oder, erläutert in seinem Eröffnungsvortrag „Kreativitätsdispositiv und Ästhetisierungsprozesse“ die These, dass wir uns in einem gesellschaftsweiten Prozess der Ästhetisierung befinden. Seine Gesellschaftsdiagnose beginnt vor 100 Jahren und betrachtet vor allem die Zeit ab 1980. Die Entgrenzung der Künste hat etwa auch die Programmierung von Bedienoberflächen erreicht, Software und Hardware-Architektur. Es handele sich nicht nur um technologische Fortschritte und kleinere Chips, sondern es soll auch hübsch sein, nicht allein funktional. Beige-graue Computerkisten stehen in kaum einem Büroraum mehr. „Undenkbar, dagegen zu protestieren“, so Kauppert. „Stattdessen hat man ein psychisches Problem, wenn man nicht künstlerisch-kreativ sein will. Überall hallt uns entgegen: Ihr müsst kreativ sein, wenn euch nichts einfällt, habt ihr ein Burnout.“ Protestieren  à la „Mir fällt nichts mehr ein, ich bewege mich nicht“ – nein, eine soziale Bewegung von Einfallslosen gebe es nicht. „Niemand kann sich auf Dauer dem Sei-kreativ-Denken entziehen“, folgert Kauppert. Der recht autonome künstlerische Bereich im 19. Jahrhundert mit seinen bildungsbürgerlichen Orten und Institutionen für Kunst diffundiere in alle Lebensbereiche. So trägt man nicht einfach nur funktionale Kleidung, jedermann solle sich auch überlegen, wie er darin möglichst gut aussieht. Und wer Fotos macht, achtet mehr denn je darauf, dass sie schön werden.

Nun, wann verpufft denn die „Zauberkraft des Künstlerisch-Ästhetischen“? Michael Kauppert sagt: „Wie an allem kann man sich sattgesehen haben an der ornamentalen Aufhübschung. Eine Gegenbewegung, Verweigerung und Umwertung wäre zwar möglich – ich sehe sie derzeit aber nicht.“ Der Kultursoziologe nennt weitere Beispiele für die Ästhetisierung des Alltagslebens, etwa die Handschrift, sie kommt wieder, mit Mitteln der Technik imitiere man die Schreibschrift maschinell. Die Handschrift sei ein individueller Ausdruck, die auch hinsichtlich ihrer ästhetischen Gelungenheit bewertet werde.

Die ästhetische Dimension macht auch vor der Wissenschaft keinen Halt. Wolfgang Krohm, Professor am Institut für Wissenschafts- und Technikforschung in Bielefeld, spricht auf der Hildesheimer Konferenz über „Kunstvolle Forschung“. In der Wissenschaft geht es vermeintlich nicht um das Schöne und Elegante, sondern um Wahrheit. „Die Grenzen sind wohlmöglich gar nicht so starr. Die Eleganz des Forschungsbeweises, die Einfachheit eines Experiments, eine einfache Formel, die doch rätselhaft viel erklären vermag – auch in der Forschung ist der Grenzverkehr fließend. Ist es noch Kunst oder schon Wissenschaft, was wir da hören, sehen, lesen?“, sagt Michael Kauppert.

Selbstentgrenzung der Künste

Die Konferenz „Ästhetische Praxis: Selbstentgrenzung der Künste oder Entkunstung der Kunst“ (PDF) findet vom 26. Juni bis 28. Juni 2014 auf dem Kulturcampus Domäne Marienburg der Universität Hildesheim statt. Interessierte sind herzlich eingeladen, eine Teilnahme ist öffentlich und kostenfrei. Der Eröffnungsvortrag von Andreas Reckwitz beginnt am Donnerstag um 14:00 Uhr.

Insgesamt diskutieren rund 40 Referentinnen und Referenten auf der Jahrestagung des Arbeitskreises Soziologie der Künste der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Stefan Krankenhagen spricht über „Die ästhetische Praxis der Dinge“, Hilmar Schäfer über „Brot und Künste? Die Auszeichnung ‚immaterielles Kulturerbe‘ und die Ästhetisierung des Alltags“, Anja Frank über „‘Diese Inszenierung ist das Allerletzte‘. Ästhetisches Urteilen als ästhetische Praxis und Mittel der sozialen Bezugnahme“ und Idiká Szántó über „Die Grenzen der Entgrenzung. Die Überschätzung der Kunst als bestimmendes Modell der Arbeit“.

Kulturforschung an der Universität Hildesheim

Welche Rolle nimmt die ästhetische Praxis in der Forschung ein? Wie können die Künste in ihrer Entstehung beobachtet, erforscht werden? An der Universität Hildesheim entstand über drei Jahrzehnte ein Schwerpunkt in den Kulturwissenschaften, der wissenschaftliche und ästhetische beziehungsweise künstlerische Praxis verbindet. Die Lehr- und Forschungsansätze entstehen im Verbund von Theater-, Musik-, Medien- und Literaturwissenschaften sowie Bildender Kunst, Kulturpolitik, Philosophie und Sprachwissenschaften. Gebündelt werden sie im „Herder-Kolleg. Zentrum für transdisziplinäre Kulturforschung“.

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erforschen etwa Probenprozesse im Theater, Schreibprozesse in der Literatur, Visuelle Argumentation zwischen Bild und Wort, Strategien musikalischen Denkens, Prozesse der Popularisierung in den Medien, Performative Weisen des Philosophierens und Prozesse kultureller Bildung in den Künsten. Im „Projektsemester“ werden die Forschungen mit Studierenden künstlerisch-wissenschaftlich erprobt, im aktuellen Projektsemester zum Thema „Verschwendung“.


Der Arbeitskreis Kunstsoziologie debattiert in diesem Jahr auf dem Kulturcampus Domäne Marienburg der Hildesheimer Universität. Foto: Andreas Hartmann

Der Arbeitskreis Kunstsoziologie debattiert in diesem Jahr auf dem Kulturcampus Domäne Marienburg der Hildesheimer Universität. Foto: Andreas Hartmann