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Paradoxe Bildung – Widerstand – Überleben
Geheimer Unterricht und Kinderzeichnungen im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück
Paradoxical Education – Resistance – Surviving
Secret teaching and children’s drawings in the Ravensbrück Women’s Concentration Camp
Projektlaufzeit: 2020-2023
Projektleitung und -durchführung: Prof. Dr. Meike Sophia Baader, Dr. Wiebke Hiemesch
Projektmitarbeiter*innen: Gesa Bochen, Grażyna Kamień-Söffker (Bearbeitung polnischsprachiger Texte)
Außeruniversitäre und internationale Kooperationen: Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück; Universitätsbibliothek Lund/Schweden
Projektskizze:
Im Zentrum des beantragten Projektes stehen zwei unerschlossene Quellenbestände aus dem Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. Der erste umfasst etwa 50 Blätter mit Zeichnungen eines polnischen vierzehnjährigen Mädchens, die – zumindest teilweise – in einer Kindergruppe entstanden. Der zweite Quellenbestand beinhaltet um dreizehn Unterrichtshefte, die von polnischen Frauen im Lager hergestellt wurden und offenbar Material für eine versteckt organisierte Unterrichtsform bereitstellten. Vermutlich stehen die Zeichnungen in einem Zusammenhang mit dem Unterricht und beide Quellenbestände verweisen damit auf kulturelle Praktiken, die gegen die offizielle Lagerordnung verstießen. Diese sollen im Rahmen des Projektes analysiert werden.
Damit zielt das Projekt darauf, das Wissen über Unterricht in Zwangslagern, um die Erforschung von Unterrichtsformen in Ravensbrück zu erweitern und mit kinderkulturellen Praktiken, wie dem Anfertigen von Zeichnungen, in Verbindung zu bringen. Diese Aspekte des (Über-)Lebens von Kindern unter der Gewaltherrschaft des Lagers differenzierter zu beschreiben, ist Ziel des Projektes. Dazu werden die Quellen erstens systematisch erschlossen, zweitens in ihren historischen Kontexten analysiert, drittens an kindheits- und bildungshistorische Diskurse rückgebunden und viertens öffentlich zugänglich gemacht. Leitend ist dabei der Begriff der ‚paradoxen Bildung’, der an Fragen zu „paradoxen Erziehungsverhältnissen“ im Lager anknüpft (Brumlik 2014). Welche Spannungsverhältnisse damit verbunden waren, soll durch das Projekt genauer geklärt werden.
Methodisch wird mit praxistheoretischen Zugängen der historischen Kultur- und Sozialwissenschaften gearbeitet. Diese ermöglichen es sowohl die textliche und bildliche Ebene zu erfassen, als auch die spezifischen Entstehungsbedingungen und Rezeptionsweisen der Kinder und Frauen unter den Extrembedingungen weitestgehend zu rekonstruieren. Die Zeichnungen sollen multiperspektivisch unter der Beteiligung verschiedener Disziplinen interpretiert werden. Damit soll das Projekt dazu beitragen, die bisher wenig ausgearbeiteten Methoden zur Auswertung von Zeichnungen und hergestellten Objekten in der historischen Kindheits- und Bildungsforschung weiterzuentwickeln.
Darüber hinaus beinhaltet das Projekt eine erinnerungskulturelle Dimension, da es die Praktiken der verfolgten Kinder und Erwachsenen sichtbar macht und paradoxe Bildungsprozesse als Widerstandsformen analysiert. Zudem stellt es Material bereit, das somit für weitere wissenschaftliche, erinnerungskulturelle und pädagogische Arbeit zugänglich sein wird. Erwartbar sind Ergebnisse für die Geschichtsschreibung des Nationalsozialismus sowie für die historische Bildungs- und Kindheitsforschung, die das Wissen über Unterrichtsformen als widerständige Praktiken im Lager erweitern und damit verbundene paradoxe Bildungsprozesse genauer beschreibbar machen.
Abstract:
At the centre of the proposed project are two unpublished collections of source material from the Ravensbrück concentration camp: around 50 drawings by a fourteen-year-old girl, and around 12 teaching booklets providing material for a covertly organized form of teaching among the imprisoned Polish women. The drawings are probably connected with the teaching, and are likely to have been done – at least in part – in the children’s group. Both the drawings and the teaching materials, produced by the Polish women themselves, point to cultural practices and paradoxical processes of education. These will be analysed more closely within the framework of the project.
