Gewissen und Widerspruch: Nachruf auf Prof. em. Dr. Gottfried Leder

Montag, 19. August 2024 um 10:49 Uhr

Das Institut für Sozialwissenschaften trauert um Prof. em. Dr. Gottfried Leder, der am 9. August 2024 verstorben ist. Gottfried Leder begründete als erster Lehrstuhlinhaber im Oktober 1961 das Fach Politische Wissenschaft an der damaligen Pädagogischen Hochschule Alfeld und setze seine Arbeit ab 1970 bis 1991 in Hildesheim in prägender Art und Weise fort. Auch nach seiner Emeritierung blieb er der Universität und dem Fach verbunden, so u.a. mit Vorträgen zum Grundgesetz und Grundrechtsfragen in gesellschaftlich angespannten Zeiten.

Über die Jahre der Zugehörigkeit zur Universität hatte er mehrere Funktionen inne. Unter anderem als Mitglied des Senats wirkte er wegbereitend an der Weiterentwicklung von der Pädagogischen Hochschule zur Wissenschaftlichen Hochschule und schließlich zur Universität mit. Das Wechselspiel von Gewissen und Widerspruch prägte das Arbeits- und Lehrverständnis Gottfried Leders. Als Hochschullehrer prägte das Bemühen um Fairness und Gerechtigkeit sein Handeln.

Bevor Gottfried Leder nach Hildesheim kam, hatte er 1955 bei Rudolf Smend, einem der bedeutendsten Verfassungsrechtler der Weimarer Jahre und Nachkriegszeit, mit der Dissertationsschrift „Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen“ (Freiburg, 1957) promoviert. Dies war im Beitrittsjahr der BRD zur NATO ein unbequemes und brisantes Thema. Mit der Reflexion tagesaktueller Politik beschäftigte sich Professor Leder auch 1960/61 als Referent im Persönlichen Büro des Bundespräsidenten in Bonn. In Hildesheim engagierte er sich neben Forschung und Lehre in vielfältigen gesellschaftspolitischen Arenen, etwa im Niedersächsischen Landesausschuss für Erwachsenenbildung und im Beirat des Niedersächsischen Landesinstituts für Lehrerfortbildung und Lehrerweiterbildung. Außerdem war Gottfried Leder Mitglied des Beirats für Fragen der Inneren Führung beim Bundesministerium für Verteidigung. Sein über 30 Jahre währendes Engagement in zahlreichen kirchlichen Gremien, wie dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken wird im Nachruf des Bistums Hildesheims in besonderer Art und Weise gewürdigt (https://www.bistum-hildesheim.de/bistum/nachrichten/artikel/gottfried-leder-ist-verstorben/).

Der intensive, konstruktiv-kritische Austausch mit der politischen Praxis, das sorgfältige Austarieren von Reflexion und Engagement wirkt bis heute in der Hildesheimer Politikwissenschaft nach. Gottfried Leder selbst hat seinen Ansatz im Jahr 2019 anlässlich eines Interviews zum 90. Geburtstag mit der Stabsstelle Kommunikation und Medien der Universität folgendermaßen skizziert: Die Frage „Was haben Sie Ihren Alfelder Kollegen und Ihrer Kollegin denn geantwortet, was ist Politikwissenschaft?“ beantwortete er mit: „Ich habe verdeutlicht, dass und warum die Politische Wissenschaft eine Wissenschaft ist und dass ich nicht hierher geschickt worden bin, Politik zu machen. Es ist die Wissenschaft, die den Gegenstand der Politik hat und alles, was politisch ist, ist ihr Objekt. Politische Wissenschaft treibt also keine Politik, sondern analysiert sie. Was nicht ausschließt, erstens, dass auch der Politikwissenschaftler eine politische Überzeugung hat und was die Frage aufwirft, ob Politikwissenschaft eine wertfreie Wissenschaft sein könnte. Das war in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre eine große Debatte. Der Soziologe Max Weber hat die These von der Wertfreiheit der Politikwissenschaft einerseits glühend verteidigt und andererseits gibt es in seinen Schriften Passagen, in denen er darlegt, Politik ist natürlich auch eine wertende Wissenschaft. Wenn wir von ‚guter‘ oder ‚schlechter‘ Politik reden, fangen wir schon an mit dem Urteil. Ich kann das, was andere sagen, nicht sofort mit einer Haube der politischen Überzeugung beurteilen. Zunächst einmal muss die Analyse kommen.“ (Das Interview mit Gottfried Leder zum 90. Geburtstag am 4. Juli 2019 finden Sie hier)

Professor Leder stirbt kurz nach dem 75. Jahrestag des Grundgesetzes, das er zu einem wesentlichen Bezugspunkt seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit gemacht hatte. Für ihn war stets klar, dass Grundrechte keine Selbstverständlichkeit sind, sondern immer wieder bestärkt und verteidigt werden müssen. Die Universität Hildesheim und das Institut für Sozialwissenschaften werden Gottfried Leder in dankbarer Erinnerung behalten. Unser Mitgefühl gilt der Ehefrau und Familie des Verstorbenen.