This project seeks to expand the knowledge about teaching in concentration by exploring forms of teaching in Ravensbrück, and to connect it with children’s cultural practices such as drawing pictures. The aim of the project is to give a nuanced description of these aspects of children’s lives/survival under the violent regime of the camp. The first step will be to systematically index the sources, the second to analyse them in their respective contexts, the third to link them with discourses in the history of childhood and of education, and the fourth to make them accessible to the public. A key concept here is that of “paradoxical education”, which links in with debates on “paradoxical educational conditions” in concentration camps (Brumlik 2014).
The empirical part of the project works with approaches based on practice theory, from historical cultural studies and social sciences. These allow us not only to examine the textual and visual level, but also to reconstruct the specific conditions of creation, and women and children’s modes of reception, in the extreme conditions of a violent system. A particular focus here will be the interdisciplinary development of methods for analysing pictures that children have drawn under violent, extreme conditions. Thus the project will, on the one hand, produce specific multi-perspectival analyses of the sources, and, on the other hand, contribute to a relatively undeveloped area of historical childhood studies and educational research, by developing better methods for analysing drawings and created objects.
A further dimension of the project has to do with the culture of remembrance: it explicitly reveals how the persecuted children and adults perceived the genocidal crimes, and interprets their cultural expressions and paradoxical educational processes as practices of resistance. At the same time, it provides material for pedagogical work on the culture of remembrance, by publishing the results of the project in an illustrated book and an edited volume, and thus making them accessible for further scholarly and pedagogical work.
Forschungsmethoden:
- Praxeologische Artefaktanalyse
- Kinderzeichnungsanalyse
- Oral History
- Dokumentenanalysen
- Historische Diskursanalyse
Zusammenarbeit im Rahmen projektspezifischer Workshops:
- Prof. Dr. Micha Brumlik (Berlin)
- Prof. Dr. Bożena Chołuj (Warschau)
- Ella Falldorf (Jena)
- Mackenzie Lake (Jena)
- Prof. Dr. Ulrike Pilarczyk (Braunschweig)
- Sibylle Rothkegel (Berlin)
- Astrid Schmetterling (London)
- Prof. Dr. Bettina Uhlig (Hildesheim)
- Prof. Dr. Barbara Wittmann (Berlin)
Kooperation mit der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück:
- Dr. Andrea Genest (Leiterin)
- Dr. Mathias Heyl (Leiter der pädagogischen Abteilung)
- Dr. Sabine Arend (Leiterin Museologischer Dienst)
- Dr. Christiane Heß (Wissenschaftliche Mitarbeiterin)
Publikationen aus dem Projektzusammenhang:
Baader, Meike Sophia/Freytag, Tatjana (Hrsg.): Erinnerungskulturen: eine pädagogische und bildungspolitische Herausforderung. Köln u.a.: Böhlau, 2015.
Baader, Meike Sophia: Vulnerable Kinder in der Moderne in erziehungs- und emotionsgeschichtlicher Perspektive. In: Andresen, S./Koch, C./König, K. (Hrsg.) Vulnerable Kinder. Interdisziplinäre Annäherungen. Wiesbaden: Springer VS, 2015, S. 79-102.
Hiemesch, Wiebke: Kinder im Konzentrationslager Ravensbrück. (Über-)Lebenserinnerungen. Köln u.a.: Böhlau, 2017.
Hiemesch, Wiebke: Der ›Kinderblock‹ im Männerlager des Frauen-Konzentrationslagers Ravensbrück, in: Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zur Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen in Kooperation mit der Arbeitsgemeinschaft KZ-Gedenkstätten in der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Zwischen Verfolgung und »Volksgemeinschaft«. Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus (Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung, Heft 1), Göttingen: Wallstein, 2020, 90-101.
Zitation:
Baader, Meike Sophia/Hiemesch, Wiebke (2021): Paradoxe Bildung – Widerstand – Überleben. Geheimer Unterricht und Kinderzeichnungen im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. Hildesheim URL: https://www.uni-hildesheim.de/fb1/institute/institut-fuer-erziehungswissenschaft/allgemeine-erziehungswiss/forschung/forschungsprojekte/laufende-projekte/paradoxe-bildung-widerstand-ueberleben/